Verhaltenskodex für Restrukturierer?
Herr Dr. Jäde – In diesem Jahr ist die Zahl der Insolvenzen in Deutschland im sechsten Jahr in Folge rückläufig. Warum widmen Sie sich ausgerechnet jetzt in Ihrer neuesten Studie dem Thema Verhaltenskodex?
Heute beschäftigen sich viele Unternehmen sehr früh mit Restrukturierungsfragen. Das ist ein echter und erfreulicher Trend, den wir vor allem auch im Mittelstand beobachten. Das war vor fünf oder sechs Jahren noch ganz anders. Wir mussten unsere Kunden damals oft darauf aufmerksam machen, dass sie sich möglichst ganzheitlich mit der Situation ihres Unternehmens auseinandersetzen sollten. Stichwort: Kosten und Wettbewerbsfähigkeit. Nur so lassen sich schließlich Krisen bereits im Ansatz abwenden. Das ist heutzutage anders: Unternehmen fangen viel früher und viel proaktiver an, sich mit der Thematik zu beschäftigen. Häufig gehen sie mit einem fertigen Konzept auf die Banken zu. Das ist gut für alle Beteiligten.
Wie empfinden Sie zurzeit das Zusammenspiel mit anderen Marktteilnehmern, z. B. den Insolvenzverwaltern?
In Deutschland ist die Zusammenarbeit sehr gut. Ich erlebe eine sehr offene und konstruktive Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen. Sie dürfen nicht vergessen, dass sich der Personenkreis im Restrukturierungsumfeld in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder gegenübersteht.
Gleichwohl erwähnen Sie in Ihrer Studie, dass es „aufgrund von Antipathie, Vorurteilen oder schlechten Erfahrungen" zu einer erschwerter Zusammenarbeit kommt.
Das stimmt. Aber in Summe haben wir in Deutschland zum Glück eine gesunde Kultur innerhalb der Restrukturierungsszene. Wir treffen uns schließlich regelmäßig im Rahmen von Verfahren und auf zahlreichen Veranstaltungen. Ich stelle fest, dass ein sehr kollegialer, konstruktiver und offener Dialog gepflegt wird.
Bei manchen Beratern und Verwaltern liegen angesichts seit Jahren rückläufiger Verfahren die Nerven blank. Es geht vielfach um die eigene Existenz. Ist eine Konsolidierung der Beraterbranche unumgänglich bzw. braucht man als Berater eine kritische Größe?
Sanierungsberatung ist sehr stark von Persönlichkeiten geprägt. In vielen Sanierungsfällen speilt es keine Rolle, ob eine große Beraterfirma dahinter steht. Aber sobald man sich im Umfeld von größeren mittelständischen und auf der ganzen Welt vertretenen Unternehmen mit einem Umsatz von 300 bis 400 Millionen Euro bewegt, haben die Fälle häufig eine bestimmte Komplexität. In einem extrem dynamischen Umfeld haben sie beispielsweise mit Geldgebern zu tun, die nicht nur aus dem unmittelbaren lokalen Umkreis kommen. Stattdessen sitzen plötzlich Turbo-Kapitalisten oder Vertreter eines internationalen Bankenkonsortiums mit am Tisch. In diesen Fällen brauchen sie eine Beratung, die nicht nur das Sanierungshandwerk versteht, sondern die auch das notwendige Wissen über Branchentrends und Erfolgsfaktoren sowie über die internationalen Märkte und die Verhaltensweisen verschiedener Stakeholder mitbringt. Hier macht die Größe und die Erfahrung eines Beratungsunternehmens durchaus etwas aus. Unser Unternehmen gehört definitiv in diese Liga und deshalb konzentrieren wir uns auch im Wesentlichen auf diese Fälle.
Deutschlandweit spielen in dieser Größenordnung vielleicht drei bis vier Player.
Insofern ist der Konsolidierungsprozess in diesem Bereich auch sehr weit fortgeschritten. Dazwischen ist alles offen. Es gibt beispielsweise immer wieder Fälle, die trotz einer hohen Umsatzgröße relativ einfach gestrickt sind. Und dann gibt es auch Fälle, die anhand des Umsatzes sehr klein zu sein scheinen und sich später als sehr komplexe Herausforderung entpuppen. In beiden Fällen liegt es an den Beteiligten, für den jeweiligen Fall den richtigen Berater auszuwählen.
Ein intellektueller Streit hat sich in den zurückliegenden Monaten an der Frage entzündet, wer die besseren Berater und Macher sind – die Insolvenzverwalter oder die Unternehmensberater.
Ein Insolvenzverfahren und die damit einhergehende Notwendigkeit, einen Verwalter bzw. Sachwalter zu bestellen, ist ein Teil des Sanierungsprozesses. Die Insolvenz kann aber niemals ein Ziel oder ein Selbstzweck sein. Mit Ihrer Frage berühren Sie einen Punkt, den wir mit Blick auf die bestehenden Kodizes intensiv diskutiert haben. In den „London Rules" gibt es den Grundsatz, dass alle Verfahrensbeteiligte eine außergerichtliche Lösung anstreben sollen. Obwohl diese Grundregel eindeutig in den „London Rules" verankert und darüber hinaus auch eine InsO-Principle ist, ist sie eigentlich nicht zielführend. Eine Insolvenz kann schließlich auch eine Lösung für einen Sanierungsprozess sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Situationen, in denen sie nicht die Lösung sein sollte! Das muss man demzufolge fallweise entscheiden. Wenn es in einem Fall zu einem Insolvenzverfahren kommt, ist – auf die jeweilige Situation bezogen – ein unterschiedlicher Typus von Insolvenzverwalter oder Sachwalter verlangt.
Auf wissenschaftlicher Seite wird mittlerweile gewarnt, dass man den Sanierungshype nicht zu sehr übertreiben sollte. PROF. DR. CHRISTOPH THOLE (Köln) weist beispielsweise darauf hin, dass „manches als Sanierung verkauft wird, was gar keine echte Sanierung ist."
Ein Stück weit sehe ich diese Gefahr auch. Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass das eine oder andere Unternehmen, das momentan eine Refinanzierung bzw. eine Verlängerung der Finanzierung erhält, diese vor ein paar Jahren – zumindest in der heutigen Form – nicht bekommen hätte. Damals hätten die beteiligten Banken sehr klare Anforderungen gestellt, bevor entsprechende Kreditmittel bewilligt worden wären.
Heute ist das einfacher.
Unsere vorherigen Studien haben ganz klar gezeigt, dass die Anforderungen der Banken bei der Kreditvergabe – gerade bei Unternehmen, die sich möglicherweise in einer Krisensituation befinden – nachgelassen haben. Ohne dass gleichzeitig Zinsen gestiegen oder Sicherheiten verstärkt worden sind. Diese Tendenz birgt die Gefahr, dass Unternehmen mit einem Schuldenpaket unterwegs sind, das sie in dieser Form nicht haben sollten. Diese Firmen verfügen häufig nicht über die notwendige Ertragskraft bzw. sie haben ein riskantes Geschäftsmodell.
Das kann aber trotzdem gut gehen, oder?
Richtig. Aber wenn man diesen Prozess zu Ende denkt und sich vorstellt, dass sich die Konjunktur extrem abschwächt, die Zinsen steigen und die Liquidität nachlässt, dann habe ich die Befürchtung, dass wir eine Welle von sehr schwerwiegenden Krisensituationen haben werden. Aber auch dann wird nicht jedes dieser Unternehmen insolvenzreif. Ich rechne damit, dass wir viele ausgesprochen schwierige Sanierungsfälle sehen werden. Unter Umständen hätte man diese Fälle frühzeitiger abwenden oder zumindest leichter gestalten können.
Inwieweit hat sich das Sanierungsgeschäft seit der Einführung des ESUG verändert?
Wir selbst spüren keine massive Veränderung, denn unser Unternehmen ist nicht regelmäßig in Insolvenzen bzw. insolvenznahen Fällen, in denen das ESUG greift, tätig. Ich spüre allerdings, dass die Insolvenz ein wenig ihre Stigmatisierung verloren hat. Wir sehen beispielsweise immer mehr Fälle, die im Rahmen eines Schutzschirmverfahrens einer positiven Lösung zugeführt werden. Durch die ESUG-Instrumentarien gelingt es häufig, noch vor einem klassischen Insolvenzprozess eine Einigung zu erzielen. Das bewerte ich als überaus positiv.
In den zurückliegenden Monaten war auf vielen Kongressen und Tagungen zu beobachten, dass die Beraterszene bemüht ist, das „i"-Wort (für Insolvenz) möglich zu vermeiden.
Mir persönlich ist das noch nicht aufgefallen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass in der Branche viele Berater und Insolvenzverwalter tätig sind, die von der Insolvenz leben. Und viele dieser Marktteilnehmer haben momentan selbst Schwierigkeiten, weil es für sie zu wenige große Insolvenzfälle gibt. Darüber hinaus erleben wir in diesen Monaten eine sehr intensive Diskussion über ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren. Dieses Verfahren soll dazu führen, dass man eine Problemsituation ohne die Insolvenz lösen kann. In diesem Zusammenhang wird häufig über die Stellung der Akkordstörer diskutiert. Diese Gruppe versucht, einen Prozess per se aufzuhalten und daraus einen Gewinn zu schlagen.
Wie oft haben Sie persönlich im Rahmen von Sanierungsverfahren mit diesen Akkordstörern Kontakt gehabt? Mir persönlich kommt es so vor, als würde die quantitative Bedeutung dieser Akkordstörer etwas übertrieben.
Wenn man die Summe der Fälle sieht, dann sind Akkordstörer eher die Ausnahme. Vorsichtig geschätzt treten sie in vielleicht 20 % der Fälle auf. Aber das ist keine repräsentative Kennzahl, denn jeder Berater hat in diesem Zusammenhang auch ein anderes Fallprofil. Wenn man beispielsweise einen Berater nimmt, der sich auf Fälle mit Anleihegläubigern spezialisiert, dann wird dieser Berater wahrscheinlich viel häufiger mit Akkordstörern zu tun haben. Das gilt auch für Verfahren, in denen man es mit heterogenen Finanzierungsstrukturen, Stichwort: Mezzanine-Kredite, zu tun hat.
Oliver Wyman betreut zumeist Unternehmen mit verschiedenen Finanzierungsstrukturen.
Deshalb haben wir auch deutlich weniger Kontakt mit dieser Personengruppe. Wenn sie in diesen Verfahren eine klassische und professionelle Bankenfinanzierung haben, erlebt man diese Fälle eher nicht. Alle Beteiligten wissen, dass das Erzeugen von Schwierigkeiten der Sache nicht dienlich ist. Und alle Beteiligten wissen auch, dass sie sich ohnehin bald in einer anderen Konstellation wiedersehen.
Wie kommt man diesen Playern und diesen unschönen Auseinandersetzungen am besten bei?
Ich begrüße es sehr, dass man – ähnlich wie beim englischen Scheme of Arrangement – ein Rechtsregime auf den Weg bringen möchte, um solche Fälle zu lösen. Das bewerte ich extrem positiv, denn es handelt sich um ein wichtiges Instrument des deutschen Restrukturierungswerkzeugkastens. Insofern würde ich mich freuen, wenn die Community aus Anwälten bzw. der Gesetzgeber zeitnah zu Ergebnissen kommen würde. Das würde der deutschen und der europäischen Restrukturierungsszene sehr gut tun.
Welche Erfahrungen machen Sie mit dem Instrument des Debt Equity Swaps?
Dieses Verfahren wird sehr selten angewandt. Das liegt insbesondere daran, dass der Großteil der Unternehmensfinanzierung in Deutschland über klassische Bankkredite läuft. Aus unterschiedlichen Gründen tun sich hierzulande Banken sehr schwer, Eigenkapital von Unternehmen aufzunehmen. Zu der klassischen Rolle der Banken gehört einfach nicht, dass sie Eigenkapitalgeber sind. In den USA begegnet man diesen Verfahren viel häufiger.
Es gibt aber auch Situationen, in denen Finanzinvestoren beteiligt sind.
Das ist ein Trend, von dem ich erwarte, dass er in Zukunft sehr viel stärker auftreten wird. Ich rechne beispielsweise damit, dass Banken zukünftig verstärkt Non-performing Loans (NPLs), d. h. leistungsgestörte oder notleidende Kredite aus der Bilanz dekonsolidieren werden. In diesen Fällen wird dann das Feld für Finanzinvestoren offen sein, die Kredite zu übernehmen. Hier ist dann ein Debt Equity Swap durchaus ein Teil einer Strategie, um die Kontrolle über ein Unternehmen zu übernehmen. Ich stehe diesem Verfahren sehr positiv gegenüber, weil ein Debt Equity Swap die ultimative Form des Vertrauens in ein Unternehmen ist. Ich mache aus einem Kredit Equity, d. h. ich übernehme unternehmerische Verantwortung. Ich erhöhe damit als Investor den Anreiz, das Unternehmen weiter zu stützen und dieses weiter aktiv nach vorne zu bringen. Auch aus diesem Grund würde ich mir wünschen, dass dieses Finanzinstrument häufiger zum Einsatz kommen würde.
Kommen wir zurück auf die Frage, wo der Nutzen eines Verhaltenskodexes in Restrukturierungsprozessen liegt. Bei Ihrer aktuellen Studie hatte ich den Eindruck, dass Sie auf die Frage, ob ein neuer bzw. zusätzlicher Kodex notwendig sei, nicht eindeutig Position beziehen. Ging es Ihnen primär darum, eine Diskussion anzustoßen?
Ja, Ihr Eindruck täuscht nicht. Wir haben deshalb unsere Studie im Vorfeld bewusst auch als Frage formuliert. Braucht Deutschland einen Verhaltenskodex für Restrukturierung? Bei der jetzigen Veröffentlichung haben wir aus den Ergebnissen unserer Umfrage die Antwort abgeleitet, dass es gewisse Gründe und Grenzen gibt, einen Verhaltenskodex anzuwenden. Letztendlich möchten wir mit unserer Studie die existierende Diskussion aufgreifen. Sie beschäftigt sich mit der Frage, ob wir diesen Kodex brauchen. Auf der einen Seite gibt es Verfechter dieser These, die ein striktes Regelwerk verlangen. Auf der anderen Seite der Community gibt es aber auch Berater, die ein solches Regelwerk strikt ablehnen. Mit unserer Studie wollen wir beide Seiten verstehen und versuchen, einen Mittelweg aufzuzeigen. Wenn man dieses Thema fortsetzen möchte und entweder die bestehenden Kodizes erweitern oder einen neuen Kodex ins Leben rufen möchte, muss es sich um eine Initiative handeln, die weit über eine einzelne Partei hinausgeht. Wie Sie schon sagten – mit unserer Studie haben wir einen Anstoß gegeben.
Sie haben versucht, herauszuarbeiten, an welchen Stellen ein Regelwerk Sinn machen könnte.
Restrukturierungssituationen sind per Definition sehr dynamisch und oftmals kaum planbar. In unserer Studie schreiben wir, dass Restrukturierungssituationen oftmals Grauzonen sind. Man kann nie vorschnell zu dem Ergebnis kommen, was ganz falsch bzw. ganz richtig ist. Vor allem hat man es immer mit Situationen zu tun, in denen sehr unterschiedliche Interessenslagen und Möglichkeiten vorhanden sind. Denken wir nur an das komplexe Zusammenspiel von drei verschiedenen Banken, die eine völlig konträre Risikostrategie bzw. unterschiedliche Spielräume innerhalb ihrer Bilanz haben. Das sagt in diesem Moment natürlich keiner.
Kein Wunder, denn niemand möchte seine Bilanzen offenlegen.
Vor dem Hintergrund unterschiedlicher wirtschaftlicher Voraussetzungen kann deshalb ein scheinbar irrationales und unethisches Verhalten (zum Beispiel die Weigerung einer Bank, frisches Geld zuzusteuern) durchaus rational und logisch sein. Hier könnte – ich spreche bewusst im Konjunktiv – man hergehen und mit Bezug auf ein vorhandenes Regelwerk zu dem Ergebnis kommen, dass – sofern die Mehrheit bereit ist, einem Unternehmen frisches Geld zu geben bzw. eine Insolvenz abzuwenden – diese Schritte von allen Beteiligten gegangen werden müssen.
Das würde aber die unsichtbar ordnende Hand des Marktes außer Kraft setzen.
Deshalb kann man auch zu dem Ergebnis kommen, dass man den Verfahrensbeteiligten für solche Fälle eine gewisse Offenheit lassen muss. Ein Verhaltenskodex darf die Kräfte des Marktes nicht außer Kraft setzen und muss dafür Sorge tragen, dass die wirtschaftliche Autonomie aller Beteiligten erhalten bleibt! Letztendlich führt aber auch kein Weg daran vorbei, dass es für Restrukturierungsprozesse bestimmte Grundregeln geben muss. Auf diese Regel muss man sich verständigen können. Diese Regeln sind aber zumeist eher prozessualer Natur. Zum Beispiel eine frühzeitige und offene Kommunikation sowie klare Spielregeln. Diese Regeln müssen nicht nur für Banken gelten, sondern auch für alle anderen Mitspieler, sprich: für Anwälte, Berater, Restrukturierungsmanager und vor allem auch für Unternehmer!
In Ihrer Studie schreiben Sie von „Eigentümern und Unternehmenslenkern, die nicht regelmäßig in Restrukturierungsprozessen involviert sind" und demzufolge eine mangelnde Erfahrung in Krisensituationen haben.
Ein Unternehmer, der seine Firma aufgebaut und zum Wachstum geführt hat, wird in einer Krisensituation oft keine Erfahrung haben. Das gilt auch für Investoren, die sich in der Vergangenheit vor allem in den USA und in England engagiert haben. Sie können in Deutschland keine Erfahrung mit dem lokalen Umfeld gemacht haben. Und letztendlich gilt dies auch für weitgehend unerfahrene Berater, die in ihrem Berufsleben erst sehr wenige Restrukturierungsfälle betreut haben. Das ist per se nichts Falsches! Mit unserer Studie wollen wir darauf hinweisen, was ein Kodex leisten kann. Man formuliert eine bestimmte Art von „goldenen Regeln", bei denen jeder, der in einen Restrukturierungsfall hineinkommt, sofort sehen kann, ob er sich auf dünnem Eis bzw. in einer Gefahrenzone bewegt. Diese Regeln können in dieser Situation helfen, den Erfahrungsrückstand schneller aufzuholen.
Läuft das nicht auf eine Art von Zertifizierung für Sanierungsberater hinaus?
Davon halte ich persönlich überhaupt nichts! Eine zu starke Bürokratisierung in Form einer Zertifizierung oder einer formellen Selbstverpflichtung haben übrigens auch die meisten der von uns befragten Experten abgelehnt.
In der Insolvenzverwalterszene gibt es diese Zertifizierungsprozesse.
Dafür muss man aber auch berücksichtigen, dass ein Insolvenzverwalter ein bestimmtes Mandat bekommt. Er verfügt über eine gewisse Form der Exekutive innerhalb der Sanierung. Ein Berater gibt Ratschläge, aber die Entscheidungshoheit liegt bei anderen Organen.
Welchen Stellenwert messen Sie der Fachkompetenz eines Beraters bzw. eines Beraterteams bei?
Ich bin der festen Überzeugung, dass eine nachhaltige Sanierung nur dann gelingen kann, wenn man das spezifische Umfeld der Situation sehr genau versteht. Es ist beispielsweise ein elementarer Unterschied, ob man ein Krankenhaus, ein Maschinenbau- oder ein Handelsunternehmen sanieren möchte.
Einverstanden. Aber es gibt schließlich auch Gemeinsamkeiten für alle Restrukturierungsvorhaben, wie zum Beispiel die BGH-Richtlinien für Sanierungskonzepte.
Letztendlich geht es darum, dass ein Sanierungskonzept nicht nur auf dem Papier steht und geprüft wird, sondern es geht primär darum, dieses Konzept mit zu erstellen und es anschließend inhaltlich zu prüfen. Dafür braucht es beispielsweise das Wissen darüber, wie sich Märkte und Erfolgsfaktoren entwickeln bzw. wie eine Supply Chain aufgebaut sein muss. Um sinnvolle und erreichbare Zielgrößen aufzustellen bzw. Operationsveränderungen und Prozesse auf den Weg zu bringen, braucht es spezifische und methodische Branchenexpertisen.
Wie kompliziert gestaltet sich die Restrukturierung eines öffentlichen Unternehmens? Hier stehen dem Berater zusätzliche und teilweise irrational handelnde Akteure – zum Beispiel die Bevölkerung sowie lokale Politiker und Medienvertreter – gegenüber.
In diesen Sanierungsfällen ist es ganz wichtig, dass man immer jemanden mit an Bord hat, der die handelnden Personen und das Umfeld des Unternehmens kennt. Dadurch kann man besser verstehen, nach welchen Prämissen und Prioritäten diese Menschen handeln. Die Fähigkeit, Entscheidungsprozesse zu antizipieren, ist innerhalb einer Sanierung wahnsinnig wichtig. Es geht darum, die entsprechenden Informationen weiterzugeben und zu verstehen, wie die Geschwindigkeit der Entscheidung abläuft. Dieses Prozedere ist nicht auf die Sanierung von Krankenhäusern oder Stadtwerken beschränkt. Es macht schließlich auch einen großen Unterschied, ob sie für einen familiengeführten Mittelständler arbeiten oder für einen Großkonzern. Auch die Frage, ob man eher international oder eher lokal arbeitet, hat eine große Bedeutung. Grundsätzlich gilt, dass man derartige Unternehmen verstehen und entsprechende Erfahrungen mitbringen sollte.
Andernfalls sollte man als Berater lieber die Finger davon lassen, oder?
Richtig. Ich vertrete die Auffassung, dass man ein Verfahren nur dann übernehmen sollte, wenn man dafür auch qualifiziert ist.
Sehr deutlich werden Sie in Ihrer Studie auch bei einem anderen Punkt. Sie schreiben: „Überzogener Ehrgeiz und Behauptungswille, aber auch Ignoranz, Fatalismus und Frust" gehören zu den wichtigsten Auslösern für ein Fehlverhalten.
Bei unserer Online-Befragung haben wir den rund 150 Experten für Restrukturierung eine Vielzahl von Kriterien genannt, aus denen sie auswählen konnten. Dabei haben sich die von Ihnen erwähnten Themen überaus deutlich herauskristallisiert. Vielleicht muss man sich in diesem Zusammenhang auch einmal vergegenwärtigen, dass es in einer Sanierungssituation sehr stark menscheln kann. Und vergessen wir auch nicht, dass eine Sanierungssituation eine Krise ist. Für die Betroffenen ist diese Krise eine Extremsituation, denn es geht um wahnsinnig viel. Es herrscht eine extreme Anspannung und in diesen Momenten treten die von Ihnen zitierten Verhaltensweisen durchaus verstärkt auf.
Sprechen wir bitte auch über die Unabhängigkeit des Beraters.
Die Unabhängigkeit eines Beraters ist von herausragender Bedeutung! Mit Blick auf die vier Stakeholder-Gruppen – Eigenkapitalgeber und Management, CRO, Anwälte und Berater sowie Fremdkapitalgeber – vertrete ich die Auffassung, dass sie auf jeden Fall sehr unabhängig agieren müssen. So sollte beispielsweise ein Anwalt entweder in beratender Funktion oder als Insolvenzverwalter tätig sein. Und Fremdkapitalgeber sollten meines Erachtens nicht zu eng mit einem Berater verbandelt sein. Ich halte in diesem Zusammenhang viel vom Prinzip der Objektivität und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Nur so kann man in der Sache richtig handeln und die jeweilige Funktion richtig ausüben. Wenn versucht wird, hinter den Kulissen zu kungeln oder sich gegenseitig Aufträge oder Vorteile zuzuschieben, kann das in meinen Augen der Sache nicht dienlich sein.
Das Thema Beraterhaftung war nicht Gegenstand Ihrer Studie. Gleichwohl wird darüber intensiv in der Branche diskutiert.
Ein großes Thema. Die Diskussion rund um Haftungsfragen hat sehr stark an Fahrt aufgenommen, als vor allem bei den Banken der Wunsch aufkam, dass der Gutachter bei der Vorlage eines formellen Sanierungsgutachtens nach BGH-Kriterien ein Stück weit dafür haftbar gemacht werden kann. Ich halte es für gut und richtig, dass man sich intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzt. Natürlich kann ich auch verstehen, dass dieser Punkt aus Beratersicht durchaus seine Tücken hat. Man bekommt einen Fall vorgelegt und wird aufgefordert, innerhalb von vier Wochen ein Sanierungskonzept anzufertigen. In diesem Konzept darf dann aber auch nichts falsch sein, denn sonst wird man unter Umständen haftbar gemacht.
In diesen Fällen stehen das Risiko und der Ertrag doch in keinem Verhältnis.
Richtig. Aber wenn das nun einmal die Spielregeln sind, dann muss man sich ihnen auch stellen. Der Berater muss in jedem Fall mit der notwendigen Sorgfalt arbeiten, damit auf keinen Fall der Verdacht von irgendwelcher Fahrlässigkeit, geschweige denn grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz entsteht. Hier muss auch eine signifikante Haftungssumme im Raum stehen. Punkt. Aus. Ende.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der eine oder andere Insolvenzverwalter?
Kritisch sehe ich die Tendenz, dass es heutzutage eine Standardmaßnahme von manchen Insolvenzverwaltern geworden ist, an erster Stelle das Beratungshonorar anzufechten. Unter ethischen Gründen halte ich diese Vorgehensweise nicht für richtig. Schließlich wird ein professioneller Berater immer versuchen, einem Unternehmen zu helfen. Dabei muss man sich viel auf Einschätzung und Erfahrung verlassen können. Und im Rahmen dieses Prozesses kann man nun einmal nicht alles perfekt vorhersehen. Im Nachhinein ist es immer einfach, zu sagen, dass man dieses oder jenes hätte sehen können. Deshalb braucht es eine gewisse Professionalität und einen Spielraum, den man allerdings auch nicht überschreiten darf.
Schließlich gab und gibt es Fälle, in denen Berater Grenzen überschritten haben.
Deswegen kann es in diesen Verfahren durchaus Sinn machen, ein Beraterhonorar anzufechten oder zurückzufordern.
Was halten Sie vom IDW S6 als Standard für Sanierungskonzepte?
Wenn man Sanierungsgutachten schreibt, haben der IDW S6 bzw. dessen Vorläufer FAR 1/1991 immer den Anspruch gehabt, einen Standard zu schaffen, wie Sanierungsgutachten erstellt werden sollen. Über die Zeit ist dieser Standard relativ umfangreich geworden. Man könnte kritisch sagen, dass es sich mittlerweile um eine komplette aber eben auch sehr umfangreiche Liste von Inhalten handelt. Ich kenne kein Sanierungsgutachten, das alle im IDW S6 vorgeschlagenen Aspekte komplett abdeckt. Das wäre auch gar nicht praktikabel, denn dann wäre jedes Sanierungsgutachten 300 Seiten stark. Ich begrüße es daher sehr, dass die Urteile des Bundesgerichtshofes zu Sanierungskonzepten maßgebend sind. Sie sind sehr praktikabel und sie drücken einen klaren Anspruch aus. Mittlerweile wurden die BHG-Mindestanforderungen in den IDW S6 aufgenommen, so dass man sich eigentlich wieder komplett auf diese Standards beziehen könnte. Ich persönlich sehe keinen größeren Punkt im – bekanntlich nicht rechtsverbindlichen – IDW S6, der dringend geändert werden müsste. Letztendlich kann jeder Berater immer noch so verfahren, wie er möchte. Solange der Berater die BGH-Mindestanforderungen einhält.
© Detlef Fleischer