Städte sind Orte der Widersprüche
Ein Gespräch mit PROF. DR. ARMIN GRUNWALD, dem Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS, Karlsruhe).
Bedauern Sie, dass Sie kein Zeitreisender sind? Sie wüssten dann schließlich bereits heute die Antwort auf die Frage, wie die Stadt der Zukunft aussieht.
Nein, das bedauere ich nicht. Im Übrigen: Was würde eine Zeitreise tatsächlich bringen? Wir könnten schließlich nur etwas Bestimmtes vorfinden, wenn bereits heute feststehen würde, dass es in der Zukunft so oder so ist. Das aber ist nicht der Fall, denn wir leben zum Glück nicht in einer determinierten Welt. Ich empfinde mich nicht als Prophet und ich erdreiste mich auch nicht, die Zukunft vorherzusagen. Ich schaue vielmehr, wie man mit dem Wissen von heute etwas tun kann, um die Zukunft ein Stück weit zu gestalten. Das ist ein anderer Ansatz, als wenn man Zukunft erkennen möchte.
Sind Sie ein Visionär?
Nein, dass glaube ich nicht. Ich entwerfe keine visionären Zukunftsmodelle. Stattdessen versuche ich, mir einen Eindruck davon zu verschaffen, was an zukünftigen Entwicklungen gut bzw. nicht gut sein könnte. Ich verstehe mich vielmehr mehr als Wissenschaftler, der sich mit Visionen über eine technisch geprägte Zukunft befasst. Ich finde es interessant und spannend, dass nach der Jahrtausendwende erneut mit sehr viel mit Visionen gearbeitet und geredet wird.
Als Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) beraten Sie auch Ministerialbeamte und Parlamentarier in Berlin. Wie offen ist man dort, sich mit visionären Gedankenspielen auseinanderzusetzen? Meines Erachtens fehlt es vielen Politikern und Parteien an Ideen und Vorstellungen, wie unser Leben in 20 Jahren aussehen könnte.
Ich stimme Ihnen zu. Als Bürger kann man durchaus erwarten, dass die gewählten Volksvertreter, denen man auch die Führung eines Landes anvertraut, Visionen entwickeln bzw. Begeisterung für bestimmte Prozesse und Entwicklungslinien entwickeln. Stattdessen verzetteln sich viele Politiker im Alltagsgeschäft. Politik ist leider sehr getrieben von den Notwendigkeiten des Augenblicks.
Das Wissenschaftsjahr stand vor einem Jahr unter dem Motto „Städte der Zukunft". Haben Sie den Eindruck, dass Politiker und Parteien begriffen haben, wie existenziell wichtig die Thematik tatsächlich ist?
Die Tatsache, dass Städte eine besondere Sorgfalt verdienen und brauchen, wissen Politiker schon lange. Die Städte sind und bleiben die Zentren unseres gesellschaftlichen Lebens. Auch wenn es auf dem Land noch so schön sein mag, führt kein Weg daran vorbei, dass es die Städte sind, in denen das wirtschaftliche und kulturelle Leben brummt. Seit es Hochkulturen gibt, war das so. Natürlich gibt es Entwicklungen, die immer wieder zu Sorgen Anlass geben. Denken Sie beispielsweise daran, dass in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Sorge verbreitet war, dass sich die Städte entleeren.
Die Flucht aus der Stadt in das idyllische Häuschen im Grünen.
Heute kann man sich diese Entwicklung kaum noch vorstellen. Damals bestand tatsächlich die große Sorge, dass in den sich leerenden Städten nur die Alten und Schwachen zurückbleiben. Heute ist die Entwicklung völlig umgekehrt, denn es zieht die Menschen in Scharen in die Städte. Ländliche Gegenden sowie kleinere und mittlere Städte bekommen heute massive Probleme, da die jungen und mobilen Menschen wegziehen und die ältere Bevölkerung zurückbleibt. An diesem Beispiel sehen Sie sehr gut, dass die Politik sich bereits damals intensiv Gedanken über die Zukunft der Städte gemacht hat. Heute gibt es andere Tendenzen, zum Beispiel der demographische Wandel unserer Gesellschaft und die Integration von Flüchtlingen und Zuwanderern, die Diskussionsprozesse notwendig machen. Das sind richtig große Herausforderungen.
Zählt dazu auch das Thema Technik und Stadt?
Ich habe den Eindruck, dass dieses Thema bei vielen Politikern noch nicht präsent ist.
Alle Zukunftsforscher sind sich scheinbar einig: „Der Stadt gehört die Zukunft". Teilen Sie diese These oder können Sie sich vorstellen, dass wir in einem Zeitkorridor von wenigen Jahrzehnten erneut eine gegenläufige Wanderungsbewegung erleben?
Ich bin sicher, dass die zunehmende Bedeutung von Städten auf absehbare Zeit vorherrschend sein wird. Wir beobachten weltweit die Tendenz einer Verstädterung und viele Forscher rechnen damit, dass in einigen Jahrzehnten rund 80 % der Menschheit in Städten leben werden. Auch wenn ich bei solchen Prognosen skeptisch bin, wird sich an der gewaltigen Bedeutung der Städte für das Menschsein, für Kultur und Gesellschaft, nichts Grundsätzliches ändern. Was vielleicht im Jahr 2200 sein wird, steht auf einem anderen Blatt Papier.
Ich komme aus einem bevölkerungsreichen Bundesland (NRW), in dem 515 Einwohner pro Quadratmeter leben. Das führt zwangsläufig zu vielen Problemen und Spannungen, so dass der Traum vom Leben abseits der Peripherie durchaus eine reale Wunschvorstellung ist.
Ich habe die ersten 18 Jahre meines Lebens auf einem Bauernhof und in einem Dorf mit 60 Einwohnern verbracht. Anschließend hatte ich von diesem Leben genug. Anderen Menschen geht es umgekehrt. Das sind sehr subjektive und individuelle Wahrnehmungen, die für sich genommen auch alle in Ordnung sind. Abseits individueller Betrachtungen nimmt die Bedeutung von Städten allerdings zu, denn sie bedeuten für viele Menschen auch eine Zusammenballung von Arbeit, Geld, Identitäten, Kreativität, Lebensstilen und Wohlstand. Durch diese Zusammenballung werden wir herausgefordert, denn in der Stadt ist es beispielsweise viel leichter, seine Talente zu entfalten. Aber: Wer sie nicht entfaltet, kommt auch schneller unter die Räder. Fortschritt und Weiterentwicklung sind nicht ohne diese Ambivalenz zu haben. Das ist der Preis, den wir als Gesellschaft zahlen müssen.
Sind wir Stadtmenschen bereits heute unfreiwillig Teilnehmer eines gesellschaftspolitischen „Experimentierfeldes Stadt"?
Ja. Aber im Großen und Ganzen war das immer schon so. Ich möchte das Wort „Experimente" lieber in Anführungszeichen setzen. Es bleibt schließlich immer ungewiss, wie sich etwas entwickelt. Niemand weiß, wo etwas endet. Das ist das Experimentelle an der Conditio humana. Die eigentliche Frage lautet allerdings auch, ob und was sich bei der Entwicklung von Städten verändert. Diese Frage ist schwer zu beantworten, denn es fehlt an objektiven Indikatoren. Gleichwohl glaube ich, dass sich in Stadtgesellschaften vieles verändert hat. Durch den Einsatz heutiger Technologien sind neue Möglichkeiten der Vergesellschaftung und der Vergemeinschaftung entstanden, die es vor wenigen Jahren überhaupt noch nicht gab. Denken Sie nur an die Mobilität in der Datenkommunikation, die noch vor 2 Jahrzehnten kaum vorstellbar war. Mobilität spielt aber auch in einem anderen Zusammenhang eine große Rolle. Nehmen wir den Kölner Dom und die Hohenzollernbrücke. Sie können dort sehr gut sehen, wie massiv eine verhältnismäßig alte Technologie, die Eisenbahn, das Stadtbild dominiert.
Von Ihnen stammt die Aussage „Städte sind Orte der Widersprüche".
Sie kennen bestimmt Heraklits Spruch: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge". Der Satz kommt aus dem Griechischen und müsste eigentlich übersetzt werden in die Aussage „Der Konflikt ist der Vater aller Dinge". In diesem Maße, in dem die Stadt Menschen zusammenbringt, prallen dort natürlich auch unterschiedliche Lebensstile, Werte und Wohlstandsmodelle aufeinander. Diese Gemengelange erzeugt natürlich auch Konflikte. Aus diesen Auseinandersetzungen und Widersprüchen entsteht häufig auch etwas Neues. Menschen werden nachdenklich, sie streiten und diskutieren miteinander. Dadurch entsteht eine Bewegung im System. Wenn alles kuschlig ist und jeder zufrieden wäre, würde keine Produktivität und keine Weiterentwicklung stattfinden.
Wie radikal kann und darf ein Technikphilosoph sein?
Radikalität gehört gelegentlich zum Experimentellen, über das wir gesprochen haben. Aber Experimente werden gelegentlich auch abgebrochen. Nach Jahrzehnten sieht man beispielsweise, dass bestimmte Formen der Zusammenballung von Menschen in käfigartigen Siedlungen nicht zukunftsfähig waren. Es kommt daher durchaus vor, dass man man solche Quartiere abreißt und anschließend neu gestaltet. Eine Entwicklung, die zum Werden und Vergehen einer Siedlungsform dazugehört.
Müssten Politiker und Stadtplaner demzufolge viel radikaler vorgehen und bereit sein, nicht mehr zeitgemäße und nahezu verwaiste Quartiere und Stadtteile tatsächlich abzureißen. Ich denke an verödete Landstriche, Stadtteile und Orte im Osten Deutschlands, in die wahrscheinlich niemand mehr zurückkehren wird.
Dieses Unterfangen ist sehr schwer, denn das geplante Abreißen oder Verlassen von Städten ist hier nur bedingt durchsetzbar. Anders in China, wo dieses Vorgehen häufig Realität ist. Alte historische Viertel werden plattgemacht und durch neue Siedlungen ersetzt.
Die Vernichtung der Städte im 2. Weltkrieg hat seinerzeit bei vielen Architekten und Stadtplanern im Hinblick auf den notwendigen Wiederaufbau eine regelrechte Euphorie ausgelöst.
Das stimmt, es gab viel zu tun. Architekten und Stadtplaner konnten richtig loslegen und das in einer Art und Weise, die wir heute nicht überall schön finden. Aber: In gebauter Umwelt ist immer auch menschliche Identität vorhanden. Stichwort: Heimat. Ich kann mir schwer vorstellen, dass man in einer x-beliebigen Stadtbevölkerung zu der Konsensmeinung kommt, dass eine Stadt gescheitert ist und sie deshalb wieder neu und zwar ganz anders aufgebaut werden sollte. In der vorhandenen Bausubstanz stecken Biographien, Erinnerungen und Identitäten. So etwas kann man nicht einfach neu planen.
Auf dem riesigen Gelände des Braunkohletagebaus Garzweiler hat man vorgemacht, wie man ganze Ortschaften platt macht und die Menschen in neuen Ortschaften wieder von vorne anfangen.
Diese Form der Umsiedlung bzw. des Neuanfangs geht nur begrenzt. Bei dem von Ihnen angesprochenen Gelände des Braunkohletageabbaus handelt es sich um relativ kleine Ortschaften. Die Menschen konnten ihre Kirchen und ihre Friedhöfe zwar nicht mitnehmen. Gleichwohl handelt es sich dort um ein etabliertes System der Umsiedlung. Es wird sehr langzeitlich geplant, die Entschädigungssummen sind ordentlich und die betroffenen Menschen sind in der Regel lange auf die Umsiedlung vorbereitet.
Bei der Frage, wie erfolgreiche Städte der Zukunft strukturiert sein müssen, spielt deren Nachhaltigkeit eine große Rolle.
In der Stadtplanungsdiskussion in Deutschland spielt Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle. Nachhaltigkeit wird in diesem Zusammenhang nicht nur in Verbindung mit einem effizienten Umgang mit Ressourcen verstanden. Nachhaltigkeit steht vielmehr auch für ein Modell für gutes Wohnen. Verschiedene Generationen werden räumlich nicht getrennt sondern leben nachbarschaftlich zusammen. Inwieweit dieses Modell in der Realität angekommen ist, steht auf einem anderen Blatt Papier. In der Praxis wird leider immer noch sehr stark nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten geplant.
Mit herkömmlichen Denkmustern - hier wohnt man und dort arbeitet man - kommt man vielerorts nicht mehr weiter. In Neuss wird darüber nachgedacht, einen großen und teilweise leerstehenden Büropark durch Wohnneubauten zu einem gemischt-genutzten Quartier umzuwandeln.
Ein interessantes Experiment. Hier bei uns in Baden-Württemberg wird mit Reallaboren für nachhaltige Wohn- und Mobilitätskulturen experimentiert. Es geht dabei zum Beispiel hier in Karlsruhe um das Projekt „Quartier Zukunft". In diesem Stadtteil soll in einem temporären Experimentierraum das nachhaltige Stadtleben der Zukunft erprobt und entwickelt werden. Bei diesem Experiment geht es darum, gemeinsam mit der Bevölkerung, der Politik und der Privatwirtschaft neue und innovative Wege zu gehen. Insofern handelt es sich dort um ein Reallabor, in dem man Angebote macht und anschließend abwarten muss, ob diese Angebote von den Menschen und Firmen angenommen werden. Wenn dieser Prozess erst einmal in Gang gesetzt worden ist, müssen diese kreativen Ideen von selbst anfangen zu leben. Wir wissen heute, dass man die perfekte Stadt nicht am Reißbrett planen kann. Man muss vielmehr den Ausgangspunkt gut gestalten und anschließend dem Quartier oder Stadtteil die Chance geben, seine Eigendynamik zu entfalten. Deshalb kann ich mir durchaus vorstellen, dass (teilweise) stillgelegte Gewerbegebiete ein interessantes Ambiente für junge und kreative Menschen sind.
Bleiben wir beim Thema Nachhaltigkeit. Wie wichtig sind für Sie die Säulen Kultur, Ökologie, Ökonomie und Soziales?
In meinem Institut haben wir ein eigenes Konzept der Nachhaltigkeit entwickelt, das völlig auf diese Faktoren verzichtet. Wir definieren Nachhaltigkeit vielmehr über den Begriff der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit mit Blick auf die heute lebenden Menschen und gegenüber zukünftigen Generationen. Wenn man unter diesem Aspekt abwägt, welche Betrachtungsweise wichtiger ist, wird man von Fall zu Fall zu unterschiedlichen Antworten kommen. Man kann nicht pauschal sagen, dass kulturelle Aspekte wichtiger sind als ökonomische Fragen. Man muss vielmehr individuell und kontextbezogen abwägen, welche Faktoren wichtiger sind. Wenn es um die Entscheidung geht, wie wir in Zukunft leben wollen, sind solche Fragen elementar wichtig. Letztendlich wollen wir in dem Experiment, über das wir beide sprechen, nicht nur passive Zuschauer sein. Wir wollen vielmehr mitmachen und mitgestalten.
Diese Prozesse führen allerdings auch dazu, dass aus Industriehäfen Wohnquartiere werden.
Aufgrund der Globalisierung und der wirtschaftliche Entwicklung kommt es zu Veränderungsprozessen, gegen die man letztendlich auch nicht viel machen kann. Die Wettbewerbssituation ist heute so, dass sich Firmen anders orientieren und ihre Logistikketten nach betriebswirtschaftlichen Kriterien arrangieren. Durch diese Entwicklung sind letztendlich historische und gewachsene Industriehafenstrukturen plötzlich nicht mehr im System rentabel. Es geht in diesen Fällen dann darum, dass dieser Wandel, der meistens durch große Kräfte angetrieben wird, ordentlich zu gestalten. Es ist völlig legitim, über neue Nutzungskonzepte - zum Beispiel einen Medienhafen - nachzudenken. Welche Konzepte sich letztendlich durchsetzen, muss man von Fall zu Fall sehen.
An einem zentralen Punkt kommen wir allerdings nicht vorbei. Durch diese Prozesse, die teilweise durchaus den Charakter von Modewellen haben, werden Fakten geschaffen. Und über Geschmack, zum Beispiel über die neue und vielbeachtete Architektur des Rheinauhafens, einer ehemaligen Hafenanlage in der Kölner Südstadt, muss man geteilter Meinung sein dürfen! Ob man dieses neue Quartier in 20 Jahren auch noch toll findet, weiß ich nicht. Wenn nicht, stehen die drei Kranhäuser trotzdem da. Das ist das Problem, wenn man Fakten schafft. Nachhaltigkeit ist schön und gut. Es hört sich zunächst gut an, wenn ein Konzept adaptionsfreudig ist und man damit auf neue Entwicklungen reagieren kann. Aber Beton bleibt trotzdem Beton.
Welchen Einfluss wird die „Industrie 4.0" auf die Zukunft der Städte haben?
Ich glaube nicht, dass die Informatisierung der Fertigungstechnik das Bild unserer Städte so schnell nicht verändern wird. „Industrie 4.0" findet zu einem guten Teil innerhalb der Industrie ab, die in Gewerbegebieten beheimatet ist. Ich sehe allerdings dramatische Veränderungsprozesse im Rahmen der Automatisierung. Sie kann weite Teile des Mittelstandes erfassen. Dabei wird es dann nicht um die Frage gehen, Hilfsarbeiter durch einfache Roboter zu ersetzen. Es wird vielmehr darum gehen, dass Arztpraxen, Rechtsanwaltskanzleien und Reisebüros in Mitleidenschaft geraten können. Etablierte Berufssparten und Dienstleister werden möglicherweise verschwinden. Hier kommt ein Veränderungsprozess auf uns zu, den wir sorgfältig im Auge behalten müssen. Es geht dabei nämlich nicht nur um die Frage von Arbeitslosigkeit sondern insbesondere auch darum, dass diese Entwicklung den Mittelstand angreifen wird. Damit wird der Kern unserer demokratischen Gesellschaftsform angegriffen. Aus der Mittelschicht heraus lebt unsere Gesellschaft; sie bezieht daraus ihre Kohäsionskräfte und kann ausgleichend wirken. Diese Entwicklung ist eine große Herausforderung, denn sie hätte auch auf die städtische Kultur einen erheblichen Einfluss.
Was können Sie tun, um vor dieser Entwicklung zu warnen?
Ich mache auf diese Entwicklung aufmerksam und weise darauf hin, dass wir hier sehr gut hinschauen müssen. Als in den 80er-Jahren die erste Welle der Automatisierung rollte, wurden in kürzester Zeit Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet. Aus heutiger Sicht kann man natürlich sagen, dass wir mit diesem Veränderungsprozess relativ gut fertig geworden sind. Viele Arbeitskräfte haben durch Schulungs- und Umschulungsmaßnahmen eine neue Arbeitsstelle gefunden. Aber heute muss man sehr früher anfangen, denn die nächste Automatisierungswelle wird nicht auf periphere Gruppen sondern auf die Mitte unserer Gesellschaft zielen.
Inwieweit sind Ihre euphorischen Gesprächspartner in der Industrie offen für Ihre nachdenklichen Zwischentöne?
Trotz aller Euphorie ist es ratsam, auf dem Teppich zu bleiben. Ich warne daher vor übertriebenen Hoffnungen bzw. koche die Emotionen ein wenig auf normale Betriebstemperaturen herunter. Oft handelt es sich um maßlose Übertreibungen, die allein schon aufgrund der prognostizierten Zeitschienen unrealistisch sind. Salopp gesprochen wird schon so getan, als könnte sich jeder Mensch seine Pizza aus dem 3D-Drucker ausdrucken. Bringt man die Zeiträume in eine richtige Relation zum tatsächlichen Geschehen, sehen viele Innovationen längst nicht mehr so dramatisch aus. Das gilt natürlich auch für übertriebene Risikobefürchtungen. Insofern gehört das Herunterkochen von Übertreibungen zu unserem Geschäft.
Energieeffizienten und klimaangepassten Städten, die mit ihren Ressourcen verantwortlich umgehen, wird die Zukunft gehören. Oder?
Energieerzeugung braucht entweder extrem energiereiche Punktquellen, zum Beispiel Kraftwerke mit Kernenergie oder Fusionsenergie, oder sie braucht relativ viel Fläche. Stichwort: Erneuerbare Energien. Große Städte verfügen über diese Fläche nicht. Deswegen wird es vermutlich lange dabei bleiben, dass Städte einen großen Teil ihrer Energieversorgung aus dem Umland beziehen müssen. Beim Thema Ressourcenhunger wird man daher immer auf die Stadtumland-Beziehung gucken. In gewisser Weise sind die Städte mit Bezug auf die vorhandenen Ressourcen parasitär, denn sie saugen ihre Umwelt aus. Ein ganz großes Thema ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit Wasser. Es entsteht ein Ressourcenkonflikt, denn eine Reihe von Ressourcen kann man nicht beliebig oft und häufig nutzen.
Kann dieses parasitäre Verhalten dazu führen, dass der Energiehunger einer Stadt auf die Kosten der Nachbarstadt geht?
Mit Blick auf Deutschland bin ich in dieser Frage entspannt. Ich glaube nicht, dass es bei uns zu einem gegenseitigen Absaugen von Energieressourcen kommen wird. Weltweit sieht das allerdings, insbesondere mit Blick auf Mega-Cities, schon anders aus. Diese Städte wachsen atemberaubend und ich kann mir zurzeit nicht vorstellen, wie man in 10 bis 15 Jahren auf eine halbwegs nachhaltige Art und Weise der Strom produziert werden kann. Bei aller Sympathie für energieautarke Gemeinden muss man schließlich konstatieren, dass es weltweit keine einzige energieautarke Großstadt gibt.
Ein ganz großes Thema bleibt die Verkehrsinfrastruktur, die vielerorts kurz vor dem Kollaps steht.
Der französische Philosoph Paul Virilio hat in einem Buch vom „rasenden Stillstand" gesprochen. Dank des Automobils sind wir heute so mobil, wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Aber indem wir alle mobil sind, stehen wir auch alle im Stau.
Nach Jahrtausende langem Beschleunigungsfortschritt droht uns jetzt demzufolge eine totale Regression?
In Deutschland sind wir allmählich an die Grenzen des Wachstums im Verkehr angekommen. Das gilt zumindest für den individuellen Bereich. Neu ist die Entwicklung der Mobilitätswende nicht, wenn Sie beispielsweise an die Erfindung von Fußgängerzonen denken. Schon in den 60er-Jahren ging es darum, in den Innenstädten den „Automobilwahn" zurückzudrängen. Seitdem kamen weitere Beschränkungen, zum Beispiel Tempo 30-Zonen, Spielstraßen, eine Innenstadtmaut (z. B. in London) und autofreie Wohnquartiere, hinzu. Der Automobilität wurden peu à peu weitere Schranken gesetzt, so dass die Stadt den Menschen ein Stück weit zurückgegeben worden ist. Zeitweise sah es schließlich so aus, als würde die Stadt den Autos gehören.
Für viele junge Stadtbewohner, insbesondere in Großstädten, hat ein eigens Auto längst an Attraktivität verloren.
Dafür gibt es beispielsweise neue Nutzungsformen, zum Beispiel Carsharing-Modelle. Aber rasche und radikale Veränderungen wird es kaum geben. Die jetzige Mobilitätsinfrastruktur ist schließlich betoniert und asphaltiert. Und das meine ich nicht nur physikalisch, denn sie ist es auch in Köpfen. Eine Welt ohne Autos ist heute nicht vorstellbar. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, dass es neue und autonome Systeme geben wird. Ich rechne damit, dass es für diese Innovationen durchaus einen Markt geben wird, denn Autofahren ist vielerorts wahrlich keine Freude mehr.
Bei Fahrzeugen, die dem Autofahrer das Fahren abnehmen, komme ich auf das Thema Freiheit. Wie viel Freiheit wird der Bürger einer modernen Großstadt überhaupt noch haben?
Den Begriff „Freiheit" finde ich besonders dann interessant, wenn ich im Stau stehe. Aber im Ernst: Ich rede hier nicht einer neuen Form von Kollektivierung das Wort. Aber die Frage muss erlaubt sein, wie „frei" ich bin, wenn ich auf meinem täglichen Weg zur Arbeit im Stau stehe. Würde es nicht vielmehr Freiheit bedeuten, wenn ich ein autonomes Fahrzeug hätte, in dem ich - trotz Verkehrsstau - meine „Freizeit" sinnvoll nutzen kann. Aber das ist natürlich nur eine Antwort auf Ihre Frage. Über die Freiheit des Menschen in der modernen Großstadt können wir lange philosophieren. Bereits in Fritz Langs Film „Metropolis" (1927) wurden diese Fragen aufgeworfen.
Die Stadt polarisiert.
Und sie kitzelt die Gegensätze heraus, denn Städte sind auch Orte der Widersprüche. Die richtig Erfolgreichen sind in der Stadt erfolgreich und die richtig Erfolglosen sind in der Stadt erfolglos. Weil dies so ist, haben wir eine Fülle von Kompensationsmechanismen, damit wir ausgleichen wirken können. Angesichts des technischen Fortschritts werden wir immer mehr Energie darauf verwenden müssen, das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Schere im Zaun zu halten. Wir dürfen nicht soweit kommen, dass wir - überspitzt formuliert - eine Schicht von Menschen haben, die über alle technischen Facilities verfügt, während die anderen mittel- und chancenlos im Keller sitzen.
Man muss wahrlich kein Kulturpessimist sein, wenn man sich Gedanken über die Anonymität, die Vermassung und Verelendung von Menschen in Großstädten macht. Auch der Anstieg von Kriminalität und die Existenz unkontrollierbarer Stadtviertel sind kein Science-Fiction.
Es gibt auch Gegenbeispiele, wenn Sie beispielsweise an New York denken. Nachdem dort „Null Toleranz" propagiert wird, hat sich die Situation deutlich verbessert. Natürlich produziert jede Gesellschaftsform und demzufolge auch jede Stadtgesellschaft Verlierer. Aber indem Probleme virulent werden, vertraue ich auf unsere Zivilgesellschaft, dass sie Wege findet, wie sie aus diesen Situationen wieder gestärkt herauskommt. Denken Sie an die Fortschritte in der Medizin. Der medizinische Fortschritt ist, sagt man, gepflastert mit den Kreuzen der Opfer derer, die während dieses Fortschritts gestorben sind. Ich vertraue deshalb darauf, dass unser Leben mit all seinen Konflikten und Widersprüchen immer produktive Potentiale zutage fördern wird. Mein Lieblingszitat stammt von Friedrich Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!"
Viele Zukunftsszenarien geben ohnehin Grund zur Freude und Neugierde. So werden neue urbane Lebensformen möglich sein, die vom einem besonderen Mix aus Ökologiebewusstsein und neuen Wohnformen geprägt sind.
Das sind überaus positive Entwicklungen. Und das Schöne an diesen Entwicklungen ist, dass sie sozusagen „trotzdem“ in einer Zeit entstehen, die durch einen enormen ökonomischen Druck geprägt ist. Diese Beispiele sind ganz im Sinne Hölderlins und führen dazu, dass ich optimistisch bleibe.
Auch Co-Housing, also das Zusammenleben verschiedener Menschen und das gemeinsame Erledigen von Alltagsdingen, kommt in Mode. Bei Studenten nennt man so etwas Wohngemeinschaft (WG).
Ich begrüße diese Form der Experimente. Schließlich haben unterschiedliche Generationen auch unterschiedliche Möglichkeiten. Insofern hat diese Konstellation aus Alt und Jung durchaus etwas von einer Win-win-Situation.
Wenn wir über die Stadt der Zukunft sprechen, darf das Thema Arbeit nicht fehlen. Was halten Sie von modernen Arbeitsplatzkonzepten wie Co-Working? Im Düsseldorfer „Gewächs-Haus" kann man beispielsweise bereits für 1 Tag einen Arbeitsplatz mieten.
Wir sprachen bereits über „Industrie 4.0". Vielleicht müssen wir auch über das Thema „Arbeit 4.0" nachdenken. Die Arbeit der Zukunft wird sich zunehmend verändern, sie wird flexibler und sie wird dezentralisierter. Insofern ist auch Co-Working insbesondere für junge und kreative Menschen ein spannendes Konzept. Natürlich stößt dieses System der Arbeitsplatzteilung an Grenzen, weil sich nicht alle Arbeitsplätze teilen lassen. Auch hier sind Experimente notwendig, um die richtige Balance zu finden.
Auch der stationäre Einzelhandel prägt das Gesicht einer Großstadt. Wohin wird die Reise gehen? Wird es beispielsweise nur noch temporäre Pop-up-Stores geben?
Bei dieser Frage passe ich ausnahmsweise. Ich halte die Entwicklung im Handel für überaus spannend und gleichzeitig für völlig offen. Auch hier bietet sich an, dass die Marktteilnehmer in Form eines Experimentierlabors ausprobieren werden, wie sich der innerstädtische Handel der Zukunft aussehen könnte.
Etwas länger als Pop-up-Stores gibt es in angesagten Großstädten spezielle Veranstaltungsformen in der Gastronomie („pret a diner") sowie Ausstellungen und Kulturveranstaltungen, die bewusst auf feste Räumlichkeiten verzichten und ihre Zelte heute hier und morgen dort aufschlagen. Gehört diesen mobilen Konzepten die Zukunft?
Ja, aber nur in engen Grenzen. Flexibilität in jeder Beziehung ist schön und gut. Aber letztendlich brauchen wir Menschen auch ein Stück weit Beheimatung. Wenn sich dauernd etwas ändert, ist man in der eigenen Stadt immer fremd. Ich ärgere mich schließlich schon, wenn mein Supermarkt alles umräumt und ich die von mir benötigten Waren suchen muss. Insofern wird es wahrscheinlich eine Koexistenz von sehr unterschiedlichen Veranstaltungsformen und -orten geben. Als Ausweis einer offenen Gesellschaft empfinde ich dieses Miteinander als sehr schön.
Kommen wir zu der Frage, wie groß das Interesse der Menschen an der Weiterentwicklung und Zukunftsfähigkeit ihrer Stadt tatsächlich ist. Frei nach dem Motto: „Stell Dir vor, Du kannst mitentscheiden. Und niemand macht mit."
Auch das ist eine Entscheidung. Wählen ist in Deutschland keine Pflicht und gleiches gilt für das Thema Mitgestaltung. Letztendlich wird es dann darauf hinauslaufen, dass derjenige, der nicht mitgestaltet, dann eben „gestaltet wird“. Dann werden sich andere Menschen um diesen Prozess kümmern, denn es wird immer gestaltungswillige Menschen in der Gesellschaft geben, vor allem die mit den eigenen Interessen. Wenn diejenigen, deren Interessen betroffen sind, sich nicht engagieren, dann werden diese Interessen von anderen Menschen gestaltet.
Wie optimistisch sind Sie, dass dieser vielschichtige Prozess gelingen wird? Schon bei der Revitalisierung kleiner Stadtquartiere und Immobilien-Standortgemeinschaften stoßen engagierte Bürger an ihre Grenzen.
Es gibt durchaus ein kritisches Potential von Menschen, die bereit sind, sich in diesen Prozessen zu engagieren. Die Bereitschaft, sich für die eigenen Belange zu engagieren, ist relativ hoch. Ich sehe eindeutig das Potential und den Wunsch vieler Menschen, diese Prozesse aktiv mitzugestalten. Es handelt sich schließlich nicht um Wutbürger sondern um Gestaltungsbürger!
Unser Gespräch drehte sich um die Städte der Zukunft. Und was, bitte, wird aus den verwaisten Gegenden in Deutschland, in denen sich schon jetzt Hund und Katz gute Nacht sagen?
Es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive man diese Frage betrachtet. Wahrscheinlich werden zukünftig noch mehr Menschen ihre ländliche Heimat verlassen und in die Städte drängen. Für diejenigen, die zuletzt das Licht ausmachen, ist das ein schmerzlicher Prozess. Den Verlust der Heimat steckt niemand leichtfertig weg. Und es gibt bei dieser Wanderungsbewegung natürlich auch eine Vielzahl von Verlierern. Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte ist das allerdings ein völlig normaler Prozess. Und natürlich - ich ahne, dass Sie danach fragen wollen - kann es sein, dass in ein paar Jahrzehnten die Menschen aus den völlig überfüllten Städten wieder zurück aufs Land ziehen und sich diese Flächen wieder aneignen werden. Aber - wie eingangs unseres Gespräches bereits erwähnt: Unsere Zukunft steht noch nicht fest. Wir gestalten sie. Heute.
© Detlef Fleischer