Der Brandstift [1]
1976. Im zweiten Jahr in Deutschland, das unter den Russlanddeutschen liebevoll „Heimat“ genannt wird, war ich acht Jahre alt und hatte inzwischen fünf Mal einen Ortswechsel mitgemacht. Wir waren gerade aus Mannheim nach Köln gezogen. Mich erwartete mal wieder eine neue Schule, eine neue Klasse voll fremder Kinder, eine neue Klassenlehrerin. Angepasst an die Wechsel der turbulenten Vergangenheit machte ich mich ohne großes Aufhebens auf den Weg zur neuen Schule, um in die dritte Klasse zu gehen.

Als Erstklässlerin in sowjetischer Schuluniform
Die erste große Pause brannte sich in mein Gedächtnis ein. Ein hochgewachsener schlaksiger Junge kam mit einem kleinen, drahtigeren auf mich zu, während ich am Zaun gelehnt mein Butterbrot zu essen versuchte. „Warst du der Brandstifter?“ fragte der Große. Der kleinere der beiden grunzte vor Vergnügen „Keine Frage. Die war’s. Scheißausländer!“ Ich war perplex. „Brand“ und „Stift“ passten für mich so wenig zusammen wie „Feuer“ und „Füller“. Ich konnte mir keinen Reim auf den Vorwurf machen, mich deshalb also auch nicht verteidigen. Später klärte mich meine große Schwester darüber auf, dass nachts zuvor jemand einen Brand in der Nähe des Schulgeländes gelegt hatte. Das ganze Ausmaß der Anklage wurde mir bewusst und ich erschrak. Die Ausländerfeindlichkeit irritierte mich kaum noch. Ich kannte sie bereits aus Russland, die man mir dort mit „Faschistenkind“ entgegengebracht hatte. Nur war ich der hier auch sprachlich nicht gewachsen.
Ich lernte, die großen Pausen fürchten, da man im Gegensatz zu den kleinen gezwungen war, die Geborgenheit des Klassenraums mit der Klassenlehrerin darin zu verlassen. Niemand außer mir blieb die fünf Minuten der kleinen Pausen freiwillig mit Frau Dreier in einem Raum sitzen. Sie gehörte zu der älteren Garde und führte die Klasse mit Autorität, Strenge und Disziplin. Das kam mir sehr entgegen. Nach der Orientierungslosigkeit der antiautoritär geführten zweiten Klasse in Mannheim fand ich bei Frau Dreier nun die mir aus der ersten Klasse in Russland bekannte klare Struktur wieder.
Sie sprach auch hin und wieder ein Lob aus. Ganz anders als Ljubovj Petrowna, die Tyrannin meiner russischen Kindheit, war Frau Dreier auch sehr aufmerksam für Besonderheiten. So richtete sie eines Tages in einer der kleinen Pausen ihre Aufmerksamkeit auf mein Frühstück.
Die Existenz von Wurst- und Käseaufstrich, Wurstaufschnitt und Käse-Scheiben sowie vorgeschnittenen Brotscheiben in Norm-Dicke entzog sich unserer Kenntnis. Entsprechend sah mein selbstgebasteltes Butterbrot so aus: Eine drei Zentimeter dicke, krumm geschnittene Brotscheibe, darauf eine 5 mm dicke Schicht Butter, darauf ordentlich Marmelade oder Honig, darauf eine drei Zentimeter dicke, krumm geschnittene Brotscheibe zum Abdecken. Das Ganze verpackte ich in Ermangelung von Butterbrotpapier einfach in Servietten, die gerade griffbereit waren. An jenem Tag, als Frau Dreier auf mein Frühstück aufmerksam wurde, waren es vorweihnachtliche grüne Servietten.
Ich saß mitten im Klassenraum und spürte schon beim Essen, dass sie mich beobachtete. Und wie das so ist, wird man ja immer auffälliger je mehr man sich um das Gegenteil bemüht. Im Umgang mit den unhandlichsten Butterbroten der Welt hatte ich ein besonderes Geschick entwickelt. Aber nun troff die Marmelade aus dem wulstigen Brot auf die akkurat ausgebreitete Serviette, die bereits in ihrer Schutzfunktion als Hülle versagt hatte und fleckig geworden war. Beim Versuch, den nächsten Tropfen aufzufangen, flutschte von der anderen Brotseite ein weiterer Klecks, diesmal auf den Tisch. Da, eine weitere Entgleisung, diesmal auf meinen Handrücken und wegen meiner ausholenden Auffangbewegung weiter aufs Schulmäppchen.
Die Schulklingel läutete den Unterrichtsbeginn ein. Pünktlicher als die Feuerwehr betraten meine gedrillten Mitschüler den Klassenraum und saßen innerhalb von Sekunden auf ihren Plätzen. Absolute Stille. Frau Dreier, die gute, räusperte sich und stimmte ein Loblied auf meine zivilisierte Brotpause an „Seht doch mal, wie hübsch unsere Natascha sich ihr Frühstück angerichtet hat.“ Aller Augen waren fassungslos auf mich und das Desaster vor mir gerichtet. Ich war erstarrt und rot wie die Marmelade, die überall klebte. Frau Dreier war offensichtlich kurzsichtig, sie meinte es wirklich gut: „Das könnt ihr euch mal alle gemeinsam von ihr abgucken.“
Von da an mochte ich nur noch den Unterricht.
Dank der Mühen meiner Mutter hatte ich in Mannheim das Jahr zuvor sehr gut Deutsch gelernt. Zunächst mal hatte sie mit Entsetzen festgestellt, dass uns Deutsch in der Schule überhaupt nicht beigebracht wurde. Im Deutschunterricht wurden Buchstaben und Bilder gemalt. Tatsächlich kann ich in meiner Erinnerung weder eine räumliche noch eine inhaltliche Trennung zwischen Schule und dem nachmittäglichen Bastelklub in Mannheim ausmachen. Die weit größere Mühe hatte es meine Mutter gekostet, mir nach der Arbeit Deutsch mithilfe eines Lehrbuchs beizubringen. Ich mochte die Sprache und lernte viel. Nichts aber über Brandstiftung.
Frau Dreier ließ uns regelmäßig Diktate und Aufsätze schreiben. Die beiden Jungs, die mich an meinem ersten Tag der Brandstiftung beschuldigt hatten, waren nach wie vor meine größten Feinde und nervten mich, wann immer sie konnten. Sie waren die Anführer in der Klasse und jeder buckelte vor ihnen, sodass ich ohne Freunde auskommen musste. Als sie nach kurzer Zeit darauf bestanden, meine Sitznachbarn zu sein, dachte ich, sie wollten ihre Gemeinheiten auch noch auf den Unterricht ausweiten. Aber Überraschung! Sie ließen mich in Ruhe. Dann kam das nächste Diktat. Die Dreistigkeit, mit der die beiden Frau Dreiers Autorität unterliefen und sich mein Heft zum Abschreiben zurechtrückten, mal nach links zu dem einen, mal nach rechts zu dem anderen, hätte mich fast beeindruckt. Aber ich war so damit beschäftigt die durch das Pendeln meines Heftes verlorene Zeit aufzuholen, dass ich einfach nur froh war, am Ende alles mitgeschrieben zu haben. Ich fühlte mich nicht ausgenutzt oder als Opfer. Auch hatte ich nicht das Bedürfnis, mich über den Klau meiner Leistung zu ärgern. Etwas viel Profaneres machte mich glücklich. Ich hatte etwas, was sie nicht hatten, etwas, das sie nur kopieren konnten. Und sie brauchten mich.
Dann kam der Tag der Rückgabe. Frau Dreier verteilte die ausgewerteten Diktate während sie kleine Vorträge zu den Resultaten hielt. Alle bekamen ihr Heft zurück. Nur ich nicht.
Meins hielt sie freudestrahlend vor sich „So, meine Lieben. Vollkommen fehlerfrei war das Diktat von (Kunstpause) unserer Ausländerin Natascha. Die schönste Handschrift hatte … unsere Ausländerin Natascha. Und die beste Note hat … unsere Ausländerin Natascha“. Meine Mutter hatte mir eingetrichtert, ich sei keine Ausländerin, das könne man auch meinem Pass entnehmen. Aber was konnte ein amtliches Dokument gegen diese Wortgewalt ausrichten. Ich fand mich in diesem Moment erst mal damit ab, Ausländerin zu sein. Eine Ausländerin, die gute Diktate schreiben konnte. Selbst wenn sie noch nicht den Sinn hinter jedem Wort kannte.
Auch meine Sitznachbarn hatten ihre Einsen, wenn auch mit Minus dahinter, bekommen. Sie vermieden jeden Blickkontakt mit unserer Klassenlehrerin. Umso eifriger suchten sie meinen. Geifernd zeigten sie auf ihre Ergebnisse und lachten schadenfroh.
Wo war der Schaden auf meiner Seite? Worin genau begründete sich ihre Freude? Worauf basierte ihr Stolz? Meine Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Häme verwirrte sie und, weil sie in mir kein Opfer finden konnten, ließen sie mich endlich und für immer in Ruhe.
Brand gelöscht.
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Als Erstklässlerin in sowjetischer Schuluniform
Die erste große Pause brannte sich in mein Gedächtnis ein. Ein hochgewachsener schlaksiger Junge kam mit einem kleinen, drahtigeren auf mich zu, während ich am Zaun gelehnt mein Butterbrot zu essen versuchte. „Warst du der Brandstifter?“ fragte der Große. Der kleinere der beiden grunzte vor Vergnügen „Keine Frage. Die war’s. Scheißausländer!“ Ich war perplex. „Brand“ und „Stift“ passten für mich so wenig zusammen wie „Feuer“ und „Füller“. Ich konnte mir keinen Reim auf den Vorwurf machen, mich deshalb also auch nicht verteidigen. Später klärte mich meine große Schwester darüber auf, dass nachts zuvor jemand einen Brand in der Nähe des Schulgeländes gelegt hatte. Das ganze Ausmaß der Anklage wurde mir bewusst und ich erschrak. Die Ausländerfeindlichkeit irritierte mich kaum noch. Ich kannte sie bereits aus Russland, die man mir dort mit „Faschistenkind“ entgegengebracht hatte. Nur war ich der hier auch sprachlich nicht gewachsen.
Ich lernte, die großen Pausen fürchten, da man im Gegensatz zu den kleinen gezwungen war, die Geborgenheit des Klassenraums mit der Klassenlehrerin darin zu verlassen. Niemand außer mir blieb die fünf Minuten der kleinen Pausen freiwillig mit Frau Dreier in einem Raum sitzen. Sie gehörte zu der älteren Garde und führte die Klasse mit Autorität, Strenge und Disziplin. Das kam mir sehr entgegen. Nach der Orientierungslosigkeit der antiautoritär geführten zweiten Klasse in Mannheim fand ich bei Frau Dreier nun die mir aus der ersten Klasse in Russland bekannte klare Struktur wieder.
Sie sprach auch hin und wieder ein Lob aus. Ganz anders als Ljubovj Petrowna, die Tyrannin meiner russischen Kindheit, war Frau Dreier auch sehr aufmerksam für Besonderheiten. So richtete sie eines Tages in einer der kleinen Pausen ihre Aufmerksamkeit auf mein Frühstück.
Die Existenz von Wurst- und Käseaufstrich, Wurstaufschnitt und Käse-Scheiben sowie vorgeschnittenen Brotscheiben in Norm-Dicke entzog sich unserer Kenntnis. Entsprechend sah mein selbstgebasteltes Butterbrot so aus: Eine drei Zentimeter dicke, krumm geschnittene Brotscheibe, darauf eine 5 mm dicke Schicht Butter, darauf ordentlich Marmelade oder Honig, darauf eine drei Zentimeter dicke, krumm geschnittene Brotscheibe zum Abdecken. Das Ganze verpackte ich in Ermangelung von Butterbrotpapier einfach in Servietten, die gerade griffbereit waren. An jenem Tag, als Frau Dreier auf mein Frühstück aufmerksam wurde, waren es vorweihnachtliche grüne Servietten.
Ich saß mitten im Klassenraum und spürte schon beim Essen, dass sie mich beobachtete. Und wie das so ist, wird man ja immer auffälliger je mehr man sich um das Gegenteil bemüht. Im Umgang mit den unhandlichsten Butterbroten der Welt hatte ich ein besonderes Geschick entwickelt. Aber nun troff die Marmelade aus dem wulstigen Brot auf die akkurat ausgebreitete Serviette, die bereits in ihrer Schutzfunktion als Hülle versagt hatte und fleckig geworden war. Beim Versuch, den nächsten Tropfen aufzufangen, flutschte von der anderen Brotseite ein weiterer Klecks, diesmal auf den Tisch. Da, eine weitere Entgleisung, diesmal auf meinen Handrücken und wegen meiner ausholenden Auffangbewegung weiter aufs Schulmäppchen.
Die Schulklingel läutete den Unterrichtsbeginn ein. Pünktlicher als die Feuerwehr betraten meine gedrillten Mitschüler den Klassenraum und saßen innerhalb von Sekunden auf ihren Plätzen. Absolute Stille. Frau Dreier, die gute, räusperte sich und stimmte ein Loblied auf meine zivilisierte Brotpause an „Seht doch mal, wie hübsch unsere Natascha sich ihr Frühstück angerichtet hat.“ Aller Augen waren fassungslos auf mich und das Desaster vor mir gerichtet. Ich war erstarrt und rot wie die Marmelade, die überall klebte. Frau Dreier war offensichtlich kurzsichtig, sie meinte es wirklich gut: „Das könnt ihr euch mal alle gemeinsam von ihr abgucken.“
Von da an mochte ich nur noch den Unterricht.
Dank der Mühen meiner Mutter hatte ich in Mannheim das Jahr zuvor sehr gut Deutsch gelernt. Zunächst mal hatte sie mit Entsetzen festgestellt, dass uns Deutsch in der Schule überhaupt nicht beigebracht wurde. Im Deutschunterricht wurden Buchstaben und Bilder gemalt. Tatsächlich kann ich in meiner Erinnerung weder eine räumliche noch eine inhaltliche Trennung zwischen Schule und dem nachmittäglichen Bastelklub in Mannheim ausmachen. Die weit größere Mühe hatte es meine Mutter gekostet, mir nach der Arbeit Deutsch mithilfe eines Lehrbuchs beizubringen. Ich mochte die Sprache und lernte viel. Nichts aber über Brandstiftung.
Frau Dreier ließ uns regelmäßig Diktate und Aufsätze schreiben. Die beiden Jungs, die mich an meinem ersten Tag der Brandstiftung beschuldigt hatten, waren nach wie vor meine größten Feinde und nervten mich, wann immer sie konnten. Sie waren die Anführer in der Klasse und jeder buckelte vor ihnen, sodass ich ohne Freunde auskommen musste. Als sie nach kurzer Zeit darauf bestanden, meine Sitznachbarn zu sein, dachte ich, sie wollten ihre Gemeinheiten auch noch auf den Unterricht ausweiten. Aber Überraschung! Sie ließen mich in Ruhe. Dann kam das nächste Diktat. Die Dreistigkeit, mit der die beiden Frau Dreiers Autorität unterliefen und sich mein Heft zum Abschreiben zurechtrückten, mal nach links zu dem einen, mal nach rechts zu dem anderen, hätte mich fast beeindruckt. Aber ich war so damit beschäftigt die durch das Pendeln meines Heftes verlorene Zeit aufzuholen, dass ich einfach nur froh war, am Ende alles mitgeschrieben zu haben. Ich fühlte mich nicht ausgenutzt oder als Opfer. Auch hatte ich nicht das Bedürfnis, mich über den Klau meiner Leistung zu ärgern. Etwas viel Profaneres machte mich glücklich. Ich hatte etwas, was sie nicht hatten, etwas, das sie nur kopieren konnten. Und sie brauchten mich.
Dann kam der Tag der Rückgabe. Frau Dreier verteilte die ausgewerteten Diktate während sie kleine Vorträge zu den Resultaten hielt. Alle bekamen ihr Heft zurück. Nur ich nicht.
Meins hielt sie freudestrahlend vor sich „So, meine Lieben. Vollkommen fehlerfrei war das Diktat von (Kunstpause) unserer Ausländerin Natascha. Die schönste Handschrift hatte … unsere Ausländerin Natascha. Und die beste Note hat … unsere Ausländerin Natascha“. Meine Mutter hatte mir eingetrichtert, ich sei keine Ausländerin, das könne man auch meinem Pass entnehmen. Aber was konnte ein amtliches Dokument gegen diese Wortgewalt ausrichten. Ich fand mich in diesem Moment erst mal damit ab, Ausländerin zu sein. Eine Ausländerin, die gute Diktate schreiben konnte. Selbst wenn sie noch nicht den Sinn hinter jedem Wort kannte.
Auch meine Sitznachbarn hatten ihre Einsen, wenn auch mit Minus dahinter, bekommen. Sie vermieden jeden Blickkontakt mit unserer Klassenlehrerin. Umso eifriger suchten sie meinen. Geifernd zeigten sie auf ihre Ergebnisse und lachten schadenfroh.
Wo war der Schaden auf meiner Seite? Worin genau begründete sich ihre Freude? Worauf basierte ihr Stolz? Meine Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Häme verwirrte sie und, weil sie in mir kein Opfer finden konnten, ließen sie mich endlich und für immer in Ruhe.
Brand gelöscht.
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