Adolf Stock

Journalist, Autor und Medienberatung, Berlin

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Feature

Einmal noch Hohenlychen. Sophie Ruiz Pipo erinnert Orte ihrer Kindheit

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Hohenlychen ist ein vergessener Ort. 100 Kilometer nördlich von Berlin wurde Anfang des letzten Jahrhunderts ein Sanatorium für Tuberkulosepatienten gegründet. Hier war in den zwanziger Jahren Sophies Vater Chefarzt, bis die Familie nach Neubrandenburg zog und später nach Berlin. Aus dem kleinen Davos wurde im Dritten Reich ein SS-Krankenhaus und die erste Adresse für die Nazi-Prominenz. Und von hier aus wurden die medizinischen Versuche mit Patienten aus dem Konzentrationslager Ravensbrück organisiert. Nach Kriegsende wurde Hohenlychen sowjetisches Lazarett.

Erst in der Schule hat Sophie erfahren, dass ihr Vater Jude ist. Für die Familie begann eine lange Odyssee, Sophies Mutter schützte ihren Mann in der Berliner Rosenstraße vor der Deportation, während Sophie mit französischen Zwangsarbeitern in einem Rüstungsbetrieb arbeiten musste. In den 50er Jahren ist Sophie nach Paris, in die Stadt ihrer Sehnsucht gezogen, wo sie den Maler Ruiz-Pipo geheiratet hat. Nach der Wende hat Sophie noch einmal Hohenlychen besucht und sich an ihre eigene und die monströse NS-Geschichte erinnert.

Einmal noch Hohenlychen
Sophie Ruiz-Pipo erinnert sich an die Nazi-Zeit

Take 1: (Sophie Ruiz-Pipo/ Horst Benedix)
„Daran kann ich mich nicht entsinnen. Nein, also das weiß ich nicht, aber meine Großmutter hatte, glaube ich, das mittlere Zimmer da. Das weiß ich nicht, aber die Treppe und die Küche, da werde ich Bescheid wissen. - Hier geht es noch ein Stück hoch. - Ja, gehen wir rauf. Aber natürlich hatten wir ein Dienstmädchen. - Wahrscheinlich hat die hier oben gewohnt. - Ach, nein auf dem Boden haben wir die nicht leben lassen. - Ach, hier sind kleine Zimmer, die Spitzzimmer. Das ist bestimmt so etwas gewesen fürs Personal und so. - Wunderbar, das sind ja lauter Räume, ja also das weiß ich nun nicht mehr. Tolles Haus, so viel Platz. Aber wie gesagt, das gehörte den Heilstätten. Das gehörte den Heilstätten zu.“

Erzähler:
Ein schöner Sommertag 1993. Sophie Ruiz-Pipo Gottschalk war aus Paris gekommen, und wir sind gemeinsam nach Lychen gefahren. In eine kleine Stadt in der Uckermark, knapp zwei Autostunden nördlich von Berlin. Zum ersten Mal seit fast 60 Jahren sah Sophie das Haus wieder. Die geräumige Gründerzeitvilla stand leer. Sie gehörte zu den Heilstätten Hohenlychen, einer Lungenheilanstalt, die im Nationalsozialismus SS-Krankenhaus wurde und danach Lazarett der Sowjet-Armee. Sophies Vater war Oberarzt, als sie 1926 hier geboren wurde.

Sprecher:
Einmal noch Hohenlychen.
Sophie Ruiz Pipo erinnert sich an die Nazi-Zeit
Ein Feature von Adolf Stock

Erzähler:
Plötzlich standen die frühen Kindertage wieder vor Sophie. Horst Benedix hatte den Schlüssel für das umzäunte Gelände und führte uns über das verlassene Areal. Vor der Wende war Horst Benedix beim Rat der Stadt Lychen beschäftigt. Im Sommer als Schwimmmeister im Freibad und in der kalten Jahreszeit im örtlichen Stadtarchiv, was seinem Interesse für Lokalgeschichte entgegenkam. Er erzählte uns von der Vergangenheit, vom glanzvollen Beginn der Heilstätten und dem Ende mit Schrecken.
Eben erst, in diesem Jahr 1993, war die sowjetische Armee abgezogen. Seitdem ist Hohenlychen eine Immobilie im Wartestand, seitdem macht sich Horst Benedix ernsthaft Sorgen.

Take 2: (Horst Benedix)
„Man weiß nicht was draus wird. Wir hoffen und wir wünschen, wir Lychener wünschen uns, dass es wieder ein Hospital wird. Soundso viel Leute kriegen dadurch Arbeit und Brot, denn wir haben sehr viel Arbeitslose hier, ja. Wenn die das jetzt aber untern Hammer hauen und verkaufen das einzeln, haben wir als Lychener Bürger nichts davon.“

Sprecher:
Anfang des letzten Jahrhunderts war Hohenlychen eine Heilstätte für lungenkranke Kinder. Zu einer Zeit, als es das Penicillin noch nicht gab und die Tuberkulose eine weit verbreitete Volksseuche war. 1902 hatte der Arzt Gotthold Pannwitz das Sanatorium als „Volksheilstätte vom Roten Kreuz“ gegründet.

Take 3: (Horst Benedix)
„Der Professor hat gesagt: Warum in die Schweiz, auch hier ist es schön, wir haben ein wunderschönes Land hier, viel Wasser, viel Wald, eine sehr gute Luft von Mai bis Oktober, und das können wir auch hier machen. Und das hat sich dann immer weiter entwickelt und ist immer größer geworden hier. Und 1914 dann war natürlich Ruhe, und nach 1918 hat man weiter gebaut und hat das vollendet, und diese Heilstätten in Hohenlychen waren das Modernste von Europa.“

Sprecher:
Mit Schweizer und schwedischem Geld wurden die Heilstätten errichtet, und auch das deutsche Kaiserhaus sorgte für finanzkräftige Mäzene, weil Hohenlychen beste Voraussetzungen für die Behandlung der Schwindsucht bot. In den ersten Jahren kamen jeden Sommer über 500 kleine Patienten. Später wurden auch Erwachsene behandelt, und bald reisten viele wohlhabende Bürger nach Lychen und in den höher gelegenen Ortsteil Hohenlychen, um sich zu erholen oder behandeln zu lassen. Während des Ersten Weltkriegs wurde die Einrichtung Lazarett, danach setzte sich die Erfolgsgeschichte der Lungenheilanstalt unvermindert fort.

Take 4: (Horst Benedix)
„Es ist so: 1924 hat man Gelder gebraucht und das Lychener Bürgertum, das waren Ackerbauern, die haben kein Geld gehabt, die Berliner Geschäftsleute und Juden, die haben das Lychen aufgebaut und haben das Lychen zum Fremdenverkehrsort gemacht. Die haben die Promenaden angelegt, die haben das Geld rein gebracht. Und die Berliner Straße, die wunderschönen Bürgerhäuser, das gehörte alles jüdischen Geschäftsleuten und Berliner Geschäftsleuten, die die hier investiert haben. Das waren ihre Sommerhäuser sozusagen.“

Take 5: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Ich weiß, dass aus Berlin immer ein Herr kam. Dieser Herr hatte sehr viel zu sagen. Der war im Vorstand irgendwie, und die Frau dieses Herren kam jedes Jahr hierhin, sozusagen eine Art Kuraufenthalt. Die hatte natürlich ein extra Zimmer und Nachmittags kam die dann oft hier in das Haus, denn meine Mutter musste solche Leute natürlich empfangen, und diese Frau habe ich lange gekannt. Die ist aber auch in einem Gasofen …“

Erzähler:
Sophies Vater hatte in Leipzig Medizin studiert, danach fuhr er zwei Jahre zur See. Als Schiffsarzt beim Norddeutschen Lloyd saß er am Tisch des Kapitäns, er war in der Welt herumgekommen.

Take 6: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Dann kam der Erste Weltkrieg, da wurde er Arzt an der russischen Front, hat sich zum Pflegen seiner Kranken immer russische Soldaten genommen, weil die sehr human und liebevoll mit Verwundeten umgingen. Jedenfalls hat er das immer gesagt. Und dann kam Hohenlychen.“

Erzähler:
Sven Klemckow ist heute Bürgermeister in Lychen. Er sitzt für die Linkspartei im Rathaus. Ein noch jugendlicher, lebhafter Mann, dessen Familie seit vielen Generationen am Ort wohnt. Auch Sven Klemckow interessiert sich für die Lokalgeschichte – die brachliegende Immobile in Hohenlychen erinnert ihn ständig an die große Vergangenheit und die ungewisse Zukunft der Heilstätten.Bei meinem Besuch im Januar 2007 holt er ein riesiges Personalbuch aus dem Schrank und packt es auf den großen Holztisch in seinem Arbeitszimmer. Hier wurden alle Mitarbeiter der Heilanstalt aufgelistet. Das Personalbuch ist eines der wenigen Dokumente, die aus Vorkriegstagen noch erhalten sind. Fast alle Unterlagen wurden vernichtet, als im Krieg das Stadtarchiv brannte.

Take 7: (Sven Klemckow)
„blättern - Also vor fünfundzwanzig, nicht. Neunzehn, ich habe mit zwanzig jetzt angefangen. Gottschalk. Ah, ja ja. Oberarzt, Erich. 30.07.1879 geboren, verheiratet, evangelisch, Arzt in Hohenlychen. Tag des Eintritts 15.07.1920. Klasse, nicht?“

Erzähler:
Erich Gottschalk hat seine spätere Frau in Hohenlychen kennen gelernt. Sie war Schülerin der „Augusta Helferinnenschule“, die höhere Töchter in halbjährigen Kursen auf Kinderpflege und Haushaltsführung vorbereitet oder zu Krankenschwester ausgebildet wurden.

Take 8: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Meine Mutter war aus einer sehr gutbürgerlichen Familie, aus dem Grunewald in Berlin. Das war damals eine Gegend, wo nur, eigentlich nur reiche Leute wohnten, und der Vater meiner Mutter hatte den Töchtern verboten, einen Beruf zu ergreifen. Sie durften es nicht einmal lernen, so etwas gehörte sich nicht in den Kreisen, und sobald mein Großvater gestorben war, hat meine Mutter einen Beruf erlernen wollen. Nun war ihre Tante hier Oberin in den Heilstätten und kannte meinen Vater. Und die hat gesagt zu ihrer Nichte, komm doch hierher und werde Schwester, und so haben sich meine Eltern hier kennen gelernt. So ist die Geschichte. Meine Eltern haben spät geheiratet. Also die waren beide nicht sehr jung, vor allen Dingen mein Vater, damals war das nichts, wenn ein Mann 17 Jahre älter war oder so, die Hochzeit, das war 1924.“

Erzähler:
Damals also sind die Gottschalks in die Gründerzeitvilla auf dem Gelände der Heilstätten gezogen, in das Haus, das Sophie 1993 wieder entdeckte.

Take 9: (Sophie Ruiz-Pipo/ Horst Benedix)
„Doch, hier konnte man sitzen. Und wenn Du nach Paris kommst, zeig ich Dir Fotos, die sind aber ziemlich vergilbt, die sind hier aufgenommen worden, aber in einem nicht so guten Zustand wie das, was ich da gab, das, äh. Ich muss nachher Bilder machen für meinen Bruder. Gut dass ich das Weitwinkelobjektiv genommen habe. Obgleich, für den ist das nicht so …“

Erzähler:
Paris. Avenue des Gobelins. Am Ende der Straße, gleich dort vorn an dem kleinen Platz, beginnt die Rue Mouffetard mit dem berühmten Wochenmarkt. Auf dem Weg zu Sophies Wohnung kommt man an der Boulangerie vorbei, wo das ganze Viertel auch bei Wind und Regen Schlange steht, um Baguette oder Tarte zu kaufen. Seit den frühen fünfziger Jahren wohnt Sophie in Paris. Viele Jahre hat sie als staatlich anerkannter Guide Touristen durch die Stadt geführt.

Take 10: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Ich wollte nur nach Paris, was anderes existierte nicht. Es ist ein furcht¬barer Ausdruck Wahlheimat, denn Heimat schon mal. Das klingt so, als ob man alles verzeiht, weil es die Heimat ist oder so. Das Wort Heimat. Also Touristen, die haben einmal gesagt: Was hat Sie denn hierher verschlagen? Da hab ich gesagt, ich habe mich selber hierher geschlagen, und dann habe ich gehört ‚Siegreich wollen wir Frankreich schlagen’, in meinem Kopf, diese Sachen, die man damals gesungen hat. Die Leute denken ja auch meistens, ich hätte irgendwo in Berlin oder so jemanden kennen gelernt und ich wäre hier jemand gefolgt oder nachgefahren oder so, das ist ja nicht der Fall.“

Erzähler:
An klaren Tagen sieht Sophie von ihrem Fenster aus den Eifelturm am anderen Ende der Stadt über das Häusermeer ragen. Abends, zu jeder vollen Stunde, blinkt und glitzert er wie eine dicke Wunderkerze. Paris, Stadt der Lichter, Stadt der Sehnsucht: Montparnasse, die Metro, der Louvre, die Museen, die Theater und die Konzerte.

Take 11: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Na also das Amadeus Quartett, das waren für mich, auch bevor ich je mit denen gesprochen hatte, hier im Theater de la Ville, als wären das Menschen, die zu mir gehören, oder Freunde oder so was.“ („Das Emotionelle, ja das ist manchmal dazugekommen, natürlich, aber vielleicht nicht in der Art wie Du jetzt meinst. Ach, da kann ich Dir Geschichten erzählen, da habe ich mich so aufgeregt, dass ich hohes Fieber bekam, weil ich irgendwo nicht hin konnte.“ Eventuell kürzen.)

Take 12: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Meine Stellung zur Kunst und was mir die Kunst gibt, die Einstellung zur Kunst oder das, was ich darin sehe, das sage ich mir immer, das verdanke ich meinem Vater. Und das ist für mich so irrsinnig wichtig. Und mit der Musik auch, er wollte doch Musiker werden, der wollte nicht Arzt werden, erst als er erkannt hat, dass er nicht ein ganz Großer wird, ist er dann Arzt geworden. Die Musik war alles, alles, alles. Wie Ballett für mich, war Musik für ihn. Es hat Leute gegeben, die haben noch zu meiner Mutter gesagt, spielt der Doktor noch? Also das war vor allen Dingen Kammermusik.“

Take 13: (Sophie Ruiz-Pipo)
„ Die Treppe wird ja nicht zusammenbrechen. - Ach wo. - Dann nach links. - Na ja bitte. In der Ecke habe ich mir diese Narbe geholt, die stets mit mir gewachsen ist. Und aus diesem Grunde kann ich mir auch nicht die Zukunft sagen lassen, denn die Narbe geht ja so über meine Hand. So, der Ofen stand aber da. Wahrscheinlich hat das Badezimmer mich aber doch so markiert, mit dem Schmerz, dass ich da genau Bescheid wusste, aber mit dem andern. Und unten, wo diese Art kleine Loggia ist, es ist keine Loggia, nicht, es ist ein halber Balkon. Jetzt muss ich mal gucken. Das war das Badezimmer. Hier Badewanne, da der Badeofen. - Die haben da schon gut gearbeitet, nicht? Wenn man das so sieht, die Kacheln. - Ach ein Pfauenauge. - Ja das ist ein Pfauenauge. - Lebt der noch? Nein, ich nehme ihn aber nicht mit, so was mag ich nicht, das arme Tier, na ja.“

Erzähler:
Schön, sehen Sie nur, wie schön es hier ist, sagt Bürgermeister Sven Klemckow, als wir im Januar 2007 über das verlassene Gelände gehen, und er ein großes Vorhängeschloss aufschließt, damit wir das Gebäude der alten Chirurgie mit den gekachelten Operationssälen und den vielen Krankenzimmern betreten können.

Take 14: (Sven Klemckow)
„Ein Vorhängeschloss wird aufgeschlossen. Ich denke mal, wir gehen mal hoch, nach ganz oben, dass man mal eine Vorstellung hat. Und da kann man es auch am Besten überblicken. Alles. Treppenstufen.“

Sprecher:
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurde das Gelände in Hohenlychen im damals üblichen Bäderstil bebaut. Eine Areal, groß wie ein stattliches Dorf. Geräumige Villen und Verwaltungsgebäude, Sanatoriumsbauten mit Süd-Terrassen und feudalen Aufenthaltsräumen wurden in den uckermärkischen Sand gesetzt. Ein wahres Zauberberg-Ambiente. Die Heilstätten wurden zu einem kleinen Davos, inmitten einer vielfältigen Seenlandschaft mit struppigen Kiefernwäldern.

Take 15: (Sven Klemckow)
„Diesen Ausblick kann man nur von oben beschreiben. Treppenstufen. Wie gesagt, 94 oder 95 gab es, ja ich sag mal eine ABM-Maßnahme, da wurde alles entkernt. Heizung raus, Wasserleitungen raus. Und seitdem ist nichts mehr passiert. Treppenstufen.“

Erzähler:
Allein in der Chirurgie verrotten 4000 Quadratmeter Nutzfläche. Dabei gehört das Krankenhaus zu den kleineren Gebäuden auf dem Gelände.
Gibt es historisch kontaminierte Flächen? Gibt es Landstriche, die keiner mehr haben will, weil die moralische Altlast jede Zukunftsinvestition sabotiert? Hinter dem Drahtzaun beginnt eine versunkene Welt, das Gelände amtet schwer und nimmt sich eine unabsehbare Auszeit. Für Sophie ist Hohenlychen ein Ort der schönen Erinnerungen.

Take 16: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Und die Küche war ganz toll und das war alles, ich bin als Kind – hat man mir gesagt – nur barfuss gelaufen, und das war kalt im Winter, und nur, nur barfuss. Was hier war, weiß ich nicht, und da werde ich Dir Bilder zeigen, Heiligabend und so, und ich immer auf dem Bechstein-Flügel – nicht gespielt, sondern oben drauf rumgetanzt. So, jetzt mach mal ab, ich muss hier erst einmal schauen, das muss hier …“

Erzähler:
Im Sommer 1993 hatte Sophie auf dem Weg zu den Heilstätten zwei älteren Frauen angesprochen. Sie hielten Sophie für die Tochter von Karl Gebhardt. Es schien ihnen nichts auszumachen, die beiden Frauen waren arglos und freundlich, als sie den Namen des ehemaligen Chefarztes von Hohenlychen nannten. Sophie lies sich nichts anmerken: Gottschalk, berichtigte sie: Mein Vater hieß Erich Gottschalk, nicht Gebhardt.

Take 17: (Sven Klemckow)
„Blättern. Ich hätte ja auch gleich hinten gucken können, G wie Gebhardt. Ob der Chef selbst dort eingetragen ist, weiß ich nicht. Aber er müsste ja eigentlich eingetragen sein. Gebhardt, Karl. 124. So hier muss er irgendwo stehen. Karl Gebhardt, 23.11.1897 geboren, am 01.11.1933 als Chefarzt angefangen in Hohenlychen. Also, es findest sich alles.“

Sprecher:
Karl Gebhardt war bis 1945 Chefarzt in Hohenlychen. Er war ein Schüler Ferdinand Sauerbruchs. Der berühmte Chirurg hatte ein Verfahren entwickelt, das die operative Öffnung des Brustkorbs ermöglichte, ohne dass die Lungenflügel zusammenfielen. Sauerbruch hatte auch über Tuberkulose geforscht und sich mit modernen Prothesen vor allem für die Kriegsveteranen befasst. Sauerbruch förderte den Mediziner Karl Gebhard - dessen Beförderung zum SS-Gruppenführer unterstützte Heinrich Himmler. Gebhardt und Himmler waren Jugendfreunde, beide stammten aus dem bayrischen Landshut.

Gebhard kam – und sämtliche jüdischen Mitarbeiter der Heilstätten mussten gehen. Professor Eugen Kisch, der hier fast zwanzig Jahre Tuberkulosepatienten kuriert hatte, floh gleich nach dem Judenboykott aus Deutschland. Sein Kollege, der verdiente Sanitätsrat Doktor Koch, musste vorzeitig in den Ruhestand gehen.

Erzähler:
Sophies Vater hatte in jener Zeit schon eine eigene Klinik im benachbarten Neubrandenburg. Doch als konvertierter Jude durfte er bald keine Arier mehr behandeln. Um die Existenz seiner Familie zu sichern, plante Erich Gottschalk den Umzug nach Berlin. In der Hauptstadt gab es mehr jüdische Patienten, auf die er nun angewiesen war.

Take 18: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Meine Mutter hat es in Neubrandenburg auf der Straße erfahren. Sie ging auf der Straße irgendwo, und da hat die Dame oder Frau zu meiner Mutter gesagt. Es ist wirklich schade, dass sie weggehen. Und da hat meine Mutter gesagt: Ja, ich weiß auch nicht, warum mein Mann jetzt so unbedingt nach Berlin gehen will. Da hat die Frau gesagt: Na er muss, weil er Jude ist. So hat meine Mutter das erfahren. Ich könnte heulen, wenn ich denke, was das für meine Mutter gewesen sein muss, die so erzogen war im Grunewald doch und …“

Take 19: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Ich kann es so verstehen. Es tut mir so weh, was er im Grunde wahrscheinlich gelitten hat und Angst gehabt, wie das rauskommt. Kein bisschen nehme ich ihm das übel. Im Gegenteil. Es tut mir nur weh für ihn. Natürlich also, für meine Mutter, na ja also. Aber weißt Du, was ich geworden bin, wenn ich das so sagen darf, ohne irgendwie. Hör mal einen Augenblick auf, ich suche das Wort, ich such das Wort …“

Take 20: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Was meist Du, wie das in der Schule angefangen hat, wie ich nicht wusste, was ein Jude ist. In der Schule, das sehe ich vor mir wie ein Foto, da stehen wir in der Turnhalle. Und nun stand da die Turnlehrerin vor mir, und die sagt zu mir: Bist du arisch oder nicht arisch? Da hab ich mir gesagt, ich war sowieso so verschüchtert, ich wusste nämlich auch nicht, wo ich hingucken sollte, denn ich habe in Höhe dieses Busens, ich habe nur das gesehen. Da habe ich mir gesagt: Für evangelisch gibt es evangelisch und protestantisch, also wird es für katholisch, katholisch und arisch geben, und dann habe ich gesagt: Nein, nein, ich bin nicht katholisch, ich bin evangelisch. Und da ging das schon los hinter mir, ach sie schämt sich, sie will es nicht sagen: So habe ich das erfahren. Jedenfalls ich komme nach Hause wirklich völlig verstört. Am nächsten Tag in der Schule, kein Mensch in der Pause, sie sind alle von mir weg, ich habe immer in einer Ecke allein gestanden, dann haben sie mir an meinen Mantel so ein Schild gemacht, also, na ja, also mehrere Tage danach habe ich das meiner Mutter erzählt.“

Take 21: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Wie das anfing, dass es immer stärker wurde mit den Gesetzen und so, da durften Juden doch keinen Radioapparat mehr haben und so was. Ich glaube, der ist abgeholt worden, der Radioapparat. Und der Bruder von meiner Mutter, der ist mit Mami zur Polizei gegangen, in voller Uniform, Offizier, und hat gesagt, geben Sie sofort meiner Schwester den Radioapparat wieder zurück. Ich weiß nicht, ob er ihn dann getragen hat, ich weiß nicht mehr, und da haben sie auf der Polizei gesagt: Ja, aber wenn der Jude durchs Zimmer kommt, muss abgestellt werden.“

Sprecher:
Nach 1933 wurden die Heilstätten großzügig erweitert. Hohenlychen auf dem Weg zum Reichssportsanatorium! Ein kleines Stadion und sogar eine Bobbahn wurden in das Waldgelände gebaut. Später kamen noch ein Schwimmbad mit verschiebbarem Glasdach und eine Turnhalle hinzu, die auch als Kino- und Tanzsaal genutzt werden konnte. Berühmte Sportler und Filmstars besuchten Lychen: Rennfahrer Fritz Huschke von Hanstein oder Heinz Rühmann, und die gesamte NS-Politprominenz von Himmler bis Speer gab sich hier die Klinke in die Hand.

Take 22: (Sven Klemckow)
„Wie kriegt man die Prominenten von Berlin hierher? Wasserflugzeuge. Sieben Wasserflugzeug-Landeplätze hatten wir hier in Lychen. Da zeigt sich auch, welche Bedeutung Hohenlychen vor 1945 hatte, auch unter der Führung der Nazis. Wasserflugzeuge. Das Schnellste. Wannsee los, Zenssee runter und umgekehrt.“

Sprecher:
Während der NS-Zeit schickte die Volkswohlfahrt Mütter und Kinder in die Heilstätten zur Kur, und es gab Abteilungen für „Arbeitsschäden“ und für „Wiederherstellungschirurgie“: Der Reichsautobahnbau lieferte die ersten Unfallpatienten. Zwar wurde auch weiterhin Tuberkulose behandelt, doch der Schwerpunkt lag jetzt bei der Sportmedizin. Karl Gebhardt und seine Kollegen betreuten während der Olympiade 1936 die Athleten, und die Meniskus-Operationen in Hohenlychen hatten Weltniveau.

Take 23: (Sven Klemckow)
„Der Schwarze Jesse Owens gewinnt die Goldmedaille im 100-Meterlauf. Das kann nicht sein, aber am Meniskus wurde er hier operiert, bei der englischen Königin, also King George wurde hier am Meniskus operiert, vom japanischen Tenno der Schwager wurde hier am Meniskus operiert. Also es war schon ein bisschen Prominenz hier, wenn man so will, also Weltprominenz.“

Erzähler:
Welch glanzvolle Zeit. Was sich hinter den Kulissen abspielte, kam erst nach Kriegsende an die Öffentlichkeit. Die Ärzte aus Hohenlychen hatten im benachbarten Konzentrationslager Ravensbrück ganz ohne Skrupel experimentiert. Der Schreck sitzt Horst Benedix bis heute in den Knochen.

Take 24: (Horst Benedix)
„Man hat Versuche gemacht an Frauen und Kindern und hat Gliedmaße umgesetzt und Muskeln, man war ja in der ganzen Orthopädie noch nicht so weit, man hat ja gelernt da und hat da an Menschen ausprobiert und hat das weitergeführt und entwickelt.“

Sprecher:
Die Protokolle sprechen von grauenhaften Versuchsreihen. Wahllos wurden den Opfern Knochen und Körperteile transplantiert. Den Frauen von Ravensbrück schlitzte man die Waden auf und schob Holz und Glassplitter hinein, um an den so erzeugten Infektionen den Wundbrand zu erforschen. 1947 wurde Chefarzt Karl Gebhardt zum Tode verurteilt.

Der Chirurg Ludwig Stumpfegger, Assistenzarzt in Hohenlychen, später Begleitarzt von Hitler, soll er an der Tötung der Goebbels-Kinder im Führerbunker beteiligt gewesen sein. Im Mai 1945 nahm er sich das Leben.

Doktor Kurt Heißmeyer orderte zwanzig jüdische Kinder aus Auschwitz und infizierte sie mit Tuberkulose. Danach wurden ihnen die Lymphdrüsen heraus genommen. Um die Spuren zu verwischen, ließ er die Kinder im Keller einer Hamburger Schule erhängen. Nach dem Krieg praktizierte Kurt Heißmeier als Lungenfacharzt in Magdeburg. Erst 1964 wurde er gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Take 25: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Da war in Berlin eine Schneiderin, das war meine Schneiderin. Also das war wirklich tragisch. Sie war Jüdin und den Mann, den sie in Berlin kennen ¬lernte, der war nur – wie man das damals nannte – Mischling ersten Grades, also der wäre nicht deportiert worden, die haben aber geheiratet. Und aus Liebe zu seiner Frau ist er zur jüdischen Religion übergetreten, und sie sind beide deportiert worden, und sie ist zurückgekommen und er nicht. Und an ihr hatte man eben diese Operationen gemacht, die könnte nie ein Kind gebären. Sie ist sofort nach dem Krieg bei uns in Berlin erschienen, sah so völlig aufgedunsen aus, so etwas gibt es dann ja auch. Ich sehe sie noch vor mir, wie Sie beide, so sehe ich die Frau vor mir. Ich kannte die Eltern, ich weiß, sie wohnten in der Kantstraße, ich kenne das Haus noch. Alles.“

Erzähler:
Das Abitur wurde Sophie verwehrt, sie musste das Gymnasium verlassen und in eine Fabrik in Berlin-Kreuzberg gehen. Dort traf sie auf französische Zwangsarbeiter, die sie unterstützt und vorbehaltlos akzeptiert haben. Seitdem wusste sie, wo sie später einmal leben wollte. Paris! Es war jene Zeit, als Sophies Vater in Berliner Westen seine Praxis führte. Er hatte eine jüdische Kollegin, Lucie Adelsberger.

Take 26: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Und die wohnte in der Nürnberger Straße mit ihrer Mutter und ihrer Schwester. Was mich an ihr faszinierte, ich sagte immer, die spricht so anders. Mein Vater nannte sie die Adelsbergerin, und wenn das ging, also manchmal durfte ich mit, ich war elf, zwölf Jahre, und die Adelsbergerin ist nach Amerika gerufen worden, während der Nazi-Zeit, zu einem großen Kongress und so, und die haben ihr gesagt, sie dürfte auf keinen Fall nach Deutschland zurück. Sie hat gesagt, ich kann meine Mutter nicht im Stich lassen, sie ist meine alte Mutter.“

Sprecher:
Lucie Adelsberger wurde 1895 als Kaufmannstochter in Nürnberg geboren. Nach dem Medizinstudium arbeitete sie als Kinderärztin in Berlin und erwarb sich mit ihren Forschungen über allergische Reaktionen Anerkennung bei Fachkollegen. Die Nazis zwangen Lucie Adelsberger, die Wissenschaft aufzugeben, auch sie durfte nur noch Juden behandeln.

Take 27: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Jedenfalls, die Adelsbergerin hatte von einer Patientin eine Sofapuppe bekommen, und immer wenn ich kam, sagte ich: Darf ich die Puppe nehmen? Und mit der Puppe habe ich dann gespielt, und die Adelsbergerin hat dann gesagt: Ich kann sie Dir nicht schenken, wegen der Patientin, wenn die sieht, dass sie nicht mehr da ist und so. Und einmal bin ich zur Adelsbergerin noch gekommen, und da hat sie zu mir gesagt: Komm, sie hat mich umarmt und hat gesagt, jetzt darfst Du die Puppe nehmen. Jetzt könnt ich fasst heulen, das war nämlich dann, als sie wusste, dass sie weg kommt.“

Sprecher:
Sie hat Auschwitz überlebt. Mitte der fünfziger Jahre war „Lucie Adelsberger. Häftlingsnummer 45171“ einer der ersten Tatsachenberichte, die über ein Konzentrationslager erschienen sind. Lucie Adelsberger ist im Oktober 1971 in New York gestorben. Nie wieder hatte sie deutschen Boden betreten.

Erzähler:
Ihre Puppe hat in Sophies Leben dann noch einmal eine wichtige Rolle gespielt. Es war an einem Samstag des Jahres 1943, als Sophie von der Arbeit nach Hause kam.

Take 28: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Und ich komme an, und da steht ein Lastwagen vor unserem Haus, und da waren so ein paar Stufen rauf, und ich guck so und sehe meinen Vater und rufe: Papi! Und da kommt einer, es war Gestapo: Ist das die Tochter? Auch rauf! Und ich hatte schon einen Fuß auf der Treppe, da habe ich gesagt: Darf ich meine Puppe holen? Und da hat der Mann gesagt: Du spielst mit Puppen? Geh rauf und bleib bei der Puppe. Und das war die Rosenstraße. Jetzt ist mein Vater zur Rosenstraße abtransportiert, meine Mutter ist natürlich hin mit den anderen, mein Vater ist nach ein paar Tagen zurück, hat nie ein Wort darüber gesprochen, was da war.“

Sprecher:
Heute ist die Rosenstraße ein unscheinbarer Straßenstummel zwischen Plattenbauten und Parkplätzen in Berlin-Mitte. 1700 Juden mit nichtjüdischen Partnerinnen wurden damals in ein Sammellager gebracht. Doch die Nationalsozialisten trafen auf den erbitterten Widerstand der Ehefrauen, die tagelang demonstrierten, bis sie ihre Männer wieder frei bekamen.

Erzähler:
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, erlebte Lychen Familiendramen ganz anderer Art. Die Gegend war eine Hochburg der Nationalsozialisten gewesen. Viele Lychener arbeiteten in den Heilstätten, und einige verdienten ihr Brot auch im KZ-Ravensbrück. Die Bürger waren stolz auf die vielen prominenten Besucher, sie lebten auch gut von den wohlhabenden Kurgästen und Sommerfrischlern, erzählt Horst Benedix, der Archivar, der Mitte der sechziger Jahre nach Lychen kam..

Take 29: (Horst Benedix)
„Nach 45, wo der Russe hier rein kam, haben ja diese Leute auch Angst gehabt. Und viele Mütter hier, Frauen haben ihre Kinder hier in den Seen ersäuft. Und der Apotheker hier in Lychen, der hat noch Gift ausgegeben. Es sollen sich über 30 Leute umgebracht haben. Und die Russen hier, wo sie rein kamen, haben sechs Leute erschossen. Also eine ganz traurige Geschichte ist das Kapitel 45 gewesen. Die Frauen waren alleine, die Männer Offiziere oder bei der Wehrmacht noch oder in Gefangenschaft schon, die hatten Angst gekriegt, dass sie eben ihnen auch was zukommt, was sie anderen vielleicht erst angetan haben und haben dann ihre Kinder im Stadtsee und im Oberpfuhlsee ersäuft oder im Nesselpfuhlsee und konnten sich selber nicht umbringen, die leben heute noch. Es leben noch Frauen, wo die Kinder damals umgekommen sind. Wie diese Menschen doch ein Leben lang, die sind jetzt über 70, werden 80 Jahre, wie die mit diesen Problem fertig werden, das ist unwahrscheinlich, aber die Juden mussten ja auch fertig werden, wo sie vertrieben wurden 33, das war ja für die Juden hier auch kein Zuckerschlecken.“

Sprecher:
1945 zogen sowjetische Sanitätseinheiten in die Gebäude der ehemaligen Heilanstalt. Hohenlychen war zunächst Feldlazarett, und später nutzte die 2. Garde-Panzer-Armee die Gebäude und das Gelände. Hohenlychen wurde sowjetisches Militärkrankenhaus.

Take 30: (Horst Benedix)
„Wissen Sie, wo die Klinik russisches Hospital war, da hatten die, die OP-Wässer manchmal in den See geleitet, und wir mussten vom Rat der Stadt die Löcher wieder zumachen, haben die hier aufgemacht und das gepumpt und alles durchgespült. Und bei uns hier in Lychen kam auf einmal eine Ruhr auf, ja. Das war in den 70er Jahren, Ende der 70er Jahre und da waren so viele Leute krank, viele Leute krank, und wir haben das dann ja auf solche Sachen geschoben. Dann später haben die mal gemessen, da sagte mir einer, weil ich am Stand war, mein Wasser wurde ja auch gemessen, und da sagt er: Horst, dein See sieht ganz schlecht aus, rund ums Objekt rum, es wurde eben auch nicht so entsorgt, wie es sein sollte oder müsste.“

Erzähler:
Bei meinem Besuch in Paris mag Sophie nicht nur über Vergangenheit reden, sie will mir auch die Seerosenbilder zeigen. Vor dem Musée de l'Orangerie zwischen Louvre und Place de la Concorde spielt ein Straßenmusikant. Die seriellen Panoramabilder von Claude Monet sind vor einiger Zeit vom Keller ins Parterre gezogen. Bei Tageslicht sehen die berühmten Seerosen plötzlich nicht mehr so flächig sondern filigran und zerbrechlich aus.
Auf dem Heimweg gehen wir an der alten Gobelin-Manufaktur vorbei, die gegenüber von Sophies Wohnung liegt. Hier werden seit dem 17. Jahrhundert Wandteppiche geknüpft. Man sagt, dass ein Teppichweber in einem Jahr höchsten acht Quadratmeter Bildteppich schafft. Die Gobelins zeigen feudale Krönungsfeiern, Szenen aus dem höfischen Leben oder der Mythologie. Es gibt Einhörner und andere Fabelwesen. Oft hat Sophie mit Touristen vor solchen Tapisserien gestanden und von Frankreich und von Frankreichs Königen erzählt, deren Glanz und Tragik.

Take 31: (Sophie Ruiz-Pipo/ Horst Benedix)
„Guck mal die Hände, wie schön sie die da hält. Oder er, der Engel. Man müsste ja sagen ‚es’, das Engel, denn ein Engel hat kein Geschlecht. - Es ist eben schade, dass man eben kein Licht drin hat. Ich hab schon gesagt, sie sollen mal eine Lampe rein machen. - Gott, wahrhaftig. Nein, das weiß ich nicht. Ich bin der Herr, dein Gott, wahrhaftig und lebendig. Nicht? Und da steht kommt. Da ist das Omega am Ende. Guck mal da!“

Erzähler:
Die Helenenkapelle steht auf einem kleinen Hügel in Sichtweite der Heilstätten. Wände und Decken wurden mit Engeln und Triumphbögen ausgemalt. Reste davon gibt es sind bis heute.
Früher diente die Kapelle ökumenischen Gottesdiensten. Hier wurden 1924 Sophies Eltern protestantisch getraut, hier wurde Sophie getauft.

Take 32: (Sophie Ruiz-Pipo/ Horst Benedix)
„Kein Licht, müssen Sie aufpassen. Die Glocken sind noch oben, die machen sie immer mal an. Ich komm da leider nicht ran. Es ist alles zugenagelt und es ist kein Licht mehr hier drin. Schade. - Ist hier ein Loch? Die Gemälde sind wahrscheinlich schöner als die Fenster. Oder? Aber im Stil passt es zusammen. Das ist Jugendstil nicht? Guck mal das hier. Sieht für mich nach Jugendstil aus. Findest Du nicht? Mit dem Philactère, dem Spruchband.“

Sprecher:
Der Mediziner Heinrich Venn stiftete die Kapelle Anfang des letzten Jahrhunderts. Im Oktober 1904 wurde das Gotteshaus eingeweiht, zum Geburtstag der frommen Kaiserin, im Volkmund „Kirchenjuste“. Sie war Schirmherrin des Evangelisch-Kirchlichen-Hilfsvereins, der überall Kirchen stiftete, in Ostpreußen und Berlin, aber auch die Weihnachtskirche in Bethlehem und zwei Gotteshäuser in Jerusalem. Die Gattin Wilhelms II. förderte auch Hohenlychen und sorgte für finanzkräftige Mäzene. Sie war mit dem Roten Kreuz eng verbunden.

Erzähler:
1993 befand sich das Kirchlein in einem jämmerlichen Zustand, die sowjetische Streitmacht hatte aus der Kapelle ein Heizöllager gemacht, und im Kirchenschiff roch es noch immer wie an einer Tankstelle.
Im Januar 2007 stehe ich mit Bürgermeister Sven Klemckow wieder hier.

Take 33: (Sven Klemkow)
„Die drei Holzorgelpfeifen, die da sind, das ist der Rest. Auch die Tastatur, das haben die Russen kaputt geschossen. Die hatten Langeweile und mit einer Kalaschnikow da einmal rein gehalten. Da war alles hin. Aber wir wollen es nicht rausnehmen, wir wollen es drin lassen, man kann ja auch eine Elektroorgel da hinstellen und Musik machen. Also es ist schon was, hat auch ein bisschen was.“

Take 34: (Sven Klemckow)
„Oma hat bitterlich geweint, die sollte eigentlich, als die Kaiserin das erste Mal hier her kam, ein Gedicht aufsagen. Meine Oma ist aber die Tochter vom Schiffer gewesen und nicht bürgerlich. Also durfte sie es dann nicht machen. Bis zum Schluss hat sie das immer bedauert. Wir haben uns ja auch darüber unterhalten, was so alles passiert ist. Das prägt sich ja auch ein in Kinderköpfen. Ich durfte das Gedicht nicht sagen, nur weil meine Eltern Arbeiter waren und wir keine Bürgerlichen waren. So eine Sauerei. Da hat sie sich richtig aufgeregt drüber.“

Erzähler:
Das ist lange her. Die Oberschicht, der Finanz- und Politadel, hat in Lychen kein Zuhause mehr. Heute kümmert sich ein Förderverein um das kleine Gotteshaus. Er wurde 1999 gegründet. Sven Klemckow ist Gründungsmitglied, als Zweiter Vorsitzender hilft er, die Kapelle wieder instand zu setzen, damit sie für kulturelle Veranstaltungen genutzt werden kann. Neue bleiverglaste Fenster gibt es schon, doch viel bleibt zu tun. Und das Schicksal der Heilstätten überfordert den Verein ganz und gar.

Take 35: (Sven Klemckow)
„Ja, wir wollten damals Einfluss nehmen auf die Vermarktung und Veräußerung und Entwicklung des gesamten Heilstättengeländes. Wir haben dann schnell eingesehen, ein Verein der – sag ich mal – nicht die richtigen Leute hinter sich hat, der ist uninteressant, der hat da kein Mitspracherecht.“

Erzähler:
Hohenlychen - ein Ort, für den es keine Lobby gibt. Die Geschichte lastet wie Blei auf dem Brandenburger Zauberberg. Gibt es historisch kontaminierte Flächen? Gibt es verminte Gelände, die durch eine monströse Geschichte ein für allemal im Abseits landen? Manchmal, sagte Horst Benedix, als er Sophie zu ihrem Geburtshaus führte, kommen noch Menschen, die Hohenlychen von früher kennen.

Take 36: (Horst Benedix)
„Die Ärzte, die hier tätig waren, die jetzt immer wieder mal zu Besuch kommen, die das gern noch mal sehen. Das sind ja nun schon alles alte Herrn und ältere Damen ja, und die haben ja eine Zeitlang hier gelebt und auch geschaffen. Na ja, und da erinnern sie sich dann immer wieder einmal dran. Wie der Mensch eingestellt ist. Einer ist nostalgisch und er sagt: Ja es war eine schöne Zeit für uns, und andere sagen wieder, es ist eine schlimme Zeit für Menschen, auch für diese Leute, die hier drunter gelitten haben. Ravensbrück ist ja nicht von der Hand zu weisen, und was man da gemacht hat mit den Frauen, das ist ja in die Geschichte eingegangen, und da solle man immer wieder die Menschen dran erinnern.“

Take 37: (Sophie Ruiz-Pipo)
„Die Schlüsse, die ziehe ich jetzt, das kommt alles zu spät, oder sagen wir mal rückwirkend, denn was wäre gewesen, wenn ich die Schlüsse eher gezogen hätte oder so? Ich habe ja auch nie irgendwie etwas gesagt: Ich bin verfolgt worden, oder ich habe das und das erlebt. Ich halte den Mund, ich will ja eben Deutsche nicht angreifen, aber ich fühle mich nun wirklich nicht dazugehörig.“

Erzähler:
1954, im Todesjahr ihres Vaters, Erich Gottschalk, wanderte Sophie nach Frankreich aus. Ihre Mutter lebte bis 1984 in West-Berlin.

Sprecher:
Die Heilstätten in Hohenlychen sind dem Verfall preisgegeben. Nur an den Rändern findet ein wenig Zukunft statt. Das Geburtshaus der Sophie Ruiz Pipo ist saniert und wird wieder bewohnt. Die Villa von Karl Gebhardt, schön gelegen am See, hat ein Berliner Metzgermeister gekauft.

Es sprachen Tonio Arango und Wolfgang Condrus
Redaktion und Regie Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2007

Die Musik wurde aus rechtlichen Gründen gekürzt