Literaturkritik -– Lesung Güçyeter
Nettetal, Niederrhein, Neunzigerjahre: Was nach Provinzöde klingt, liefert heute Stoff für Buchpreise. Dinçer Güçyeter ist hier aufgewachsen, als Sohn türkischer Gastarbeiter. In der Kneipe seines Vaters spielte er als DJ Tutti-Frutti-Hits für Griechen, Türken und Deutsche. Später stand Güçyeter von 6 bis 3 am Band, dann studierte er Gedichte bis nachts um 2. Heute erzählt er seine Geschichte und die seiner Familie im Roman „Unser Deutschlandmärchen“, der im Frühjahr den Leipziger Buchpreis gewann (wir berichteten) und aus dem der Autor nun beim Münchner Literaturfest im Gasteig HP8 las.
Güçyeter wurde auf der Leipziger Buchmesse geehrt
„Die Frauen haben mein gesamtes Leben gestaltet“, sagt Güçyeter und meint damit Mutter, Tante, Oma. „Unser Deutschlandmärchen“, der Debütroman des Lyrikers und Gabelstaplerfahrers, ist eine Hommage an diese drei Frauen. Während
Vater und Onkel als Kneipier und Bordellbesitzer arbeiteten, schufteten die Frauen für Hungerlöhne. Sie zeigten dem kleinen Dinçer seinen Platz in der Welt, ehe er vom Niederrhein auszog, um in Istanbul und Berlin sein Glück zu suchen. Vergeblich – heute lebt Güçyeter zusammen mit seiner Familie wieder in Nettetal.
Wie ein Autor in einer solchen Umgebung Geschichten finde, fragt Lukas Bärfuss, der in diesem Jahr das „Forum“ beim Literaturfest kuratiert und den Abend moderiert. Man müsse seine Umgebung genau beschreiben, da sei der Ort egal, antwortet sein Gast. Und überhaupt: „Ich habe nach Drama gesucht und Drama gefunden.“ Dramen kramt Güçyeter immer wieder hervor, es ist bald schwer zu unterscheiden, was noch Lesung, was schon freie Assoziation ist. Nach einer längeren Sequenz lächelt Bärfuss und sagt: „Tja, da macht sich der Moderator überflüssig.“ Man ahnt, wie schön sich die Gedanken des Erzählers Güçyeter auf Papier lesen.
Wie ein Autor in einer solchen Umgebung Geschichten finde, fragt Lukas Bärfuss, der in diesem Jahr das „Forum“ beim Literaturfest kuratiert und den Abend moderiert. Man müsse seine Umgebung genau beschreiben, da sei der Ort egal, antwortet sein Gast. Und überhaupt: „Ich habe nach Drama gesucht und Drama gefunden.“ Dramen kramt Güçyeter immer wieder hervor, es ist bald schwer zu unterscheiden, was noch Lesung, was schon freie Assoziation ist. Nach einer längeren Sequenz lächelt Bärfuss und sagt: „Tja, da macht sich der Moderator überflüssig.“ Man ahnt, wie schön sich die Gedanken des Erzählers Güçyeter auf Papier lesen.
Nicht immer strotzte der 44-Jährige so vor Selbstbewusstsein. Seine ersten Gedichtbände habe er aus Scham bei Amazon aufgekauft und dann weggeschmissen, erzählt er. Vor dem Auftritt in München habe er gedacht: „Hier kennen mich doch höchstens drei Leute.“ Weit gefehlt: Gekommen sind etwa 150, junge Pärchen genau wie Seniorinnen. Sie alle haben gehört vom Gastarbeiterkind, das seine Stimme nicht in Neukölln, sondern in Nettetal gefunden hat. „Aus dem, was ich erlebt habe, habe ich ein Märchen geschrieben“, sagt Güçyeter und rezitiert auch seine Gedichte. Der Lyriker visiert Menschen im Publikum an, stupst Bärfuss, trägt seine Zeilen auswendig vor. Es ist untertrieben zu sagen, dass hier ein Schriftsteller vorliest. Vielmehr spricht ein Entertainer zu seinem Publikum, das ihn immer wieder mit Applaus unterbricht.
Bärfuss und Güçyeter harmonieren auf natürliche Weise. Auch wenn der Gastgeber politische Themen auslässt, schafft er es, Güçyeter zu unterbrechen und ihm Neues zu entlocken. Das lässt das Gespräch der beiden auf der Bühne wie im Flug vorübergehen. Das Duo spricht nicht vergeistigt, Güçyeters Lyrik handelt etwa davon, sich mit Limo zu besaufen. Er fragt aber auch: „Wenn du ein Baum ohne Wurzeln bist, wie weit können sich deine Äste strecken?“
Güçyeter hat mit seinem ersten Roman einen Erfolg gelandet. Nebenbei ist er auch als Verleger tätig: Sein Kleinverlag Elif druckt – wie berichtet – Lyrik von jungen Talenten, nach eigenen Angaben bis zu acht Bücher pro Saison. Das Motto: unwahrscheinliche Lyrik seit 2011. Für den Verleger war es vor zwölf Jahren vermutlich unvorstellbar, dass seine Bücher gekauft werden. In München sind am Signiertisch nur noch ein paar Ausgaben von „Unser Deutschlandmärchen“ übrig.
Erschienen unter "Das Märchen aus Nettetal" im Münchner Merkur vom 23. November 2023.
Erschienen unter "Das Märchen aus Nettetal" im Münchner Merkur vom 23. November 2023.
Quelle: Münchner Merkur