Juliane Ziegler

Freie Journalistin, Frankfurt

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Artikel

chrismon: Aktivistin für Frauenrechte – Franziska Tiburtius

Illustration: Marco Wagner

Zürich, Herbst 1871: Im Präpariersaal der Medizinischen Fakultät drängen sich die Studenten, als die jungen Frauen den Raum betreten. Pfiffe und Schreie schallen ihnen entgegen - sie sind hier unerwünscht. Dennoch wollen die Frauen an die Arbeit gehen, sie sind schließlich offiziell eingeschrieben. Doch kurzerhand sperrt man sie im Nebenraum ein. Eine der Medizinstudentinnen ist Franziska ­Tiburtius, 28 Jahre alt. Sie ist hier, weil es in Deutschland Frauen nicht erlaubt ist, Medizin zu studieren. Von den Schikanen ihrer Kommilitonen lässt sich Franziska jedoch nicht beirren.


Auch die anderen Widerstände hält sie aus, angefangen bei der Wohnungs­suche - „Zimmer zu vermieten! Nur an Herren!" - bis hin zu Petitionsschreiben gegen die Zulassung von Frauen zum Medizinstudium. „Die Ausübung der Medicin widerstreitet und verletzt die besten und edelsten Seiten der weiblichen Natur, die Sittsamkeit, die Schamhaftigkeit, Mitgefühl und Barmherzigkeit, durch welche sich dieselbe vor der männlichen aus­zeichnet", behauptet der Anatom und Professor Theodor von Bischoff. 1843 auf einem Gut auf Rügen ge­boren, arbeitet Franziska Tiburtius zunächst als Gouvernante, macht das Lehrerexamen und geht nach England. Doch sie langweilt sich, will selbstständiger sein.


Ihr Bruder Karl, ein Arzt, redet auf sie ein, selber Ärztin zu werden. Sie zögert: „Ich konnte mich nicht entschließen. Wer die damaligen Verhältnisse kennt, wird es begreifen. Ein junges Mädchen auf einer Universität und Medizin studierend - undenkbar!" Dann nimmt sie sich ein Vorbild an Henriette Hirschfeld, ihrer zukünftigen Schwägerin und ersten Berliner Zahnärztin - sie hat in den USA Medizin studiert und sich mit einer Sondergenehmigung dann in Berlin niedergelassen. Erst mit 28 Jahren beginnt Tiburtius ihr Studium, beendet es nach fünf Jahren mit einer Promotion, zieht nach Berlin. Doch in Deutschland darf sie nicht als Ärztin arbeiten - ohne deutsche Appro­bation keine Praxis. Das Examen vor einem deutschen Prüfungsgremium zu wiederholen, gestattet man ihr nicht. Sie wird faktisch Kurpfuschern und Wunderheilern gleichgestellt.


Selbst Damen aus der höheren Gesellschaft kommen

 

Franziska Tiburtius eröffnet trotzdem eine Praxis - die erste Praxis einer weiblichen Ärztin. Voller Tatendrang will sie mit ihrer Studienkollegin Emilie eine Klinik für Arbeiter einrichten, mit „Konsultationen für zehn Pfennige". Denn die Allerärmsten haben kaum Zugang zur ärztlichen Versorgung. Hinzu kommt, dass sich manche Frauen aus Schamgefühl häufig erst zu spät zu den - männlichen - Ärzten trauen. Erst als sie und Emilie Lehmus auf dem Praxisschild hinzufügen, dass sie einen ausländischen Doktortitel tragen, hören die Beschwerden und Klagen auf. Von ihren männlichen Kollegen werden die Ärztinnen gleichwohl lange nicht ernst genommen. 


Ihre Praxis wird ein Erfolg. Schon in die erste Sprechstunde kommen zwölf Arbeiterinnen. Selbst einige Damen aus der höheren Gesellschaft suchen sie auf - nachdem sie ihre Dienstmägde vorgeschickt haben, um die Behandlung zu testen. Tiburtius und Lehmus erweitern ihre Praxis zur ersten „Poliklinik weiblicher Ärzte", die schnell zum Anlaufpunkt junger, ambitionierter Medizinerinnen wird. Erst 1899 ist es offiziell so weit: Medizinstudentinnen dürfen in Deutschland ihr Staatsexamen ablegen, wenn auch zunächst nur in Baden.


Mit 64 Jahren zieht sich Franziska Tiburtius aus ihrer Praxis zurück. Weiterhin setzt sie sich für die Rechte der Frauen ein, hält Kontakt zu Vertreterinnen der Frauenbewegung. Ob sie viel hat kämpfen müssen, wird sie später gefragt. „Das weiß ich nicht", sagt sie, „ich meinte immer nur das zunächst Notwendige tun zu müssen". Franziska Tiburtius stirbt am 5. Mai 1927. Mit ihrer Standhaftigkeit ist sie eine der Wegbereiterinnen des Frauenstudiums in Deutschland.

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