Adolf Stock

Journalist, Autor und Medienberatung, Berlin

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Feature

Max Frisch starb vor 25 Jahren: Brotberuf und Passion. Max Frisch als Architekt und Schriftsteller.

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Im Januar 1955 verkaufte Max Frisch sein Züricher Architekturbüro, um sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Zuvor war Max Frisch zwischen Brotberuf und Passion hin- und hergerissen.

Er zweifelte an seinen schriftstellerischen Fähigkeiten und war dankbar, dass ihm ein reicher Freund das Architekturstudium an der renommierten ETH, der Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, ermöglicht hatte.

Mit dem Bau eines Freibads in der Züricher Vorstadt war Max Frisch architektonisch erfolgreich, doch schon bald wurden am dortigen Schauspielhaus seine ersten Stücke inszeniert, und man sah Max Frisch häufiger auf der Probebühne als auf der Baustelle oder am Zeichentisch. Adolf Stock begibt sich in Zürich auf Spurensuche, um Max Frisch als Architekt und Schriftsteller zu erkunden. Er entdeckt einen Autor, dessen Markenzeichen es war, sich beharrlich selbst zu befragen, bis am Ende Literatur entstand.

Erstsendung Deutschlandradio Kultur 10.05.2011

Das Manuskript:

Brotberuf und Passion
Max Frisch als Architekt und Schriftsteller

Eine Sendung von Adolf Stock

Zitator:
„Ich bin nicht Stiller. Was wollen Sie von mir? Ich bin ein unglücklicher, nichtiger, unwesentlicher Mensch, der kein Leben hinter sich hat, überhaupt keines. Wozu mein Geflunker? Nur damit Sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht und was Sie mir anbieten ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle. Warum lassen Sie nicht ab?“

Take 1: (Max Frisch)
„Ich bin ausgegangen von einer subjektiven Erfahrung, Bedrängnis, die ich versucht habe darzustellen in dieser Geschichte und in anderen Geschichten. Eine Qual, ein Ungenügen.“

Sprecher:
Max Frisch war noch Architekt, als er seinen Roman Stiller schrieb. In einen Radiogespräch erinnert er sich.

Take 2: (Max Frisch)
„Aber es ist doch wohl so gewesen, dass ich während der Niederschrift von Stiller das Wort Identität nie gedacht habe. Zum Glück.“

Zitator:
„Ich kann nicht Stiller sein. Ich muss meine Identität, ich muss, auch wenn es mir unsäglich schwer fällt, mich annehmen, wie ich nun einmal bin und auf Selbstillusionierung verzichten.“

Sprecher:
Den eher steinigen Weg zur Aufrichtigkeit hatte nicht nur der Romanheld Stiller, sondern auch sein Autor Max Frisch gewählt. Für ihn war es der Weg zum Schriftsteller. Als Gymnasiast wollte Frisch schreiben, sein Studienfach war Germanistik. Als 1932 sein Vater starb, suchte der Student einen Broterwerb. Frisch wurde Journalist, der auch dann noch schreiben musste, wenn er selbst nicht wirklich etwas zu sagen hatte.

Damals bereiste Frisch Europa, er fuhr nach Berlin, Prag und Istanbul. Sein erster Roman Jürg Reinhart verarbeitet Reiseimpressionen. 1937 folgte die Erzählung Antwort aus der Stille. Ob diese Lektüre lohnt, darüber wurde 2009 heftig gestritten, nachdem der Suhrkamp Verlag das Frühwerk erstmals veröffentlicht hatte.

Der Germanist Heinz-Ludwig Arnold nennt den Text ein misslungenes Stückchen Lebensbewältigungsprosa. Sein Schweizer Kollege Peter von Matt findet im dem frühen Stück Prosa schon all jene Motive, die Max Frisch zeitlebens beschäftigen werden. Max Frisch selbst war nicht überzeugt. Er hängte das Schreiben an den Nagel und studierte Architektur.

Zitator:
„Da nimmt sich ein Mann etwas vor und erfüllt es. Der Architekt hat ein klar definiertes Ziel, er baut einen Bahnhof oder ein Krankenhaus, und erfüllt einen Zweck.“

Sprecher:
Ein vermögender Jugendfreund hatte Max Frisch das Architekturstudium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich finanziert, die er 1940 mit einem Diplom verließ. Als Architekt änderten sich zwar die Lebensumstände, aber Frischs innerste Ziele blieben gleich. 1974 hat er mit dem Germanisten Heinz Ludwig Arnold gesprochen. Er bekennt, dass seine Arbeit stets um dasselbe Thema kreist.

Zitator:
„Die Leute meinen: Der Mann, der da schreibt, nimmt sich etwas vor und erfüllt es. Sie meinen auch, er hätte die Wahl seines Themas. Er könne das oder jenes; wie bedingt er ist durch seine ganze Konstitution und durch seine Geschichte in der Wahl seines Themas, ist den meisten nicht klar. Warum kommt er immer wieder auf das gleiche Thema – sieht er das denn nicht? Natürlich sieht er es – er hat aber nur dieses, weil ihn eben dieses am meisten brennt. Das wissen alle, die selbst irgendetwas machen: dass wir diese große Wahl gar nicht haben – wir haben die Wahl der Mittel, aber die Wahl der Themen haben wir kaum.“

Sprecher:
Schreiben oder Bauen? In der Wahl der Mittel war Frisch eine Zeitlang unentschieden. In seiner Erzählung Montauk blickt er auf diesen Zwiespalt zurück.

Zitator:
„12 Jahre mit Reißbrett, Bleistift, Rechenschieber, Pauspapier, Reiß-schiene, Zirkel, Geruch von Tusche. Der weiße Kittel des Zeichners. Die tägliche Fahrt zur Arbeit: ich bin nicht mehr Student und nicht mehr Schriftsteller, ich gehöre zur Mehrheit. Draußen schneit es. Es ist Krieg. ZEMENT, SIKA, KLINKER, ZINK, GLASWOLLE, ETERNIT, das sind die Vokabeln meiner Kalligraphie. Ich bin dreißig und habe endlich einen Brotberuf. Ich kann heiraten. Wenn ich den Rechenschieber benutze, so habe ich das Gefühl, ein Fachmann zu sein. Wieso gerad Architekt? Der Vater ist Architekt gewesen (ohne Diplom). Ich zeichne exakter, als ich vordem geschrieben habe. Als Zeichner von Werkplänen komme ich mir übrigens männlicher vor.“

Sprecher:
1947 kam Bertolt Brecht aus dem amerikanischen Exil in die Schweiz. Max Frisch lernte ihn bei Kurt Hirschfeld kennen. Der Dramaturg des Züricher Schauspielhauses hatte in den Kriegsjahren einige Brecht-Stücke auf die Bühne gebracht. Damals führte Frisch Brecht auf eine Baustelle.

Zitator:
„Einmal besichtigten wir Siedlungen für die Arbeiterschaft, Krankenhäuser, Schulhäuser etc. Der Herr vom Bauamt verstand die Fragen des Gastes nicht, erläuterte von Siedlung zu Siedlung dasselbe, während Brecht, anfänglich sehr verwundert über so viel Komfort für die Arbeiterschaft, sich mehr und mehr belästigt fühlte durch eben diesen Komfort, der die Grundfragen nicht zu lösen gedenkt; plötzlich, in einem properen Neubau, fand er sämtliche Zimmer zu klein, viel zu klein, menschenunwürdig, und in einer Küche, wo nichts fehlte und alles glänzte, brach er ungeduldig die Besichtigungsfahrt ab, wollte mit der nächsten Bahn an die Arbeit, zornig, dass man den Begriff Sozialismus missbraucht für solchen Unfug und dass eine Arbeiterschaft auf diesen fortschreitenden Schwindel hereinfällt; noch hoffte er, das sei nur in dieser Schweiz möglich, dass Sozialismus zu ersticken ist durch Komfort für alle.“

Sprecher:
Der Schweizer Wohlstand ging Bert Brecht auf die Nerven. Max Frisch sah in dieser Architektur einen Hebel, um die sozialen Verhältnisse zu verbessern. Als Architekt wollte er kein Künstler sein. Margit Unser, Leiterin des Max-Frisch-Archivs in Zürich, kennt und bewertet die entsprechenden Dokumente.

Take 3: (Margit Unser)
„Ich habe jetzt auch noch keine Stelle gefunden, wo sich Max Frisch als Künstler bezeichnen würde. Und auch seine theoretischen Schriften, die handeln ja davon, wie man Boden günstig zur Verfügung stellt, damit eben auch, ich sag mal, die weniger gut verdienenden Schichten einen angenehmen Wohnraum zur Verfügung haben. Ich denke, das war eher sein Anliegen, und nicht, dass das jetzt irgendwie künstlerisch wertvoll ist, was gebaut wird, oder vor allen Dingen, was er gebaut hat.“

Zitator:
„Architektur hat mit Geld zu tun, mit Gesellschaft zu tun. Dann habe ich mich mit Städtebau befasst, und da kommst du natürlich ganz direkt im Sturzflug in die Frage hinein, wem gehört der Boden? Und solange der Boden der Spekulation freigegeben ist, ist Städtebau so gut wie ausgeschlossen, da wurde ich politisiert.“

Sprecher:
Der Berner Zeithistoriker Lukas Tinguely hat seine Dissertation über Max Frisch und dessen Rolle in der Diskussion um den modernen Städtebau geschrieben. Wie sollen wir bauen? Wie soll die Stadt der
Zukunft aussehen? Lukas Tinguely beschreibt Max Frisch als einen scharfen Kritiker, der den Glücksrittern der Baubranche kräftig in die Parade fährt.

Take 4:(Lukas Tinguely)
„Die Bodenspekulation war ihm ein sehr großer Dorn im Auge, dass quasi gewisse Leute auch davon profitieren konnten, die halt diesen Boden besaßen und quasi auf dem Boden dann auch machten, was sie damit machen wollten. Und deswegen war eigentlich seine Idee, den Boden zu kommunalisieren, also dass die Gemeinde den Boden kauft, und dann auch auf diesem Platz ihre Ideen verwirklicht, dass diese ganze Spekulation wegfällt, und damit auch ein vernünftiges Planen überhaupt erst möglich wird.“

Sprecher:
In der Stadtplanung und beim Städtebau vermisst Frisch die kreativen Ideen. Auch sein Romanheld Stiller sieht überall nur ödes Mittelmaß.

Zitator:
„Wie sauber sie hierzulande bauen, wie sicher, wie schmuck, wie gediegen, wie seriös, wie makellos, wie gewissenhaft, wie geschmackvoll, wie gepflegt, wie gründlich, wie ernsthaft und so weiter, alles für die Ewigkeit.“

Sprecher:
Die Schweizer Architektur blieb provinziell. Die gewachsenen Strukturen wurden durch Baumaßnahmen verschandelt, und bei den kriegszerstörten Städten in den Nachbarländern war es auch nicht besser. Sie wurden nach veralteten Mustern aus der Vorkriegszeit wieder aufgebaut.

Sprecher:
1956 hatte der Hessische Rundfunk ein Hörspiel von Max Frisch gesendet. Es trug den harmlosen Titel Der Laie und die Architektur. Doch die Überschrift führt in die Irre, denn eigentlich wird nur am Rand über Architektur gesprochen. Es geht vielmehr um Stadtplanung und Städtebau: Ein Ehepaar unterhält sich mit einem Architekten, der meint, in seinem Beruf nicht sinnvoll arbeiten zu können, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht stimmen.

Take 5: (Der Laie und die Architektur)
„Architekt: Sie wissen, dass die meisten Architekten, wenn nichts sie hindern würde, ganz anders bauen möchten, als sie tatsächlich bauen? Laie: Ich weiß, die Baugesetze.
Architekt: Was hilft dem Architekten eine noch so stichfeste Idee, wenn der Staat, sei das nun die Baupolizei, die sich an einen veralteten Beschluss halten muss, oder die Weisheit eines Beamten, dem wir die Stadtplanung überlassen, ganz einfach verbietet, mehr als vier Stockwerke zu machen? Ganz praktisch: Was tue ich mit meinem Auftrag? Ich baue genau so, wie wir es bei Zürich gesehen haben, oder ich gebe es auf, Architekt zu sein, und gehe fischen.
Laie: Sie als Architekt, das sehe ich ein, können die Gesetze nicht ändern. Das kann nur das Volk, wenn es will, wenn es die Notwendigkeit einsieht. Sie als Architekt müssen uns die Notwendigkeit klar machen. Uns, nämlich den Laien. Und das ist es ja, worauf ich ziele: Ihr könnt gar keinen Städtebau machen, mein Verehrter, ohne uns, ohne die Gemein-schaft der Laien, ohne das Volk, ohne politische Auseinandersetzung, die zum Zielbewusstsein und damit zur Ermächtigung führt.“

Sprecher:
Fortschritt verspricht nur die zeitgenössische Avantgarde. Max Frisch ist beeindruckt von den Siedlungsbauten in Mexiko, die er auf seinen Reisen in die Neue Welt kennenlernt hat. Die Marseiller Wohnmaschine des Schweizer Architekten Le Corbusier sieht er als Haus der Zukunft und Le Corbusier als den genialen Konstrukteur neuer sozialer Räume.

Lukas Tinguely hat Max Frischs theoretischen Texte gelesen. Vor allem die Streitschrift achtung: die Schweiz, eine kleine Broschüre mit rotem Einband, die Frisch gemeinsam mit den Basler Studenten Lucius Burckhardt und Marcus Kutter 1955 geschrieben hatte. Ein Pamphlet, das die trägen Schweizer aufrütteln sollte.

Take 6: (Lukas Tinguely)
„Zum Beispiel war seine Idee, dass halt an einem neuen Feld, einem Acker, eine Stadt neu angelegt wird, damit diese Verkehrsströme dann auch gleich richtig geleitet werden können. Und die Altstadt wollte er einfach erhalten, aber auch so erhalten, wie sie ist, und mehr oder weniger auch als Museum halt dann erhalten.“

Sprecher:
1968 ist Max Frisch mit seiner damaligen Frau Marianne dann selbst in ein Hochhaus am Züricher Stadtrand gezogen. Die Wohnsiedlung Lochergut war nagelneu und wurde damals als soziale Errungenschaft der Stadt Zürich gefeiert.

Take 7: (Marianne Frisch)
„Och, im Lochergut, das war aber, muss ich ehrlich sagen, für mich eine Enttäuschung, und ich glaube, für Max auch, wir waren da auch gar nicht, wir wohnten da auch gar nicht richtig.“

Sprecher:
Es war ein kurzlebiges soziales Experiment, an dessen Anfänge sich Marianne Frisch noch gut erinnert.

Take 8: (Marianne Frisch)
„Und dann sagte ein Freund, ja und jetzt entsteht da gerade ein großes Hochhaus, das ist wie New York und so, da müsst ihr hin, da gehört ihr hin, nicht? Und dieses wie New York, das tönte irgendwie gut, und wir dachten auch, das ist die moderne Zeit und wir passen.“

Sprecher:
Max und Marianne Frisch bezogen eine der 352 Wohnungen, mit Blick auf die Berge und auf die Stadt.

Take 9: (Marianne Frisch)
„Es war aber nicht wie New York. Die Schweizer passen nicht in so ein Hochhaus, und ich fand das auch abscheulich, auch die Umgebung, und man begrüßte sich nicht im Lift. Es war so anonym, und ja, und nullachtfünfzehn kann man sagen.“

Sprecher:
Die triste Wohnmaschine zerschredderte jede Illusion. Alles, was der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich 1965 in seiner Studie Die Unwirtlichkeit unserer Städte gegen moderne Stadtplanung und Städtebau vorbringen konnte, ließ sich dort beispielhaft nachvollziehen.

Take 10: (Marianne Frisch)
„Dass es so armselig menschlich herauskommen würde, das hat er sich nicht träumen lassen. Und ich habe da richtig gelitten, und die Zimmer waren auch nicht gut geschnitten, und das hatte kein Cachet. Vielleicht anderthalb Jahre haben wir das gemietet, vielleicht im Ganzen waren wir zwei Monate oder so dort. Und das war gerade die Zeit, als die vielen Tschechen kamen, weil dort war der Prager Aufstand, und dann kamen tschechische Autoren und Übersetzer, und die haben wir dort alle hinein, die hatten ja kein Dach über dem Kopf, und dann haben wir gesagt, geht in unsere Wohnung, dann hat sie wenigstens einen Sinn, nicht? Und dann sind wir kurz danach ins Gegenteil, nach Küsnacht gezogen.“

Sprecher:
Traditionell ging die Züricher Bevölkerung im See oder an den Flüssen Limmat und Sihl baden. Mit dem Bau des Volksbades Letzigraben leistete sich Zürich 1949 ein großzügiges Sommerbad mit Liegewiesen in einem Arbeiterviertel am Rande der Stadt.

Take 11: (Daniela Eggs)
„Lachen – Ja es ist ungewöhnlich für die Schweiz. Ja, Volksbad für Männer und Frauen. Mehr kann ich gar nicht dazu sagen. Das ist nicht ein Sportbad, aber zu der Zeit war das natürlich eine Neuerung, ein Volksbad – ja.“

Sprecher:
Heute ist Daniela Eggs von der Stadt Zürich für das Bad verantwortlich. Das Schwimmbad wirkt wie ein großer weitläufiger Park. Eine Gartenlandschaft mit üppiger Vegetation, mit mehreren Wasserbecken, Liegewiesen und zahlreichen kleinen Pavillons. Die herbstlichen Blumen und Sträucher leuchteten in den schönsten Farben, als Daniela Eggs durch das für Besucher schon geschlossene Volksbad führte.

Take 12: (Daniela Eggs)
„Wir stehen hier im Eingangsbereich, rechts von uns haben wir das Personalgebäude mit den Kassen, und wenn wir jetzt da so in die Anlage reinschauen, haben wir links und rechts die ehemaligen Garderoben¬träkte, und jetzt, seit der Sanierung 07, sind aus diesen überschüssigen Mietkastenträkten Ausstellungsräume geworden.“

Sprecher:
In der kleinen Ausstellung wird über Max Frisch und das Bad berichtet. 1943 hatte Frisch den Wettbewerb für das Volksbad gewonnen, doch in Europa tobte der Krieg, und der neutralen Schweiz fehlte es an Baustoffen und Material, um so ein großes Quartierbad zu bauen.

Zitator:
„Lange Zeit bleibt das Projekt auf dem Papier.“

Sprecher:
Im August 1947 beginnen die Bauarbeiten, und zwei Jahre später lud Max Frisch Helfer, Kritiker und literarische Freunde per Brief in das fertiggestellte städtische Volksbad Letzigraben. Der Brief endet mit den Worten:

Zitator:
„Es wird nichts serviert. Der Rundgang dauert vielleicht vierzig Minuten. Es wird nicht über Literatur gesprochen. Mit freundlichem Gruß Max Frisch.“

Sprecher:
An diesem Projekt atmet alles Harmonie und Ruhe, schrieb damals die Neue Zürcher Zeitung, und das Freibad Letzigraben hat bis heute nichts von seinem südländischen Charme verloren.

Take 13: (Daniela Eggs)
„Das ist wirklich ein Bijou. Es fügt sich einfach gut in die Landschaft ein, diese Gebäudeteile sind ja sehr niedrig, und obwohl es hier einen Hügel hat, wirkt das Ganze aber wie wenn es unendlich weit weitergehen würde.“

Sprecher:
Die Badeanlagen stehen auf historisch bedeutsamem Grund, wie Max Frisch in seinem Tagebuch mit Stolz vermerkte.

Zitator:
„Hier haben die Russen gegen die Franzosen gekämpft; die Ziegel einer römischen Villa sind weithin verstreut über Galgenhügel, Schindanger, Schrebergärten… Zur Zeit bin ich es, der seinen Willen einträgt in dieses Flecklein unserer Erde, Feldherr über fünfunddreißig¬tausend Quadratmeter.“

Take 14: (Daniela Eggs)
„Jetzt stehen wir beim Nichtschwimmer am anderen Ende der Anlage und schauen zurück zum Eingang. Dazwischen vor uns liegt jetzt dieser Hügel, auf dem der Galgen gestanden hat. An diesem Ort wurden die Verbrecher zu Tode erhängt. Das war hier, hier wurde dann auch im Rahmen der Sanierung eine römische Villa, also Überreste natürlich entdeckt.“

Sprecher:
Im Sommer 1948 kam Bertolt Brecht auf die Baustelle. Er interessierte sich für die Konstruktion der Gebäude und wollte die Schwimmanlagen sehen. Der Architekt erfuhr reichlich Anerkennung. Sie haben einen ehrlichen Beruf, lässt Brecht den Schweizer wissen.

Zitator:
„Ruth Berlau war dabei, als Frau bald gelangweilt, während Brecht pflichtschuldig, wenn auch ängstlich, Gerüst um Gerüst erstieg, schließlich sogar den Zehnmeter-Sprungturm, wo man das Areal am besten überblicken konnte; hier oben war er allerdings für Erläuterungen nicht zu haben, nur für Respekt: Alle Achtung, Frisch, alle Achtung. Erst unten war er für Statik-Unterricht empfänglich.“

Take 15: (Daniela Eggs)
„Dort hinten, hinter dem Brunnen, ist der berühmte Sprungturm. Das Bild kennen ja alle, Max Frisch auf dem Sprungturm. Genau.“

Sprecher:
Dem Architekten galt Brechts Hochachtung. Mit dem Schriftsteller Frisch gab es hingegen ideologische Differenzen. Ein radikaler Individualist traf auf einen marxistisch geschulten Dichter. Frisch weigerte sich später, trotz konkreter Angebote, mit dem etwas älteren Brecht zusammenzuarbeiten.

Zitator:
„Es war verlockend. Ich bekam es mit der Angst. Brecht, wenn man sich einließ, baute jeden um.“

Sprecher:
Das sollte auf keinen Fall passieren. Fremdbestimmt fühlte sich Frisch schon als Architekt. Max Frisch und sein Romanheld Stiller hatten ihre eigenen Probleme. Sie waren auf der Suche nach Identität.

Take 16: (Max Frisch)
„Hinter dem Ganzen steht natürlich ganz sicher ein Glaube, wahrschein-lich ein ziemlich altmodischer, jedenfalls ein sehr bürgerlicher, sehr europäischer Glaube an das Individuum, an die Person. Ich meine schon, neben dem Leben der Gesellschaft, das Recht auf das Leben des Ich.“

Sprecher:
Sein radikal subjektives Denken machte ihn hellsichtig gegenüber dem Dichterkollegen Brecht, der vom Bürgerschreck zum Marxisten geworden war; der als Arbeiter durch die Lande zog – mit Mütze und blauer Joppe.

Take 17: (Max Frisch)
„Es ist erstaunlich, wie hartnäckig er es weiterhin in allen Lebenslagen beibehielt, dieses Image der harten Denkmännlichkeit, auch ein Image der Askese, ein Mann, der sich sichern musste durch Stilisierung. Sichern wogegen? Nicht gegen Bürgerlichkeit, da war Brecht unbedroht, eher gegen etwas Chaotisches, etwas Weibliches, das er im hohen Grade besaß, das zu seinen Genie gehörte als Untergrund, als Kraft und Gefährdung.“

Zitator:
„Etwas in der Denkart von Brecht, sowohl im Gespräch wie in den theoretischen Schriften, macht den Eindruck: Das ist nicht er, sondern etwas, das Brecht sich abverlangt. Je rationaler er argumentierte, umso größer war seine Genugtuung: Er überzeugte dann sich selbst. Wie ein Mann auf dem Markt, wenn er ein fabelhaftes Büchsenöffner-Patent anbietet, formulierte er gerne immer wieder dasselbe wortwörtlich, oft frappant. Dabei war an seiner Überzeugung nicht zu zweifeln. Trotzdem der Eindruck: Das ist nicht er, das ist seine Therapie. Darum sind Brechtianer gefährdet: Sie perfektionieren die Therapie gegen ein Genie, das sie nicht haben.“

Sprecher:
Frisch witterte die Gefahr, und seine Strategie sah vollkommen anders aus. Er setzte auf Individualität und übte sich in ständiger Selbstbefragung. Ein existenzialistisches Exerzitium, wie es bei Schriftstellern und Intellektuellen in der unmittelbaren Nachkriegszeit häufiger anzutreffen war.

1946 pendelte Frisch zwischen der Baustelle am Letzigraben und dem Züricher Schauspielhaus hin und her.

Zitator:
„Wenn die Schauspieler nach Hause gehen, um Texte zu lernen, fahre ich zur Baustelle und sehe, wie sie den Sprungturm ausschalen, anderswo Platten verlegen, wie der Schreiner endlich seine Werkstattarbeit bringt und einpasst. Das klappt nicht alles, sowenig wie bei den Proben im Schauspielhaus.“

Sprecher:
Dichter und Architekt kamen sich in die Quere. Damals hatte Max Frisch am Theater mit Stücken wie Santa Cruz oder Die Chinesische Mauer seine ersten Erfolge. Es war eine Befreiung, sagt Margit Unser vom Züricher Frisch-Archiv.

Take 18: (Margit Unser)
„Ich würde jetzt mal die Behauptung wagen, dass er kein Herzblut-Architekt war. Lange Zeit ist er einem Doppelberuf nachgegangen. Er war offiziell Architekt, hatte auch ein eigenes Büro mit Angestellten, aber sein Herz hing damals schon an der Schriftstellerei. Im Tagebuch Eins gibt es ja auch eine wunderschöne Stelle, wo er beschreibt, wie ätzend das ist, wenn man morgens ins Büro gehen muss und muss quasi acht oder neun Stunden im Büro sitzen und verpasst im Prinzip das Leben.“

Sprecher:
Marianne Frisch weiß auch von der Zeit, als sich Frisch für das Schreiben und gegen die Architektur entschied.

Take 19: (Marianne Frisch)
„Er hat dann das Architekturbüro aufgegeben, in dem Moment, als er merkte, dass er seine Angestellten von den Theatertantiemen bezahlte. Und da hat er sich gedacht, irgendwas stimmt hier nicht. Er hat dann nach dem Schwimmbad auch nichts Wesentliches mehr gebaut. Und noch zwei, drei private kleine Häuser, auch ein Haus, zweimal glaube ich sogar für seinen Bruder, einmal in Basel und einmal im Tessin, aber das war glaube ich dann eher so lustlos, und dann ist er immer wieder mehr ins Schreiben, dann hatte er eben Erfolg, vor allen Dingen auch auf dem Theater nach dem Krieg mit den Stücken Erfolg, kann man sagen, ja. Und jedenfalls lebte er von der Schriftstellerei und wollte dann nicht noch ein Architekturbüro, und da hat er sich dann wieder umentschieden und hat gesagt, jetzt ist Schluss.“

Sprecher:
1955 zieht Max Frisch einen Schlussstrich. Er verkauft sein Architektur¬büro an einen langjährigen Mitarbeiter, er verlässt die Familie und bezieht zwei Zimmer in einem Bauernhaus in Männedorf am Zürichsee. Für den Kulturhistoriker Lukas Tinguely, der sich mit dem Architekten Max Frisch eingehend beschäftigt hat, ist das ein logischer Schluss.

Take 20: (Lukas Tinguely)
„Er wollte ja eigentlich nie wirklich Architekt werden, das war wirklich sein Ausweg aus der Situation, dass er eben Geld verdienen musste, und eigentlich einen halbwegs künstlerischen, aber auch trotzdem immer noch bürgerlichen Beruf wählen wollte. Er interessierte sich zwar fürs Bauen, aber eher für die großen Gesamtzusammenhänge, für den Organismus einer Stadt, auch immer gekoppelt mit dem Organismus einer Gesellschaft.“

Sprecher:
Im Max-Frisch-Archiv an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich finden sich zirka 6000 Briefe, unzählige Manuskripte und eine kleine Sammlung zur Architektur. Seit 1983 ist es öffentlich zugänglich. Margit Unser leitet heute das Archiv.

Take 21: (Margit Unser)
„Das ist jetzt der Unseld, ja wir sehen den Garten. Warten Sie mal, ich glaube hier ist er noch ein bisschen größer. Man sieht, dass es ein Haus war, das so am Berg gebaut wurde, mehrere Bauabschnitte …“

Sprecher:
1981 hatte sich Max Frisch noch einmal als Architekt versucht und ein Wohnhaus für seinen Verleger Siegfried Unseld entworfen, doch der Entwurf blieb Makulatur. Die Pläne zeigen einen Flachbau, der an die Villen Mies van der Rohes erinnert, nur dass Max Frisch keine großzügige Wohnlandschaft entworfen hatte, sondern konventionell geschnittene Räume.

Take 22: (Margit Unser)
„So sind auch im Prinzip alle Bauten. Es sind Wohnräume, auch für sich selbst hat er einen Entwurf gemacht. Es ist konventionell, es ist nichts Utopisches oder Modernes, ja, es wär auch irgendwie, würde nicht zu Frisch passen …
Geräusch Archiv - Da ist eigentlich auch noch was. Er hat auch noch was skizziert. Er hatte ja in den 80er Jahren eine Loft gekauft in New York, und es gibt einen Plan, von dem wir glauben, dass es ein Plan ist, für den Umbau dieser Loft.“

Sprecher:
Damals wollte Max Frisch die Schweiz für immer verlassen und sein Leben in New York verbringen. Sein Schweizer Schriftstellerkollege Peter Bichsel erinnert sich in einem Essay.

Zitator:
„Er betrieb seine Wohnsitznahme dort in kurzer Zeit ernst und zielstrebig und richtete seine Loft an der Spring Street ein. Ich habe sie nie gesehen, aber Freunde berichteten mir fast entsetzt, dass er sie sehr nach dem Geschmack seiner amerikanischen Freundin einrichtete und also auch hier auf seine Herkunft, dieses Mal auf seine ästhetische Herkunft, Architekt mit Bauhaus im Hinterkopf, verzichtete.“

Sprecher:
Am City Collage of New York hielt Frisch zwei Vorlesungen. Darin schaut er zurück auf sein Werk und fragt: Warum war ich zwölf Jahre lang Architekt? Und weshalb muss ich schreiben?

Zitator:
„Ein Roman, der eine tödliche Ehe darstellt, zum Beispiel, oder eine andere allgemeine Misere, zum Beispiel die Frustration durch entfremdete Arbeit in unserer Industrie-Gesellschaft, ist eine Klage; jede Klage geht davon aus, dass das Leben anders sein sollte. Wie? Das sagt die Literatur nicht. Das sagen uns nur die Ideologen. Was unsere Literatur liefert, das Bekenntnis zur Trauer, die Einladung zum Protest. Die Literatur liefert die Utopie, dass Menschsein anders sein könnte.“

Sprecher:
Vor Ideologien hat sich Max Frisch gefürchtet, nach Utopien hat er stets gesucht, obwohl er wusste, dass sie sich nicht erfüllen würden. Und New York, schreibt Peter Bichsel, war für ihn eine Utopie.

Zitator:
„Utopie – Manhattan versprach diese Utopie. Nicht etwa die Realität dieser Stadt, aber ihr Selbstbewusstsein. Sie stellte sich als Kulisse einer Utopie zur Verfügung. Eine Stadt als Utopie, als Poesie, als Sehnsucht an und für sich.“

Sprecher:
Doch diese Sehnsucht fand kein Zuhause. Wie viele seiner Generation blieb Max Frisch unbehaust. Auf die Frage einer New Yorker Journalistin, warum er sich denn kein eigenes Haus baue, er sei doch Architekt? hat der dauernd suchende Frisch nur entgegnet:

Zitator:
„Man will doch nicht ständig in einem Bekenntnis wohnen.“

Deutschlandradio Kultur
Sendetermin: 10. Mai. 2011
Sprecher: Michael Rotschopf
Zitator: Ulrich Lipkar
Zitator Max Frisch: René Schoenenberger