Sebastião Salgado macht durch seine Fotos Hungersnot, Krieg und Vertreibung spürbar. Mit „Das Salz der Erde" hat sein Sohn, Regisseur Juliano Ribiero Salgado, gemeinsam mit Wim Wenders eine filmische Hommage über den Abenteurer geschaffen.
globe-M: Es ist ein mutiger Schritt, einen Film über die Arbeit des eigenen Vaters zu machen, vor allem, wenn er so berühmt ist. Dafür ernteten Sie in Cannes Standing Ovations. Waren Sie erleichtert? Schließlich ist Ihnen ein Portrait über einen der wichtigsten Fotografen unserer Zeit geglückt.
Juliano Ribeiro Salgado: Nicht oft nehmen sie in Cannes Dokumentarfilme an. Es war verrückt. Zur Premiere des Films war ich so nervös. Nichts hatte bei der Produktion wie geplant funktioniert. Alle Szenen waren länger und der Schnitt stimmte nicht. Ich schaute rüber zu Wim und machte Atemübungen, um diesen Moment zu überleben. Als der Film zu Ende war und die erste Zeile der Credits lief, begann jemand zu applaudieren. Plötzlich stand jeder auf und applaudierte. Das Erste, was ich dachte war: Stopp, ihr habt den Film nicht verstanden. Setzt euch. Danach kann man das nur akzeptieren, aber es sind sehr gemischte Gefühle. Du weißt nicht, was Du fühlen sollst.
globe-M: Der Film skizziert das Leben von Sebastião Salgado, Ihre Kindheit kann man nur erahnen. Ihr Vater war im Durchschnitt sechs bis acht Monate im Jahr unterwegs. Wie war das für Sie als Kind, wenn er von seinen Reisen zurückkehrte?
Juliano Ribeiro Salgado: Ich war sehr glücklich, wenn er nach Hause kam. Sebastião reiste an Orte, zu denen keiner reiste. Als ich ein Kind war, fragten mich meine Lehrer, die Eltern meiner Mitschüler und meine Freunde, wo Sebastião denn sei. Sie blickten mich mit erstaunten Augen an, wenn ich ihnen antwortete. Von Anfang an, fühlte ich, dass Sebastião ein sehr mutiger Typ ist, eine Art „Indiana Jones".
globe-M: Hat er Ihnen Geschichten aus der Ferne erzählt?
Juliano Ribeiro Salgado: Das Fotolabor meines Vaters war bei uns zu Hause im sechsten Stock. Ich erinnere mich an den speziellen Säuregeruch des Entwicklers von Schwarzweiß-Fotos. Ja, er gab mir eine Einführung in seine Fotos. Ich weiß nicht, wann ich damit begann, ihn zu fragen, aber ich verstand die Botschaft hinter seinen Fotos.
globe-M: Kriege, Hungersnöte, Vertreibung und Leid zogen Ihren Vater fast magisch an. Er wagte sich in unbekannte und vor allem gefährliche Regionen, um all diese Schmerzen zu fühlen, nachzuerleben und schließlich in seinen Bildern ausdrücken. Er war ständig unter lebensgefährlichen Umständen unterwegs. Keine leichte Situation für Ihre Mutter.
Juliano Ribeiro Salgado: Für sie war es sehr hart. 1977, als die Portugiesen das Land verlassen hatten und die Südafrikaner nach Ruanda kamen, flohen Diplomaten, Journalisten, einfach jeder. Aber Sebastião beschloss, dorthin zu reisen. Die Südafrikaner schworen, ein großes Blutbad anzurichten und jeden umzubringen. Es war verrückt. Meine Mutter brachte Sebastião zum Flughafen. Sie fuhr zurück und dann überwältigten sie ihre Gefühle. Sie stoppte das Auto am Fahrbandrand. Sie dachte, er komme niemals zurück. Als Sebastião Angola für sie verließ, war er so glücklich. Das begriff sie und beschloss, sich niemals mehr zu sorgen, bevor nicht wirklich etwas passierte. Es passierte nie etwas.
globe-M: Sind Sie gemeinsam mit ihm verreist?
Juliano Ribeiro Salgado: Ja. Wir erzählen es nicht im Film, aber als ich vierzehn, fünfzehn und sechszehn Jahre alt war, waren wir einmal im Jahr unterwegs. Das erste Mal war es der Ärmelkanaltunnel, dann Indien, dann Ruanda. Da sah ich Sebastião das erste Mal arbeiten. Er ist ein großartiger und sehr intelligenter Künstler. Natürlich macht Sebastião diese wunderschönen schwarz-weiß-Kompositionen, aber ihn berühren die Leute, die er trifft. Diese Emotionen vermitteln auch seine Fotos. Ich denke, ich lernte viel von ihm, was die Arbeitsweise angeht und wie man auf Leute zugeht. Ich habe kein Problem damit, mich in andere Angelegenheiten einzumischen. Jeder, der sagt, dass er die Kamera einfach hinstellt und Dinge so laufen lässt, der lügt, weil sich durch eine Kamera alles ändert. Man kann sie nehmen, um Dinge zu provozieren anstatt etwas zu behaupten, was nicht ist.
globe-M: Sie studierten erst Rechtswissenschaft und Wirtschaft, um letztlich doch Regisseur zu werden. Lag das am Einfluss Ihres Vaters?
Juliano Ribeiro Salgado: Als Kind wurden meine Eltern immer von befreundeten Journalisten, die zu denselben Orten reisten, besucht. Ich hörte ihnen dabei zu, wie sie darüber diskutierten, was auf der ganzen Welt passiert. Ich interessierte mich schon immer für die geopolitischen Fakten und studierte Gesetze, die internationale Beziehungen beeinflussen. Als meine Freundin schwanger wurde, war ich Einundzwanzig und musste einen Job finden. Ich wollte keinen Schreibtischjob und beschloss, das gleiche wie Sebastião zu machen - nur mit einem bewegten Bild statt einer Standkamera.
globe-M: Seit 17 Jahren arbeiten Sie als Dokumentarfilmer. Mit „Das Salz der Erde" widmen Sie Sebastião Salgado eine filmische Hommage. Wie kam es dazu?
Juliano Ribiero Salgado: Alles begann vor zehn Jahren, als Sebastião darauf bestand, dass ich ihn auf seiner Reise zu dem indigenen Stamm der Zo'é im Norden Brasiliens begleite. Während wir im Amazonas waren, diskutierte ich viel mit Sebastião über das Erlebte. Er fotografierte, ich filmte. Als ich die Videos bearbeitete, war er sehr gerührt, wie ich das sehe. Auch Wim plante einen Film über Sebastião, weil ihn seine Bilder schon lange berührten.
globe-M: In den 1970ern, 1980ern wurde Sebastião Salgado kritisiert, dass er Leid ästhetisiere. Es ist das moralische Dilemma zwischen dem Anspruch, Armut und Krisen zeigen und trotzdem ein ansprechendes Bild zu machen. Wie gehen Sie mit den Vorwürfen um?
Juliano Ribeiro Salgado: Ja. Das ist eine wichtige Kritik von Susan Sontag. Sie kritisiert, wie die Medien eine Art Faszination für Tod und Leiden entwickeln, aber ihr ultimativer Aufruf ist der, dass die Bilder des Leids später als Konsumgüter verkauft werden. Das kritisierten Leute auch an Sebastião. Sie werden seiner Arbeit nicht gerecht. Sebastião nutzt nicht die Fotografie des Leids, um sich einen Namen zu machen, sondern riskiert sein Leben für seine Bilder. Er überträgt die Stimme der Menschen, mit denen er lebt, nach außen. Nimmt man Sontags Kritik wirklich ernst, dann verschließt man seine Augen vor der Welt, wie sie wirklich ist.
globe-M: Wie verarbeitet man all diese schrecklichen Bilder?
Juliano Ribeiro Salgado: Das ist sehr schwer, damit umzugehen. Für Sebastião und auch für mich. Ich war in Kriegsgebieten in Äthiopien, Afghanistan und Angola. Was wir tun, hat eine Bedeutung. Wir machen diese Bilder und diese Filme, um auf die Geschehnisse aufmerksam zu machen und Fragen aufzuwerfen. Man trifft auf sehr schwierige Situationen, aber weil es einen Grund gibt, ist unsere Arbeit sehr wertvoll.
globe-M: Mit dem Genesisprojekt schlug Sebastião Salgado im Jahr 2004 neue Wege ein. Außerdem gründete er das Instituto Terra zur Aufforstung gerodeter Wälder Brasiliens. Suchte er nach all dem Schmerz und Leid nach Frieden?
Juliano Ribeiro Salgado: In den letzten 40 Jahren wurde Sebastião Zeuge der brutalsten und barbarischsten Dinge. In gewisser Weise verlor er seinen Optimismus und Glauben, dass die menschliche Spezies nach dem Guten trachtet. Vielleicht bedeutet Genesis eine Entwicklung hin zum Zen, zur Balance. Durch seine künstlerische Reife konnte all die Negativität der Welt in etwas Positives und Hoffnungsvolles umgewandelt werden. Genesis zeigte die Vision einer Welt, wie sie sein kann. Rein und pur. Ein wunderschöner, geschützter Ort, wo die Dinge, Menschen und Tiere auf eine natürliche Weise miteinander verbunden sind. Sebastião verwandelte mit Lélias Hilfe seine Eindrücke in etwas, das beweist, dass schon morgen ein besserer Tag sein kann.
Juliano Ribeiro Salgado realisierte gemeinsam mit Wim Wenders den Dokumentarfilm „Das Salz der Erde (Original: Salt of the Earth)" über die Arbeit seines berühmten Vaters, den Fotografen Sebastião Salgado und seiner Frau Lélia Wanick Salgado. Im Gegensatz zu Sebastião Salgado arbeitet Juliano Ribeiro Salgado als Dokumentarfilmer. Aktuell plant er seine ersten Spielfilm. „Das Salz der Erde" läuft am 30. Oktober 2014 im Kino an.
Gemeinsam planten Sebastião Salgado und seiner Frau Lélia Wanick Salgado drei Langzeitprojekte: „Workers - Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters" (1993) über das weltweite Verschwinden traditioneller Handarbeit, „Migranten", „Kinder der Migration" (2000), die fotografische Dokumentation von Völkerwanderungen und Vertreibungen durch Naturkatastrophen und Kriege, Hunger und Unterdrückung und schließlich „Genesis ". Die Bildauswahl traf das Ehepaar stets gemeinsam. Lélia Wanick Salgado kümmert sich zudem um die Produktion, designt die Bildbände und organisiert Sebastião Salgados Ausstellungen. Salgado fotografiert ausschließlich in schwarz-weiß.
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