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Zeitloser Zeitgeist

Milan Kundera, ein genialer Kenner der menschlichen Gefühlswelt, ist im Alter von 94 Jahren gestorben

Im Jahr 2019 war Tschechien das Gastland der letzten präpandemischen Leipziger
Buchmesse und ich hatte die leise Hoffnung, dass Milan Kundera dort als
Überraschungsgast in Erscheinung treten würde. Doch der 1929 im tschechoslowakischen
Brno geborene Schriftsteller war kein Freund der Öffentlichkeit und schrieb zudem bereits
seit den 1980er-Jahren als französischer Staatsbürger in der französischen Sprache. Am 11.
Juli 2023 verstarb er in Paris.

Dank seines erfolgreichsten Romans »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« wird Milan
Kundera häufig als Kenner der Liebe mit all ihrem Schmerz wahrgenommen und zitiert. Doch
in mein Gedächtnis hat sich ein anderer Roman von ihm eingebrannt: »Der Scherz«, eine
Erzählung, die fast alle Facetten menschlicher Gefühle umfasst.

Kurz zusammengefasst: Der Student Ludvik wird wegen eines Scherzes auf einer Postkarte
aus Partei und Universität ausgeschlossen, muss Zwangsarbeit in einer Kohlegrube leisten
und will sich nach seiner Entlassung rächen, indem er die Frau des Mannes verführt, der
damals für seinen Ausschluss gesorgt hat.

Liebe, Rache, Tradition – Milan Kundera spottet so treffend über unsere fehlerhaften
Ansichten und Handlungen auf diesen Gebieten, dass das Lesen häufig wehtut. Wir können
einfach nicht anders, als sehenden oder blinden Auges in unser eigenes Unglück
hineinzulaufen. Auch Scham und Gewalt spielen eine große Rolle in »Der Scherz«. Eine
Szene lebt für immer in meinem Kopf: Der Gefangene Ludvik will seine Freundin Lucie
verführen, die er bei einem Freigang kennengelernt hat. Was aus seiner Sicht als liebevolles
Spiel beginnt, endet gewaltvoll. Selten hat man solch eine Szene aus Täterperspektive
gelesen, die gleichzeitig die Gefühle des Opfers so gut einfängt.

Milan Kundera wird häufig eine Musikalität nachgesagt, weil seine Texte einen ganz
besonderen Rhythmus entfalten. Doch die Kunst, aus all diesen Figuren, Gefühlen und
Themen ein Gesamtwerk zu schaffen, kann auch mit dem Teppichweben verglichen werden.

Die Geschichte und Geschichten dieses Teppichwebers erzählen von Europa: Prager
Frühling, Stalinismus, Emigration. Milan Kunderas Verhältnis zu seinem Heimatland blieb bis
zum Ende schwierig. Seine französischsprachigen Werke wurden nicht ins Tschechische
übersetzt. Zudem lastete der Vorwurf auf ihm, er habe 1950 einen antikommunistischen
Aktivisten bei der Polizei angezeigt.

Er, der sich am liebsten Romancier nannte, prägte durch sein Essay »Die Tragödie
Mitteleuropas« auch gesellschaftliche Debatten, indem er ein neues altes Verständnis der
Aufteilung Europas auf den Tisch brachte. Milan Kundera wollte die strikte Trennung zwischen Ost und West auflösen. Seine Werke geben den Zeitgeist von damals wieder und sind gleichzeitig voller zeitloser Empfindungen – Grund genug, sie (noch einmal) zu lesen.
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