„Hey! Mach Platz." Sunita fuchtelt wild, als wolle sie den Wagen neben ihr wegschieben. „Bleib gefälligst in deiner Spur!" Es ist früher Abend am Connaught Place, Hauptverkehrszeit im Zentrum Delhis, die Wagen stehen Stoßstange an Stoßstange, grüne Linienbusse neben breiten Luxusautos und schwarzen Taxen der Marke Ambassador. Dazwischen überall Autorikschas, es wird gehupt, gedrängelt, gebrüllt. Sunita Chaudhary ist in ihrem Element.
In Delhi gibt es 55.000 Auto-Rikschas. Wegen des Motorengeräuschs werden sie „Tuk-Tuk" genannt. Die grünen Dreiräder mit gelbem Dach sind das beliebteste Fortbewegungsmittel in Indiens Hauptstadt. Sie sind billig, schnell und schmal genug, um sich auch im dichtesten Stau zwischen den Autos hindurchschlängeln zu können. Sunita Chaudhary sticht aus ihren Tausenden Kollegen heraus. Sie ist in Delhi die einzige Frau am Steuer einer Autorikscha.
Breitbeinig sitzt die Siebenunddreißigjährige auf der Fahrerbank. Sie trägt Lederstiefel, Jeans und eine dünne lilafarbene Jacke. Mit beiden Händen umfasst sie die Lenkstange und schaut konzentriert ins Verkehrsmikado. Im Stau tun sich immer wieder Lücken auf zwischen den Autos. Die muss man nutzen, will man um diese Uhrzeit überhaupt vorankommen. Jetzt schneidet ihr ein weißer Mercedes den Weg ab. Sunita stampft mit dem Fuß aufs grüne Bodenblech: „Du Idiot!" Der Abendverkehr am Connaught Place bringt selbst sie aus der Fassung. Schon tut sich eine neue Lücke auf. Sofort dreht Sunita den rechten Lenkergriff ihrer Rikscha nach hinten. Ihr Tuk-Tuk schießt nach vorn und passt genau zwischen den blauen Toyota und den schwarzen Ambassador. Wieder ein halber Meter gewonnen. Sie lächelt. „Es gibt keine Regeln. Jeder kämpft für sich." Kämpfen hat sie gelernt.
Sunita Chaudhary wurde in einem Dorf im Bundesstaat Uttar Pradesh geboren. Wie alle Mädchen musste sie im Haushalt helfen. Bildung oder gar ein Beruf sind ungewöhnlich für Frauen auf dem Land. Die meiste Zeit war Sunita zu Hause, putzte, kochte und wusch. Die Eltern suchten einen Ehemann für sie, mit 14 heiratete sie ihn. Zunächst war alles in Ordnung, sagt sie. Sicher, ihr Mann hat sie hin und wieder geschlagen. Sie sagte nichts, sie wollte eine gute Ehefrau sein. Aber ein Jahr später änderte sich ihr Leben von Grund auf. Sie holt tief Luft und beginnt zu erzählen, in sich gekehrt, mit gesenktem Blick: Vier Männer waren es. Ihr Ehemann und drei Freunde.
Gegen alle Widerstände
Sie fielen über sie her, schlugen und misshandelten sie. Sunita ballt die Fäuste. „Dann wollten sie mich aufhängen." Die Männer legten ihr ein Seil um den Hals. „Hier", sagt Sunita und drückt mit dem Zeigefinger auf eine Narbe an der Kehle. „Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden. Mein Mann und seine Freunde gruben gerade ein Loch." Ihr war sofort klar, was sie da sah - ihr Grab. „Ich rannte los, von Todesangst getrieben." In einem Waisenhaus fand sie Unterschlupf. Die Leute fragten nicht viel, und Sunita sagte nicht viel. Keiner sollte wissen, wer sie ist und was ihr angetan wurde.
Heute ist das anders. Sunita hat gelernt zu kämpfen. Um Erfolg zu haben, müsse man mitunter laut werden. „Keiner hat mir etwas geschenkt, aber ich habe es trotzdem geschafft", sagt sie. Drei Monate blieb sie in dem Waisenhaus. Sie erholte sich und schöpfte Kraft. „Doch bleiben konnte ich dort nicht." Sie war damals gerade 16 Jahre alt und hatte nichts: kein Zuhause, keine Ausbildung, keine Freunde. Nur einen 50-Rupien-Schein trug sie in der Hosentasche. Das war ihr Hab und Gut, umgerechnet 70 Cent. So machte sie sich auf in die Hauptstadt - und hatte Glück. Mitten in der gewaltigen Stadt traf sie ein Mädchen aus ihrem Heimatdorf, das ihr eine Stelle als Putzfrau vermittelte. Mal putzte sie die Wohnungen der Wohlhabenden, mal die Gänge eines städtischen Krankenhauses.
„Mein Antrieb war der Hass", sagt Sunita Chaudhary. Hass auf den Ehemann und die anderen Männer, die ihr das angetan hatten. „Ich wollte mich einfach nur rächen an diesen Mistkerlen. Ich nahm sogar Schießunterricht." Ihr Körper verkrampft sich noch heute, wenn sie von damals spricht. Schließlich kämpfte sie vor Gericht gegen die Täter. Anfangs wollte ihr niemand glauben. „Eine Frau, ganz allein, ohne Zeugen, hat es schwer." Immer wieder wurde sie abgewiesen, niemand wollte sich ihres Falles annehmen. Doch sie gab nicht auf. „Ich bin einfach am nächsten Tag wieder hingegangen. Schließlich habe ich auch Rechte." Es dauerte Monate, aber es lohnte sich. „Alle sitzen hinter Gittern." Damals schöpfte sie neue Hoffnung, konnte endlich nach vorn schauen.
Sie suchte einen Job mit geregeltem Einkommen. Als Mädchen vom Dorf, ohne Geld, Beziehungen oder Bildung, hatte sie keine hohen Ansprüche. Eines Abends, sie fuhr mit dem Bus zum Putzen, sah sie dem Fahrer zu, wie er den dreckigen Koloss durch die Gassen der Hauptstadt manövrierte. Sunita war fasziniert und beschloss, Fahrerin zu werden, Rikschafahrerin.
Ein Führerschein musste her und ein Beförderungsschein. Die Behördengänge waren zermürbend, man wies sie von Tür zu Tür, und am Ende sagten irgendwelche Bürokraten nein. Die Behörden verboten ihr sogar, die Prüfungen abzulegen: „Bist du denn verrückt? Du bist eine Frau. Frauen bekommen keinen Führerschein. Das ist viel zu gefährlich." Drei Jahre dauerte es, dann hielt sie den Führerschein und den Beförderungsschein in der Hand. Sie war 19, die erste Rikschafahrerin Delhis und überglücklich. Sie mietete ihre Tuk-Tuks zu einer Tagesrate von 300 Rupien.
„Ich kann Scheißkerle riechen"
Bei einem Verdienst von 400 Rupien am Tag blieben ihr 100 Rupien, knapp 1,40 Euro. Davon sparte sie noch auf eine eigene Rikscha. Geld war nicht das einzige Problem. Nicht nur aus Sicht der indischen Behörden ist Rikschafahren ein Männerberuf. Frauen haben am Steuer nichts zu suchen. Man zerschnitt das Dach ihrer Rikscha, ließ Luft aus den Reifen oder schlitzte sie auf, stahl Sachen aus dem Gefährt. Delhi ist ein unsicherer Ort für Frauen. Sunita wurde bedroht und geschlagen. „Auch von der Verkehrspolizei. Drei Mal." Aber sie ließ sich nicht unterkriegen. In der Rikscha liegt jetzt immer ein Stock, im Stiefelschaft steckt immer ein Messer.
Auch für viele Fahrgäste war eine Frau am Rikschasteuer zu viel. Sie stiegen nicht ein, schickten sie fort und warteten auf die nächste mit einem Mann am Steuer. Lieber würden sie laufen, sagte man ihr. Sunita schätzt, dass drei von fünf Leuten am Straßenrand bei ihr einsteigen. Wer es über sich bringt, ist von ihren Fahrkünsten beeindruckt. „Anfangs kannte ich mich in Delhi nicht aus. Also bat ich die Leute, mir den Weg zu zeigen. Dafür mussten sie fünf bis zehn Rupien weniger zahlen."
Sunita Chaudhary sparte, wo sie nur konnte: Sie schlief in der Rikscha, umziehen und waschen konnte sie sich auf den Bahnhofstoiletten. Doch sosehr sie ihre Ausgaben auch beschränkte, irgendwann war ihr klar, dass sie für eine eigene Rikscha nie genug Geld beiseitelegen könnte. Also tat sie etwas Ungewöhnliches, sie bat um Hilfe. Scheu hat sie keine, und so schrieb sie sogar an den Premierminister und bat um einen Kredit.
Geantwortet hat er nie. „Vor drei Jahren gab es dann ein Angebot für arme Leute in Delhi." Sie kaufte eine Rikscha, die Hälfte des Preises wurde ihr erlassen, die andere Hälfte durch einen Kredit gedeckt. Am 26. März 2010 war es so weit: Sunita fuhr das erste Mal mit ihrer eigenen Rikscha durch Delhi. „Es war phantastisch. Jedes Jahr feiere ich diesen Tag. Es ist mein zweiter Geburtstag", sagt sie.
Seit diesem zweiten Geburtstag ist Sunita Chaudhary mit ihrer Rikscha auf Delhis Straßen unterwegs, jeden Tag von 6 Uhr morgens bis 24 Uhr nachts. Vor allem seit dem Vergewaltigungsfall im vergangenen Dezember rufen viele Frauen Sunita an und möchten mit ihr fahren. Sie selbst hat keine Angst. „Ich kann Scheißkerle riechen." Sie hat ihr Ziel erreicht, mit Beharrlichkeit, Mut und Durchsetzungsvermögen. Müde ist sie aber nicht, noch immer kämpft sie, inzwischen auch für andere: So gründete sie eine Art Fahrschule für Frauen, die Rikschafahrerin werden wollen. Im Erfolgsfall wäre Sunita Chaudhary zwar noch immer einzigartig, aber nicht mehr allein.
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