Lutz Jäkel

Foto- und Videojournalist, Autor, Vortragsreferent, Berlin

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Reportage

Syrien: Abt Paolo. Der geteilte Glaube

Nördlich von Damaskus lebte der Jesuitenpater Paolo Dell' Aglio im Kloster Mar Musa. Dorthin hat er vor allem junge Christen und Muslime für einen interreligiösen Dialog eingeladen. Die unten stehende Reportage ist 2003 in der Frankfurter Rundschau erschienen. Seit dem 29. Juli 2013 ist Abt Paolo seit einem Besuch in Raqqa in Syrien verschwunden. Er wurde vermutlich von Kämpfern des "Islamischen Staates" entführt. Über sein Schicksal ist nichts bekannt.

Es ist ein Kloster, aber ein Ort der Ruhe und Einsamkeit ist es nicht. Mit großen Schritten kommt Paolo Dell’ Aglio den Besuchern entgegen. Die Gruppe junger Maroniten aus der Küstenstadt Lattakia schleppt sich keuchend die vielen Stufen den Berg hinauf. Immerhin, es gibt Stufen, früher war es nur ein steiniger, holpriger Weg. Großgewachsen ist Paolo, hat einen schwarz-grauen Vollbart, die Haare sind kurz geschoren. Seine braunen Augen, seine sonore Stimme und sein kräftiger Händedruck verleihen dem 50-jährigen in der Kutte Würde. Der Jesuitenpater aus Rom ist Abt des etwa 80 Kilometer nördlich von Damaskus gelegenen Klosters  „Mar Musa al-Habaschi“. Und dieses Kloster ist für ihn eine Mission geworden. „Kommen Sie, kommen Sie!“, ruft er den Besuchern zu, „Ahlan wa-Sahlan, Herzlich willkommen“, und eilt wieder mit großen Schritten voraus.

Paolo kam in den 1970er Jahren nach Damaskus, lernte zunächst Arabisch und studierte später Islamwissenschaften. Es war eine Zeit der politischen Turbulenzen: Zunächst der Yom-Kippur-Krieg, später die iranische Revolution, die Auseinandersetzungen im so genannten Nahost-Konflikt prägten auch die politische Diskussion und den Alltag in Syrien. Paolo sah sich vor die Frage gestellt, welche Rolle dabei die Kirche einnehmen könne in einem Land, in dem das Nebeneinander von Religionen seit jeher selbstverständlich ist. Viele Kulturen haben über Jahrtausende dieses Land geprägt, religiöse Toleranz konnte hier leicht ihren Nährboden finden.

Eine Antwort auf seine Frage fand der junge Geistliche 1982, als er zum ersten Mal das Kloster Mar Musa, des „Heiligen Moses“, besuchte. Über 150 Jahre zuvor hatten die letzten Mönche das orthodoxe Kloster verlassen, vieles lag in Ruinen. Schon seit dem sechsten Jahrhundert zogen sich Mönche in die Schluchten der kargen, hellbraun-gelben Felsen zurück. Zunächst lebten sie in Höhlen, im 11. Jahrhundert bauten sie schließlich die ersten Mauern. „Als ich die Ruinen sah und dort betete“, sagt Paolo „war für mich klar, dass ich als Katholik dieses ehemals orthodoxe Kloster aufbauen und einen Ort der religiösen und kulturellen Begegnung schaffen würde. Für Christen und Muslime.“ 

Mit finanzieller Hilfe der EU wurde sein Vorhaben in langjähriger Arbeit realisiert. Nun bietet es den Lebensmittelpunkt für fünf Mönche – und für drei Nonnen. Es ist ein progressives Kloster. Das zeigt sich auch in der Ausstattung: Selbstverständlich gibt es Strom und Telefon. Im Internet recherchieren und E-Mails schreiben? In der Bibliothek steht das nötige Equipment. Die Mönche und Nonnen leben zurückgezogen, aber nicht hinter dem Mond. Nur das Handynetz hat Deir Mar Musa noch nicht erreicht. ‚Gott sei Dank’ möchte man sagen.

Dialog mit dem Islam

Durch eine kleine, sehr kleine Tür betritt man das Kloster. Nur gebeugt und langsamen Schrittes kann man eintreten, eine symbolische Verbeugung vor Gott, aber auch eine Verteidigungsmaßnahme. Auf der Terrasse des Klosters haben sich die Besucher versammelt. Neben der Gruppe aus Lattakia sind auch Maroniten aus dem Libanon, die dort die Mehrheit unter den christlichen Konfessionen stellen, gekommen. Sie reden, diskutieren, streiten und lachen miteinander. Es ist eben kein Ort der Ruhe, aber das soll es auch nicht sein, sagt Paolo, der es sich in einem schattigen Platz auf einem Stuhl bequem macht. Er möchte die drei Grundlagen eines monastischen Lebens erläutern, die er hier verwirklicht sieht und auf denen alle im Kloster ihre Arbeit aufbauen.

Er schließt die Augen, hält kurz inne, als habe er Ehrfurcht vor dem, was er gleich sagen wird: „Ich halte es zum Einen für absolut notwendig, dass gerade die jetzige Generation die Spiritualität und die Beziehung zu Gott wiederentdeckt. Und zwar weit über die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe hinaus.“ Der Abt macht erneut eine Pause. Man müsse, fährt er fort, die Grenzen der eigenen Kultur, des eigenen kulturellen Ghettos durchbrechen. „Dem Dialog mit dem Islam kommt dabei eine besondere Rolle zu, schließlich ist die christlich-muslimische Beziehung im Vorderen Orient vierzehn Jahrhunderte alt.“ Paolo beugt sich vor und schaut seine Zuhörer scharf an, auf das diese die Botschaft hören: „Der neue Weg der Mission ist es, den Glauben zu teilen.“
 
Dies sei auch der Grund, warum das Kloster christlichen Besuchern Seminare über den Islam anbietet. Muslime werden eingeladen, sich an diesem Dialog zu beteiligen. „Dieses Konzept, dieser Dialog funktioniert, die Botschaft wird verstanden“, bekräftigt Paolo. Allerdings würde er sich freuen, wenn sich noch mehr Muslime für diesen Dialog interessierten. Damit spricht er ein Problem an, das im Alltag nur bei genauerem Hinsehen in Erscheinung tritt: Rund zehn Prozent Christen unterschiedlichster Konfessionen leben in Syrien, doch Muslime und Christen leben häufig neben- als miteinander. Auch wenn dieses Nebeneinander friedlich ist.

Paolo betont noch ein weiteres Problem: Die Medien in aller Welt vermittelten Bilder von Konflikten, die sogar hier im Kloster ihre sozialen Auswirkungen haben. Als im Frühjahr 2003 alliierte Truppen unter der Führung der USA in den Irak einmarschierten, führte das in einem Nachbarort des Klosters zu Spannungen zwischen der christlichen und muslimischen Bevölkerung. Die vom amerikanischen Präsidenten George W. Bush in Spiel gebrachte Terminologie eines „neuen Kreuzzuges“ schürte Misstrauen auf muslimischer Seite. Sie befürchteten plötzlich, Christen könnten Gebietsansprüche erheben. Wie damals im 12. Jahrhundert. Man erinnerte sich, warum noch heute in Gegenden um ehemalige Kreuzfahrerburgen Dörfer existieren, in denen ausschließlich Christen leben. Dort gibt es weit und breit keine Moschee.

Das Kloster ist nicht Syrien

Paolo schließt wieder die Augen. Verweilt einen Augenblick bei seinen Gedanken. Die zweite Grundlage, so fährt er fort, bilde das Leben in der Klostergemeinschaft. „Neben Gebet, Schweigen und Studium steht natürlich die Arbeit im Vordergrund. Das Kloster darf dabei kein Ort der Einsamkeit sein, im Gegenteil: Es muss die Menschen anziehen.“ Und dazu gehöre die dritte Grundlage: Gastfreundschaft. Schon Abraham hatte schließlich seine Gäste offen empfangen. „Gastfreundschaft bedeutet, Liebe für den anderen zu empfinden.“, sagt Paolo. Dazu gehört offenbar auch das gemeinschaftliche Zusammenleben von Mönchen und Nonnen. „Das hat sich so ergeben“, erzählt der Abt weiter. „Die Nonnen waren eines Tages hier zu Besuch, sie sind geblieben, und wir haben gelernt, dass der Dialog zwischen Männern und Frauen die wichtigste Voraussetzung des Zusammenlebens ist.“ Ramona, die von den Golan Höhen stammende Nonne, hat sich zum Gespräch dazu gesetzt. Sie kann ihr Grinsen nicht verbergen, weil sie die nächste Frage erahnt. Und der Abt natürlich auch: „Oh, ich weiß, was Sie denken, aber glauben Sie mir: Enthaltsamkeit gilt selbstverständlich auch für uns. Frauen und Männer leben hier getrennt.“ Er lacht: „Das ist nicht immer leicht, aber immer interessant.“

Den 30-jährigen Novizen Frederik hat es aus Frankreich in das Kloster verschlagen. Zwei Jahre noch möchte er hier leben, dann für ein Studium nach Rom gehen. Warum Syrien? Als sei die Frage blasphemisch, antwortet Frederik etwas konsterniert: „Das Kloster ist nicht Syrien. Es ist ein Ort Gottes.“

Die kleine Glocke der Kirche läutet. Zeit für die Abendandacht. Die Teilnahme ist für Gäste nicht Pflicht. Doch viele der jungen Menschen aus Lattakia, die mit ihrem Priester hierhergekommen sind, die Mönche und Nonnen und natürlich Abuna, „unser Vater“, wie die Menschen hier Paolo nennen, versammeln sich in der kleinen Kapelle. Sanftes Kerzenlicht erhellt den Raum, der Boden ist mit Teppichen ausgelegt. Weihrauch erfüllt die Luft. Vor dem Altar liegen auf Buchständern das Neue und Alte Testament auf Arabisch. Vor dem Gebet wird zunächst geschwiegen. Eine Stunde lang. Zeit für innere Einkehr. Es kann also doch ein Ort der Ruhe sein.

Während der Blick über die Fresken mit Szenen aus dem Leben Jesu und dem Jüngsten Gericht schweift, fällt auf: Der Altarraum, der wie alle Kirchen nach Osten ausgerichtet ist, wird vom Gebetsraum durch eine für eine orthodoxe Kirche typische Ikonostase getrennt. Eine Reminiszenz an die orthodoxe Vergangenheit und zugleich an die katholische Gegenwart. Die Ikonostase ist nicht vollständig verhängt, sie wird nur angedeutet und ist durchlässig für Blicke.

Der Gottesdienst beginnt. Der Priester aus Lattakia hält eine kurze Predigt. Paolo hört mit geschlossenen Augen zu. Freiwillige lesen danach aus der arabischen Bibel vor. Myriam aus Beirut, die mit ihrer Freundin für ein paar Tage in das Kloster gekommen ist, trägt aus der Genesis vor. Ein junger Mann singt mit Inbrunst das Vaterunser. Schließlich bricht der Priester das Fladenbrot und verteilt es an die Versammelten. Nach einer Stunde Schweigen und gut anderthalb Stunden Andacht treffen sich alle wieder auf der Terrasse zum gemeinsamen Essen. Die Stimmung ist ausgelassen, entspannt. Die Nacht hat inzwischen die Landschaft in tiefes, samtenes Schwarz getaucht. Kaum ein Licht stört den Blick auf den funkelnden Sternenhimmel. Es ist wohl diese Spiritualität, die sich Abt Paolo für die jungen Menschen wünscht.

Geige spielen lernen im Paradies

Am nächsten Morgen verabschiedet sich Paolo von seinen Gästen. Er muss für ein paar Tage nach Rom reisen. Er hat noch viele Pläne. Ableger dieses Klosters in anderen islamischen Ländern gründen zum Beispiel. Verhandlungen mit Iran und Pakistan laufen bereits, zwei der Mönche studieren zurzeit in Rom, um die Botschaft des Klosters auch in „der Zentrale“ zu verbreiten. „Aber es gibt noch zwei andere Dinge, die ich lernen möchte, allerdings erst im Paradies“, ruft Paolo bei der Verabschiedung noch hinterher: „Deutsch sprechen und Geige spielen. Beides werde ich im Diesseits nicht mehr schaffen. Es gibt zuviel zu tun.“