Marokko: Land der kulinarischen Vielfalt
Al-Maghreb, „wo die Sonne untergeht“, so nannten die Araber die Region ganz im Westen, als sie Nordafrika im achten Jahrhundert eroberten und ihr Reich bis nach Spanien ausdehnten. Vom arabischen „al-Maghreb“ bekam Marokko sein Namen. Kaum ein anderes Land Nordafrikas ist von so vielen verschiedenen Kulturen beeinflusst: von Berbern und Schwarzafrikanern, von muslimischen Arabern und Juden, von der französischen Kolonialzeit. Einzigartig ist auch seine Landschaft, die sich von den saftig-grünen Hügeln im Norden über die oft schneebedeckten Bergen des Atlas und den malerischen Küsten des Mittelmeeres und des Atlantiks bis in die Ausläufer der Sahara im Süden erstreckt. Hier gedeiht fast alles, was das Herz begehrt: Orangen, Zitronen, Grapefruit, Kirschen, Äpfel, Aprikosen, Pflaumen, Birnen und Quitten, um nur einige der Obstbäume zu nennen. Zitronen werden gerne in Salzwasser eingelegt.
Auch die Blüten der Früchte werden noch verarbeitet, etwa zu Rosenblütenwasser oder dem fast noch schmackhafteren Orangenblütenwasser, das vielen Desserts erst ihren besonderen Geschmack verleiht. Marokkanischer Safran, die Stengeln der Krokusblüte vor allem aus dem südmarokkanischen Ort Taliouine, zählt neben dem iranischen zum weltbesten. Dazu kommen Mandeln, Oliven, Datteln, Mispeln, Walnüsse, Melonen, Kaktusfrüchte sowie unzählige Gemüsesorten, Gewürze und Kräuter. Am wichtigsten für die Küche sind Minze, glatte Petersilie und Koriander. Minzetee ist ein Nationalgetränk in Marokko: „Das erste Glas ist stark wie das Leben, das zweite süß wie die Liebe, das dritte bitter wie der Tod“, sagen die Marokkaner.
Durch Handel und kulturellen Austausch wurde die Küche des Landes reich beschenkt, und so entstand nach und nach eine kulinarische Tradition, die heute aufgrund ihres Abwechslungsreichtums und ihres Raffinements zu den besten Küchen der Welt gezählt wird. Eindrucksvoll kann man das in Marrakesch auf dem „Platz der Gehenkten“ erleben, wie der große Platz Dschama al-Fna im Zentrum der Stadt übersetzt heißt. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden hier Verbrecher hingerichtet. Heute bekommen Besucher andere, weniger martialische Schauspiele geboten.
Quacksalber breiten am Morgen ihre Tücher auf dem Boden aus und verkaufen ihre Heilmittelchen gegen alle Leiden dieser Welt, Wunderheiler bieten ihre Dienste als selbst ernannte Zahnärzte an, gleich daneben springen kleine Affen rückwärts von den Schultern ihrer Bändiger, die dafür einen Obolus erbeten. Artisten, Schlangenbeschwörer und Feuerschlucker beeindrucken mit ebenso artistischen Einlagen, während Wahrsager und Märchenerzähler mit ihren Geschichten die Zuhörer in ihren Bann ziehen.
Gegen Abend verändert sich die Szenerie auf der Dschama al-Fna wie von Geisterhand. Dann entsteht das größte Schlemmerparadies unter freiem Himmel, Köche in weißen Kitteln bauen ihre mobilen Garküchen auf dem Platz auf und bieten ihre Leckereien feil, die in ganz Marokko beliebt sind: Couscous mit Gemüse oder Hühnchen, kräftige Suppen wie die „Harira“, gegrillter Fisch oder Hammelwürstchen, Schnecken, Tadschin-Gerichte und vieles mehr wandern in hungrige Münder. Wenn es dunkel wird, zischeln Flammen in die Höhe, weiße Rauchschwaden tauchen die Menge in ein surreales Gewand, das nur durch die Lichter der Glühlampen und die Rufe der Köche durchbrochen wird.
Erst zu später Nacht kehrt Ruhe ein. In einigen der palastartigen Häuser Marrakeschs, in Marokko „Riads“ genannt, finden sich hervorragende Restaurants, die eine Besonderheit haben, die im Orient einmalig ist: Wenn Marokkaner auswärts essen gehen, dann dort, wo sie sicher sein können, dass die Küche von einer Chefköchin geführt wird. Steht ein Mann am Herd, spricht das nicht für die Qualität des Restaurants, so sind sie überzeugt. Ein berühmtes Restaurant in Marrakesch, das Al-Fassia, wird komplett von Frauen geführt, der einzige Mann ist die „Putzfrau“.
Alles ist würzig in den Suks
Marrakesch ist wie ein Mikrokosmos von Marokko. Und Marrakesch ist vor allem eines: ein Gewirr aus Häusern, Läden, Werkstätten und Gassen, die so schmal sind, dass Autos und Motorräder kaum eine Chance haben, dazwischen quirliges Treiben. Elias Canetti schreibt in seinem Buch „Die Stimmen von Marrakesch“ meisterhaft: „Es ist würzig in den Suks, es ist kühl und farbig. Der Geruch, der immer angenehm ist, ändert sich allmählich, je nach der Natur der Waren. Es gibt keine Namen und Schilder, es gibt kein Glas. Alles was zu verkaufen ist, ist ausgestellt … Man findet alles, aber man findet es immer vielfach.“
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Dieser Text ist ein Auszug aus dem Länderessay "Marokko" des karitativen Kochbuchs "Hand in Hand", bei dem 50 Sterne- und Spitzenköche mit Flüchtlingen aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan, Nepal, Gambia und Marokko zusammen kochen.