Havanna: Späte Liebe am Meer, mitten im Wohnzimmer
Es gibt zwei Fischerdörfer am
Rande Havannas. Eines ist bekannt bei Touristen, das andere bei Habaneros und
Habaneras. Cojímar heißt das eine Dorf, es liegt rund zehn Kilometer östlich
von Havanna. Berühmt ist es alleine wegen ihm: Ernest Hemingway. Denn in
Cojímar lag seine Jacht Pilar an der Pier, hier ging er nach dem Angeln
in das Restaurant La Terraza, das es auch heute noch gibt, lud die
Fischer auf Rum und Bier ein und
lauschte ihren Geschichten. Hier soll Hemingway die Geschichte gehört haben,
die ihm zu seinem Roman Der alte Mann und das Meer inspirierte, für den
er 1954 den Literatur-Nobelpreis erhielt.
Im Ort, direkt neben der Festung und
unweit der Pier, erinnert eine Bronzebüste an den berühmten Schriftsteller, von
den Fischern Cojímars aus Dankbarkeit selbst bezahlt. Auch Hemingways Finca Vigía,
auf der er die meiste Zeit seines über zwanzigjährigen Lebens auf Kuba
verbrachte, ist nur eine halbe Stunde mit dem Auto von Cojímar entfernt. Alles
Orte für Literatur-Pilgerreisende.
Das andere Fischerdorf heißt Baracoa
und liegt rund zehn Kilometer westlich von Havanna. Hier leben noch echte
Fischer, bei einem Spaziergang durch den Ort wird man dezent, aber regelmäßig
angesprochen, ob man Bedarf an frischem Fisch und vor allem an Langusten habe.
Natürlich hat man. Auch wenn der Verkauf von Langusten eigentlich illegal ist,
sie sollen Restaurants vorbehalten bleiben, die Devisen bringen.
Aber auch Fischer wollen leben und verdienen sich ein paar CUC, Pesos Convertibles, dazu. Kauft man Langusten in „haushaltsüblichen“ Mengen, wird es auch geduldet, irgendwie, zumindest solange die Ware gut im Fußraum des Autos oder Taxis deponiert ist. Der Preis für zwei Kilo Langusten treibt einen Freudentränen in die Augen: umgerechnet rund 20 Euro. In Deutschland zahlt man dafür fast das Zehnfache. Gut, dass Baracoa, seine Fischer und seine guten Restaurants fast nur bei Kubanern bekannt sind.
Vom Chirurg zum Koch
Die Sonne steht schon tief, das
Meer schwappt direkt an die Veranda, obwohl der Wasserstand ungewöhnlich
niedrig ist. Woran das liegt, weiß Julio nicht. Aber er weiß genau, wann er und
seine Frau Iskra ihr kleines Restaurant in Baracoa eröffnet haben; denn es hat
ihr Leben verändert: Vor 3 Jahren und zwei Monaten. Es ist noch ein klassisches
Paladar, ein kleines
familiengeführtes Restaurant, von denen es in Havanna in dieser Art nicht mehr
so viele gibt.
Gerade mal drei Tische stehen darin, die große Tür zur kleinen
Veranda lässt die Gäste auf das Meer blicken, alles ist liebevoll mit allerlei
Meeresdekorationen geschmückt, Fotos hängen an der Wand, im Hintergrund läuft
schöner kubanischer Bolero, als wir uns umschauen spielt gerade Bacalao con pan, Kabeljau mit Brot. Doch
Iskra schränkt sogleich ein: „Nein nein, wir sind kein Paladar, auch kein Restaurant. Es ist unser Zuhause, das wir
unseren Gästen öffnen.“ Und das ist nicht nur symbolisch gemeint, es ist
wirklich ihr Zuhause. Wir sitzen an einem der Tische und damit quasi im
ehemaligen Ess- und Wohnzimmer, die Küche ist die Küche des Hauses, geblieben
ist noch das Schlafzimmer im hinteren Teil.
Julio
heißt das Restaurant. Denn Julio wohnt schon seit über dreißig Jahren hier, er
hat das kleine Haus von seiner Tante geerbt. Im Familienbesitz ist es aber
schon länger. Auch daran kann sich Julio gut erinnern: „Seit der Revolution
1959“, sagt er und lächelt dabei verschmitzt. Womit er wohl meint: Die früheren
Besitzer wurden mit der Revolution enteignet. Aber die Familie lebte seit jeher
am Meer, schon vor der Revolution hatten sie in der Nähe von Piñar
del Rio ein Haus direkt am Wasser. Und auch Kochen ist seit Generationen eine
lieb gehegte Tradition in Julios Familie, Urgroßeltern, Großeltern, Papa, Mama,
alles Spitzenköche. Allen voran bei Fisch und Meeresfrüchten. Im wahrsten Sinne
des Wortes: naheliegend. So werden bei Julio und Iskra nicht einfach nur
köstliche Speisen angeboten, sondern Familienrezepte weitergegeben. Allerdings:
Auch wenn Julios Spezialität ein Meeresfrüchteeintopf ist, seine Leibspeise ist alles mit Rindergehacktem, Iskra isst am liebsten
Schweinfleisch.
Dass Julio aber mal in der Küche
eines eigenen kleinen Restaurants stehen und nicht nur für die Familie kochen
würde, ahnte er indes nicht. Ein Satz, eingerahmt an der Wand hängend, verrät
den Hintergrund. Ein Freund hat ihn mal gesagt: „Julio, man weiß nicht, ob du
ein kochender Chirurg bist oder ein operierender Koch!“ Julio ist tatsächlich
Chirurg, der viele Jahre eine Abteilung in einem Krankenhaus geführt und an der
medizinischen Hochschule als Dozent gearbeitet hat. Iskra ist Logopädin und war
zuletzt Leiterin der Reha-Abteilung derselben Klinik, in der Julio arbeitete.
„Er war damals mein Chef“, sagt sie. „Und heute ist sie die Chefin“, sagt er
augenzwinkernd.
Dass beide in gut ausgebildeten Berufen eines Tages
umschwenkten, ist nicht untypisch für Kuba. Es zeigt vielmehr das Problem des
sozialistischen Systems à la Fidel Castro. Als Arzt verdient man rund 800 Pesos
im Monat – nicht mal 35 Euro. Trotz hoher Subventionen für
Grundnahrungsmitteln, Wohnung und Strom kann davon auch in Kuba fast niemand leben.
Der unglückliche Zufall wollte es bei Julio und Iskra, dass beide Väter schwer
krank wurden. Die Pflege, die notwendigen Medikamente und das alltägliche Leben
konnten sich beide nicht mehr leisten. Eine Alternative musste her. So kam die
Idee auf, die andere Leidenschaft Julios, das Kochen, zu einem Geschäft zu
machen. Das eigene Wohnhaus wurde kurzerhand in ein Paladar, pardon, in ein neues Zuhause für hungrige Gäste
umgewandelt. Das ist die Krux des Systems: Ein Besitzer eines kleinen
Restaurants mit gerade mal drei Tischen verdient mehr Geld als ein Arzt und
eine Logopädin zusammen, die beide in leitenden Positionen tätig waren.
Julio und Iskra haben sich damit
nicht nur abgefunden, sie genießen es sogar. „Früher haben wir sehr hart
gearbeitet“, erzählt Julio und hält die Hand seiner Frau fest. „Heute bekommen
wir vieles zurück, denn wir haben viele Stammgäste, die jedes Mal so dankbar
sind, wenn sie hier gegessen haben und vielleicht den ganzen Tag in Baracoa
verbracht haben.“ Gleich nebenan haben sie ein Zimmer mit separatem Eingang zum
Mieten eingerichtet, es gibt einen Steg, von dem man direkt ins Meer hüpfen
kann und an dem die Fischer anlegen, um den frischen Fang direkt bei Julio und
Iskra zu verkaufen. Sie suchen sich ihre Gäste ganz genau aus, lehnen auch mal
ab mit dem Vorwand, es sei alles reserviert, „wenn wir das Gefühl haben, sie
passen nicht in unser Wohnzimmer“, sagt Iskra.
Daher ist es ihnen auch relativ
gleichgültig, dass immer mehr Touristen kommen im Zuge der Entspannung zwischen
Kuba und den USA. „Wir brauchen keine Busladungen von Touristen, wir möchten
unsere Ruhe behalten. Und den Platz haben wir sowieso nicht“, sagt Julio.
Ohnehin sind die meisten Gäste aus Havanna. Daher weist auch kein Schild in
Baracoa auf Julio hin, man muss sich
durchfragen, am besten in der örtlichen Poliklinik, denn Julio liegt schwer einsehbar gleich dahinter. Nur von der Hafenmole
aus erkennt man das Grün gestrichene Haus mit dem großen Schriftzug Julio. Dass es sich um eine Art
Restaurant handelt, kann man nur erahnen.
Julio und Iskra empfinden es
nicht als Verlust, einen Bereich ihres Hauses, der früher ihr ganz privater
Bereich war, heute mit anderen Menschen zu teilen, sie sehen es als Gewinn.
„Wir lernen jeden Tag neue Menschen kennen“, erzählt Iskra, „und wir haben Zeit
für sie. Im Krankenhaus hatten wir das nicht.“ Auch ein bisschen als soziales
Projekt betrachten sie ihr Zuhause, denn Julio ist zwar der Chef in der Küche,
nach seinen Anweisungen wird gekocht. Aber am Herd selbst stehen zwei junge Männer,
Jorge und Ismaelito, der nur „El Negro“, der Schwarze, genannt wird, obwohl er
gar nicht so schwarz ist. Niemand weiß mehr so recht, woher der Spitzname
kommt. Beide stammen aus Baracoa, sie sind die Söhne von Freunden.
„Jorge und
El Negro sind von Anfang an dabei, sie waren auf Jobsuche, da haben wir ihnen
geholfen. Dabei konnten sie nicht mal ein Ei richtig braten. Das war eine
Herausforderung“, erzählt Julio lächelnd, während El Negro Langusten zubereitet
und Jorge Bananen mit Thunfisch füllt. „Aber nun sind sie richtig gute Köche
und sollen vielleicht mal unsere Nachfolger werden“.
Auch wenn Julio, 59, und
Iskra, 53, noch lange nicht ans Aufhören denken. Sie genießen erst mal ihre
Zeit, ihr neues Leben. „Apropos“, fragt Dayami, „wie lange seid ihr beide
eigentlich schon verheiratet?“ Sie lächeln, schauen sich an. Iskra sagt: „Wir
sind gar nicht verheiratet. Und wir sind noch gar nicht so lange zusammen, wie
ihr vielleicht glaubt: seit neun Jahren.“ Sie nimmt seine Hand und sagt: „Die
Liebe, die wir führen, ist eine ganz besondere. Denn es ist die Liebe, auf die
wir beide lange gewartet haben. Jetzt genießen wir.“ Julio bekommt feuchte
Augen und sagt nichts.
Hinweis: Diese Reportage ist eines von mehreren Porträts aus dem Kochbuch und Textbildband "The Taste of Havana".