Sein Büro ist ein reines Chaos. Kartons, Unterlagen, Keramik hier, Keramik dort, alles bunt neben- und übereinander gestapelt. Und viele Fotos und Zeitungsausschnitte: Sitki in Istanbul, Sitki in London, Tokio, Brüssel, Sitki bei einer Vernissage in Paris, bei einer Ausstellung in Madrid, Sitki mit Ministerpräsident Erdogan, mit Außenminister Gül, bei einem Cocktailempfang. Und an allen Orten und auf allen Fotos trägt er sein Markenzeichen: die braune Weste. Anzüge mag er nicht, und die Weste ist so praktisch, da passt alles an Unterlagen hinein, was man so braucht, sagt er, auch auf Reisen.
Es gab schon offizielle Anlässe, da haben die anderen, die Schlipsträger, sich geweigert, sich mit ihm fotografieren zu lassen. "Türken beurteilen Menschen leider oft nach ihrer Erscheinung. Ich schaue mir immer den inneren Menschen an", sagt Sitki. Offenbar wussten die Schlipsträger auch nicht, wer Sitki ist.
Sitki Olcar ist Künstler. Genauer: Keramik-Künstler. Sitki holt einen weiteren Zeitungsausschnitt hervor, den aktuellsten. "Schaut mal", sagt er stolz und tippelt mit dem Finger auf die Überschrift, "bei Denizli haben sie jetzt ein 5 Hektar großes Stück Wald nach mir benannt." Erwartungsvoll lehnt er sich zurück, der Schreibtischstuhl knarrt verdächtig. Dass Sitki als Künstler berühmt wurde, ist seine Leistung. Dass er aus Kütahya kommt und deswegen mit Keramik zu tun hat, ist kein Zufall.
Blau mit Türkis wird zum Exportschlager
Keramik aus Kütahya, dem antiken Kotyaion, wo schon die Phryger der Antike siedelten, ist seit jeher berühmt. Kacheln mit Motiven von Arabesken, Lotusblüten, Tulpen, Kronen, stilisierten Blattformen und geschwungenen Knoten schmücken Wände von Palästen, Villen, Moscheen, Bäder. Auch berühmte Bauwerke sind darunter wie die Blaue Moschee und die Hagia Sophia in Istanbul, der Felsendom in Jerusalem und das Mevlana-Kloster in Konya. Keramik war der Exportschlager der Stadt. Außerdem lag Kütahya an der Handelsstraße vom Norden in den Süden Anatoliens. Das brachte zusätzlich Einnahmen.
Sultan Selim I. ließ Anfang des 15. Jahrhunderts nach seinem erfolgreichen Feldzug gegen die Perser aserbaidschanische Handwerker nach Kütahya und in das nördlich gelegene Iznik umsiedeln. Sie brachten aus ihrer persischen Heimat die Kunst der Fayence-Herstellung mit und fanden ideale Bedingungen vor: die harte weiße Tonerde der Umgebung war von herausragender Qualität. Verschiedene Blau- und Türkistöne unter transparenter Glasur auf weißem Grund, die noch an chinesische Keramik aus der Yüan- und Mingzeit erinnerten, werden das Markenzeichen. Das Blau machten die Handwerker aus Kobaltoxid, Türkis und Grün aus Kupferoxid. Die Unterglasmalerei entwickelten die Werkstätten von Iznik und Kütahya zur Perfektion.
Das gelang den Handwerkern unter anderem auch durch eine neue Zusammensetzung der Fritte, dem geschmolzenem und anschließend gemahlenem Glas, das als Grundstoff der Keramik mit Ton und Quarz vermischt wird. Statt Alkalioxide verwendete man Blei-Alkali-Fritten, die wesentlich geringere Brenntemperaturen ermöglichten. Das sparte kostbares Holz, die Produktion konnte ausgeweitet werden. Die feine Struktur dieser Fayence war allen anderen islamischen Produktionen überlegen.
Als das osmanische Reich sich Ende des 16. Jahrhunderts in außen- und innenpolitischen Schwierigkeiten befand, wurde das Geld knapp, die Aufträge an die Keramikwerkstätten gingen zurück. Viele Werkstätten schlossen, allein in Iznik ging ihre Zahl von 300 auf neun zurück. In Kütahya sah es nicht viel besser aus, ein Teil des Ausfalls konnte aber durch verstärkte Nachfrage aus privatem Handel aufgefangen werden. Durch den Wegfall von Iznik übernahm Kütahya die Rolle als Zentrum der osmanischen Fayenceproduktion.
Kachel klingt nach Tradition
Sitki Olcar greift zum Handy, um bei seinen Arbeitern den Besuch in seinem Atelier anzukündigen. Das Atelier hat er "Osmanli Cini" genannt. Cini heißt Kachel, und das klingt älter, traditioneller als die modernen Worte "Keramik" und "Porselen" (Porzellan), findet er. Gegründet hat er das "Osmanli Cini" 1973, als auch er "dieses besondere Atmosphäre" spürte, wie Sitki erzählt. Er meint damit die besondere Atmosphäre von Ton, Quarz und Fritte, also Keramik. In jeder Gasse gab es damals Ateliers, jede Familie hatte in irgendeiner Weise etwas mit Keramik zu tun. Also gründete auch er ein Atelier, in dem er Waren aber nur verkaufte. Wie man sie herstellte, wusste er nicht. Die Kunst und die Formen, die faszinierten ihn.
Dass alle Meister in Kütahya immer nach den gleichen klassischen Formen und Mustern arbeiteten, Innovationen und Formenvielfalt nicht deren Sache waren, fand er schnell langweilig. Also beschloss er, das zu ändern. Da er sich auch immer schon für Archäologie interessierte, beschäftigte er sich mit archaischen und antiken Motiven der römischen und byzantinischen Zeit, mit mythologischen Darstellungen, seldschukischen und osmanischen Ornamenten, mit Farbenlehren.
Sitki schaute vielen alten Meistern über die Schulter, die ihm bereitwillig ihre Geheimnisse anvertrauten. Denn sie erkannten, so erzählt Sitki: Da wächst ein besonderer Meister heran. Er experimentierte und kombinierte, und entwickelte seinen eigenen Stil, der wie Mosaik in Keramikform aussieht. Aber nicht nur auf Tellern, sondern in Form von Leuchtern, Lampen, Eulen, Tauben, Fischen und worauf sich sonst noch seine Formen gut machen. Diese abstrakt wirkende Kunst brachte ihm den Titel "Picasso von Kütahya" ein.
Der Picasso von Kütahya war schnell gefragt, nicht jedoch in Kütahya selbst: Dort konnte man mit seinen Formen und Motiven nicht viel anfangen. Aber Istanbul und das Ausland zeigten Interesse, und Sitki fand sich bald auf Ausstellungen in Weltmetropolen wieder. Heute bestreitet niemand mehr auch in Kütahya nicht , dass er ein wahrer Meister, ein Usta, ist. Deswegen nennt er sich auch Sitki (Usta) Olcar. Usta klammert er ein, schließlich hat er nie eine richtige Meisterprüfung abgelegt. Hier ist er bescheiden.
Verrückt und erfolgreich
Aufträge bekommt er nicht gerne, am liebsten entwirft er eigene Formen, von denen er nur wenige Stücke produziert, manchmal sind es nur Einzelstücke. Motive oder Motivkombinationen wiederholt er nur selten. "Das steigert außerdem den Wert", sagt Sitki augenzwinkernd. So wie seine Weltkugel, die er "nur" 40 mal geformt und für 1500 US-Dollar je Stück verkauft hat. Das und manchmal auch die Kunst selbst brachte ihm allerdings auch einen etwas weniger rühmlichen Titel ein. Viele nennen ihn auch den Verrückten. Warum nur wenige Stücke herstellen, wo er doch mit seinem Bekanntheitsgrad viel mehr Geld verdienen könnte? Das war sogar mal einer türkischen Zeitung eine Reportage wert, über den "Deli Sitki", den verrückten Sitki.
"Vielleicht", vermutet Sitki, "nennen sie mich aber auch nur deswegen verrückt, weil sie mir den Erfolg neiden. Oder sie verstehen nichts von Kunst." Deswegen habe er auch viele Kunden in Europa, Japan oder in den USA: "Die verstehen diese Kunst am besten, weil sie unsere Kultur besser kennen als wir selbst."
Sitki ist 59 Jahre alt, "aber ich fühle mich wie 41!". Nach einem Herzinfarkt vor ein paar Jahren, der ihm vier Bypässe beschert hat, ist er allerdings etwas kürzer getreten mit seiner Arbeit. Noch entwirft er neue Formen, doch seine Angestellten führen sie aus. So wie Fatma, die mit gekonnten schnellen Handbewegungen den Pinsel aus Eselshaar über einen Teller führt und die Farben zwischen die Motivlinien aufträgt. Es ist noch ein mattes Braun, erst durch das Brennen im 1000 Grad heißen Ofen wandelt es sich zum begehrten Türkis.
"Ich wollte schon als Kind Keramikmalerin werden", sagt die 39-Jährige. "Ich bin immer nach der Schule hierher gekommen und habe die ersten Techniken gelernt. Ich habe hier meinen Meister gefunden." Seit über 30 Jahren also bemalt sie Keramiken von Sitki. Natürlich muss sie sich an die Vorgaben des Meisters halten, aber bei kleineren Gegenständen wie zum Beispiel Tiermodellen "kann ich auch schon mal meiner eigenen Phantasie freien Lauf lassen." Spielend beherrscht Fatma natürlich auch Sitkis Unterschrift, die die Keramikstücke als "echte Sitkis" ausweisen. "Nachdem ich bekannt wurde und viel Erfolg hatte, haben viele Ateliers meine Motive kopiert", erzählt der Meister. Die Unterschrift sollte das begrenzen, genützt hat es nichts. "Man erkennt an der Technik, ob es ein echtes Stück ist", ist Sitki überzeugt.
Sitki hat drei Töchter. Werden sie in seine Fußstapfen treten? "Hayir, maalesef!" Nein, leider. Die eine führt ein Restaurant, die andere ist Hausfrau und die jüngste studiert. Da könne man nichts machen, sie interessierten sich einfach nicht für die Kunst des Vaters. Sitki nimmt es lächelnd hin und lehnt sich wieder zurück in den knarrenden Schreibtischstuhl. Das Telefon klingelt: "Oh, das ist bestimmt meine Frau!" Warum so aufgeregt? "Ich fürchte nur zwei Dinge auf dieser Welt: Allah und meine Frau."
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