Es macht die Angelegenheit etwas profan: Anstatt wie früher die Schuhe auszuziehen – man sagt, es roch irgendwann zu unangenehm –, stülpt man sich Plastikhüllen über die Schuhe wie beim Betreten eines OP-Raumes. Eine alte Frau schlurft auf Krücken herbei, auch diese sind eingetütet. Dabei ist dieser Ort alles andere als profan. Die Wallfahrt zum Mevlana-Kloster, zur "Kaaba der Türken", gilt vielen als kleine Wallfahrt, einige meinen, sie sei der großen Wallfahrt nach Mekka gleich.
Eine Gruppe von Frauen, weit angereist vom Vansee im Osten der Türkei, nähert sich ehrfürchtig dem Tor. Darüber steht in persischen Lettern: "Dies ist das Mekka aller Derwische. Was ihnen innerlich mangelt, wird ihnen hier gegeben werden. Wer auch immer unerfüllt hierher kam, hier hat er die Erfüllung." Die Frauen betreten die "Pforte der Eingeweihten", laufen an den Sarkophagen der Gefährten und Familienmitgliedern vorbei, streichen sich mit den Händen durch das Gesicht als Zeichen des Gebets und der Ehrfurcht. Schließlich erreichen sie den prachtvollen Sarkophag, halten kurz inne. Denn hier ruht Celaladdin Rumi, einer der bedeutendsten Mystiker, Philosophen und Dichter in der islamischen Welt, seine Anhänger nennen ihn Mevlana (oder persisch Maulana): "unser Meister".
Sein berühmtestes Werk, das "Mesnevi", ein moralischer Leitfaden, an dessen über 25.000 Versen Rumi 15 Jahre bis zu seinem Tod 1273 gearbeitet hat, gilt als Meisterwerk der persischen Literatur. Mevlana stammte aus dem persischen Chorasan, in Konya hat er lange gewirkt, hier hat er den Orden der tanzenden Derwische gegründet, der seinen Ursprung im Sufismus hat. Besitzlosigkeit und Weltverachtung waren Kern sufischer Lebensführung, auch für Mevlana, für den die Liebe jedoch die Hauptkraft allen Seins darstellte. Die vollkommene war für ihn die Gottesliebe, die dazu befähigen soll, alle von Gott geschaffenen Dinge zu lieben, also auch den Menschen.
Die Pilgerinnen nähern sich Mevlana, verneigen sich, falten die Hände – und holen das Fotohandy heraus. So viel Nachlässigkeit vor der Ehrfurcht muss sein. Ganze Familien lassen sich vor Mevlana für das Fotoalbum verewigen, der Aufseher hat gut zu tun, dafür zu sorgen, dass niemand zu nahe an die kostbaren Sarkophage herantritt. Doch eine alte Frau kann nicht anders: Sie neigt sich über die Absperrung, schmeißt sich vor den Aufgang zum Allerheiligsten und küsst den Boden. Der Aufseher eilt herbei, doch da ist die Frau schon zufrieden von dannen gezogen.
Ein Museum als Pilgerstätte
Fahri Özcakil schaut ihr lächelnd hinterher. Er versteht genau, was in der alten Frau vorgeht. Auch für ihn ist das Mausoleum das Allerheiligste. Fahri Özcakil ist ein Derwisch. Ein richtiger Derwisch wohl gemerkt, so selbstverständlich ist das nicht. Die meisten seiner Kollegen tanzen nur noch für Touristen. "Sie drehen sich im Kreise, ohne zu wissen, warum sie das tun", sagt der 47-Jährige. Fahri ist Derwisch aus tiefster Überzeugung. Man merkt es ihm an. Wer eine Ahnung haben möchte von einem Menschen, der ganz in sich ruht und diese Ruhe auch ausstrahlt, der muss Fahri gegenübertreten und ihm in die Augen sehen.
"Ich würde jederzeit im Kloster leben wollen!" Bei diesem Satz hebt er leicht die Stimme, die ein wenig Resignation aber nicht zu verbergen vermag. Denn er weiß, dass das nicht möglich ist. Das Kloster ist kein Kloster mehr. Im Zuge der Säkularisierung unter Atatürk wurden 1925 sämtliche Orden und Bruderschaften verboten, das Derwischkloster wurde in ein Museum umgewandelt.
Bruderschaften waren im Volk beliebt und hatten Verbindungen in allen Bevölkerungsschichten. Vor allem die Mevlana-Anhänger rekrutierten sich aus der Oberschicht, das sicherte ihnen Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Leben der Zeit. Dieser Einfluss sollte durch ein Verbot unterbunden werden, von den verkrusteten und verkommenen Strukturen des Osmanischen Reiches durfte in der modernen Türkei nichts mehr übrig bleiben. Doch der Glaube war im Volk stark verankert, so dass die Derwischorden zumindest in neuerer Zeit geduldet werden. Offiziell erlaubt sind sie bis heute nicht.
Dabei war Konya in religiöser Hinsicht schon immer bedeutend. Die Apostel Paulus und Barnabas hatten hier um das Jahr 50 ihre missionarische Tätigkeit aufgenommen, die Seldschuken machten Ende des 12. Jahrhunderts Konya nicht nur zu ihrer Hauptstadt, sondern auch zu einem Zentrum religiöser Toleranz: Orthodoxe Griechen, Armenier und Juden lebten gleichberechtigt neben den islamischen Seldschuken. Konya galt als weltoffene Stadt. Heute ist die Stadt eher konservativ und streng religiös. Hier tragen die Studentinnen in der Universität Kopftücher, was in der Türkei eigentlich verboten ist. Nach Einbruch der Dunkelheit leeren sich die Straßen, Lokale schließen früh, Bars oder Alkohol gibt es fast nirgendwo.
Und die Klosteranlage von Konya ist noch immer ein Museum, immerhin das nach dem Topkapi-Palast in Istanbul meistbesuchte in der Türkei. Etwa zwei Millionen Besucher kommen jährlich hierher, die meisten sind Türken. Das Kloster, eine Pilgerstätte also, für die Gläubige einen Eintritt zahlen müssen.
Beamter als Berufsderwisch
"Das ist bedauerlich", gibt Fahri Özcakil zu, "aber wir haben keine andere Wahl." Schließlich ist der Orden eigentlich verboten. "Es ist für meine zwölf Kollegen und mich die einzige Möglichkeit, die wahre Lehre Mevlanas zu leben und damit die Tradition zu pflegen." Denn Fahri und seine Kollegen sind angestellt beim Ministerium für Kultur und Tourismus. Damit sind sie Berufs-Derwische. Aber auch Beamte. Im Dienste der Tradition, nicht des Tourismus, wie er betont. Das Ministerium hat immerhin erkannt, dass es genügt, den Orden nur zu dulden, um damit Geld zu machen.
Auch Fahris Vater war schon Semasenbaschi. So heißt das Oberhaupt einer Gruppe tanzender Derwische im Türkischen. Mit zwölf Jahren hat er angefangen, seit über 30 Jahren also lebt Fahri nach den Lehren Mevlanas. Das heißt: in alle Richtungen des Lebens positiv denken und handeln, höflich und zuvorkommend sein. Kurz, ein gottgefälliges Leben führen. Aber würde das nicht jeder Muslim von sich auch behaupten? "Ja, auch der Islam schreibt das vor. Aber für uns Derwische ist es mehr. Wir versuchen, den vollkommenen Weg zu gehen", erklärt Fahri.
Der Prophet Muhammed habe sich auf den Glauben an den einen Gott konzentriert, Mevlana stellt in seinem Schaffen die Menschenliebe in den Vordergrund. "Aber auch Mevlana hat sich immer den Propheten zum Vorbild genommen", erklärt Fahri weiter, "Mevlana hat gesagt: 'Ich bin der Staub auf dem Weg Muhammeds'. Deswegen kann eine Wallfahrt nach Konya auch nicht die Wallfahrt nach Mekka ersetzen."
800 Derwische auf Rekordsuche
Für Mevlana waren die Musik und der Tanz ( sema) die Mittel auf dem Weg zu Gott. Sie sind das eigentliche Gebet. Bei diesen religiösen Zeremonien, bei der die Flöte, die Nayy, das wichtigste Instrument ist, falten die Derwische zunächst die Arme, bilden damit die Zahl eins und betonen damit die Einzigkeit Gottes. Schließlich drehen sie sich im Kreis mit ausgestreckten Armen: Die rechte Hand zeigt nach oben, die linke nach unten, die eine nimmt von Gott, die andere gibt es an die Menschen.
Der Derwisch ruht dabei mit dem linken Fuß auf einem Punkt, mit dem rechten dreht er sich. "Man dreht sich um sein Herz, macht es zu seinem Mittelpunkt. Denn das Herz ist das Haus Gottes", beschreibt Fahri die Bewegung. Durch die Neigung des Kopfes werde einem nicht schwindlig. Es sei wie die Neigung der Erde. In Gedanken sagt der Derwisch immer wieder "Allah!" (Al-lah!), konzentriert sich auf sein Inneres und gerät damit in Trance. Nach dem Tanz, also dem Gebet, fühle man sich völlig entspannt. Und mit Gott vereint.
Nach Sonnenuntergang schließen die Tore des Klosters. In Konya wird es wieder ruhig. "Doch die wirkliche Ruhe", gibt Fahri mit auf den Weg, "findet man nur im Gebet, beim sema, dem Drehen um sein eigenes Herz."
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