Man kann es fast verfehlen, das kleine Café "Ara". Obwohl es mitten im angesagten Szeneviertel Beyoglu liegt. Gleich neben der Istiklal Caddesi, der Hauptstraße des Viertels, biegt eine Quergasse ab. Dort hat Regisseur Yasar Kartoglu vor ein paar Jahren das Café eröffnet und einen Treff für alle Filmschaffenden vor und hinter der Kamera eingerichtet. Regelmäßig treffen sich hier alle großen und kleinen Stars der Branche, und solche, die es werden wollen.
Einen kümmert dieser Trubel um Sehen und Gesehenwerden wenig: Ara Güler. Zeit seines Lebens hat Ara Güler vor allem gesehen. Mit seiner Kamera beobachtete er die Menschen des Istanbul der fünfziger und sechziger Jahre und hat damit einen neuen Stil in der türkischen Fotografie geprägt. Ihm zu Ehren hat Yasar Kartoglu das Café benannt, große Schwarzweiß-Fotografien schmücken die Wände, auch Servietten und Tischsets sind mit Gülers Motiven des alten Istanbul bedruckt.
"Im Herzen Traditionalist"
Ara Güler kommt fast jeden Tag in "sein" Café. Er sitzt an einem kleinen Tisch, sortiert die Post, nippt an einem Glas Tee. Und wirkt müde. "So viele Leute wollen etwas von mir", klagt der 79-Jährige. "Heute Vormittag habe ich ein Fernsehinterview gegeben, jetzt sind Sie hier. Heute Nachmittag bin ich wieder eingeladen bei einem befreundeten Regisseur. Es ist gar nicht so leicht, eine Legende zu sein." Ara Güler kann sich diese Attitüde leisten, er gehört zu den ganz Großen unter den Fotojournalisten.
L. Fritz Gruber, Doyen der deutschen Photoszene des 20. Jahrhunderts, schreibt über ihn: "Das Geheimnis seines Erfolges liegt wahrscheinlich darin, dass er trotz seines modernen Stils der Fotografie in seinem Herzen Traditionalist geblieben ist. [...] Gleichzeitig hat er sich den Enthusiasmus eines Amateurs und die Naivität eines Kindes bewahrt."
Beyoglu ist Ara Gülers Stadt in der Stadt. Am Taksim-Platz, der an die Istiklal-Caddesi angrenzt, wird er geboren, hier lebt er im mehrstöckigen Haus seiner armenischen Familie, "und hier werde ich auch sterben". Der Vater ist Apotheker und geht in den Istanbuler Kunstkreisen ein und aus. Das prägt den jungen Ara Güler. Er ist vor allem vom Kino fasziniert und beginnt eine Schauspielausbildung bei dem Theaterschauspieler und Regisseur Muhsin Ertugrul.
Später studiert er Wirtschaftswissenschaft, entscheidet sich dann aber doch für eine Karriere als Fotojournalist. Die Fotografie hat er nie gelernt, jedenfalls nicht auf klassischem Wege. "Man muss nicht in eine Schule gehen, um zu lernen, wie eine Kamera funktioniert. Das lernt man in einer Woche. Worauf es ankommt, ist die Ästhetik, die Kultur. Und dafür muss man seine Sinne entwickeln."
Preisgekrönt als "Magnum"-Fotograf
Zunächst arbeitet er für die Zeitung "Yeni Istanbul" (Neues Istanbul), ist aber bald auch international gefragt: Aufträge als Korrespondent im Nahen Osten für Magazine wie "Time-Life" und "Stern" folgen. 1956 lernt er Henri Cartier-Bresson und Marc Riboud von der Fotografenagentur "Magnum" kennen. Ara Güler wird in deren elitären Kreis aufgenommen, in den kommenden Jahren folgen Auszeichnungen: 1961 beschreibt ihn das "Photography Annual" als einen der sieben besten Fotografen weltweit, ein Jahr später wird er zum "Master of Leica" gekürt, 1968 wählt ihn das Museum of Modern Art in New York zu den "Zehn Meistern der Farbfotografie", 1999 erhält er die türkische Ehrung als "Fotograf des Jahrhunderts". So wird man zur Legende.
Das Café "Ara" befindet sich in der untersten Etage seines Hauses. Auf mehreren Etagen beherbergt es neben Ara Gülers Büro vor allem Ausstellungsräume. Zeugnisse seines über 50-jährigen Schaffens stapeln sich übereinander und präsentieren sich an den Wänden. "Bevor wir uns unterhalten, schaust du dir erst mal die Fotos in Ruhe an", schlägt er vor. Das Treppensteigen ist ihm allerdings schwer geworden. So deutet er seinem Fahrer, dem Besucher die Tore zum fotografischen Rundgang durchs alte Istanbul zu öffnen: "Und vergiss nicht," ruft er seinem Fahrer hinterher "den Anrufbeantworter abzuhören. Dann kann ich mir den Gang ins Büro heute ganz sparen."
Im Zentrum steht der Mensch
Seine Bilder zeigen vor allem eines: Menschen. "Ja, die Menschen sind meine Welt", sagt Ara Güler. Und er meint damit die großen wie die kleinen, die für ihn alle prominent sind: "Wenn es keine Menschen mehr gibt, gibt es kein Leben mehr. Ich bin der Fotograf der Menschen." Auch die Berühmten hat er getroffen: Winston Churchill, Indira Gandhi, Bertrand Russell, Maria Callas, Alfred Hitchcock, Salvador Dalí, Pablo Picasso und viele andere. Porträts waren für ihn immer eine Herausforderung: "Ein Porträt ist nicht einfach das Bild eines Gesichts. Es ist die Gesamtheit eines Lebens."
Ara Güler hat aber in erster Linie sein Istanbul fotografiert, die einfühlsamen und melancholischen Momente, den Alltag, den trüben wie den fröhlichen, die Straßenhändler, Fischer, Frauen und Männer, Kinder und Alte. Auch bei diesen Bildern stehen immer die Menschen im Vordergrund. "Wenn ich die Hagia-Sophia fotografiere, ist für mich am wichtigsten der Mensch, der an ihr vorbeiläuft." Deswegen nennt man ihn auch "das Auge von Istanbul".
Diese Sicht auf die Dinge ist große Kunst. "Oh nein!" Ara Güler erhebt den Finger, beugt sich nach vorne und schaut sein Gegenüber streng an: "Fotografen nehmen die Welt mit einem besonderen Auge wahr. Das ist eine besondere Gabe, aber es ist keine Kunst." Und um die Bedeutung seiner Worte zu verdeutlichen, ergänzt er: "Kunst ist wie ein zweiter Prophet. Man schafft Neues. Das kann ich mit Fotografie nicht. Ich bin nicht Jesus."
"Wir sind visuelle Historiker"
Ara Güler lehnt sich wieder zurück, nippt an seinem Glas Tee, das inzwischen kalt geworden ist, zögert kurz und fragt schließlich mit prüfendem Blick: "Sind Sie Schreiber oder Fotograf?" Beides. "Gut, dann vergessen Sie den Schreiber. Die wichtigsten Journalisten sind die Fotografen, nicht die Schreiber. Fotos zeigen die Wahrheit. Deswegen ist Fotografie auch keine Kunst, denn Kunst kann die Welt verfälscht darstellen. Wir Fotografen sind visuelle Historiker."
Damit visuelle Geschichte geschrieben werden kann, war Reisen immer Teil seines Lebens. Und er ist gerne gereist. Aber das Flugzeug mochte er nicht besonders. "Wir sind doch keine Vögel, warum sollen wir also fliegen? Mit dem Auto oder dem Zug sieht man viel mehr." Aber auch er hat die meisten Reisen seines Lebens mit dem Flugzeug unternommen. Seit einem Jahr hat er allerdings aus ihm unerklärlichen Gründen Flugangst und verlässt Istanbul fast gar nicht mehr. Ausgerechnet der Meister, den es in fast alle Ecken der Welt getrieben hat. In den Nahen Osten, nach Amerika, nach Fernasien wie Indien, Indonesien oder Burma: "Dort gibt es so unglaublich viel zu entdecken. Ich war so oft dort, aber immer habe ich noch das Gefühl, nur einen kleinen Teil gesehen zu haben."
Bilder vom verlorenen Istanbul
Und was ist geblieben vom Istanbul der fünfziger und sechziger Jahre, das er so intensiv beobachtet und in so vielen Fotos festgehalten hat? "Nichts. Gar nichts. Sieh dich doch um! Meine Fotos zeigen nicht das alte Istanbul, sondern das verlorene Istanbul." Früher gab es das französische Viertel. Weiter unten begann das italienische, am Tünel lebten die Juden. Alles sei verschwunden oder verwischt. Fastfood-Ketten und moderne Geschäfte bestimmten das Bild. "Alles ist einförmig, es gibt kein originäres Flair mehr, keinen Charme. Es ist wie in New York oder Berlin. Für mich gibt es hier nichts mehr zu fotografieren."
Aber er freut sich, dass junge Menschen ein Café aufgemacht, es nach ihm benannt und mit seinen Fotos geschmückt haben. "Allerdings", schränkt Ara Güler ein, "die jungen Leute kennen das alte Istanbul ja nicht mehr. Sie denken, Istanbul hat schon immer so ausgesehen, wie es heute aussieht. Wenn sie meine alten Fotos sehen, fragen sie: "Wo ist das?"
Damit dieses Istanbul aber nicht ganz verloren geht, lässt Ara Güler sein Archiv gerade digitalisieren. Apropos digitalisieren. Schon mal eine Digitalkamera in den Händen gehalten? "Ja, sicher. Leica hat mir sogar eine geschenkt. Aber ich verwende sie nicht. Wozu? Die Technik ändert sich, aber es ist nicht das Entscheidende. Es ist das Auge. Ob analog oder digital." Sagt der große Leica-Fotograf und zückt die Pocket-Digitalkamera aus der Hosentasche. Die nicht mal mehr einen Sucher hat, man schaut nur noch auf das Display. "Nur für Erinnerungsfotos" schmunzelt Ara, drückt ab und bestellt noch einen Tee.