Zuerst einmal: Danke, Deutschland! Du hast keine Studiengebühren, dafür gute Hochschulen, für Studierende legst Du Dich ins Zeug. Auch das Bafög ist toll, seit nun 50 Jahren trägt die Ausbildungsförderung dazu bei, dass junge Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft studieren können.
Diesen runden Geburtstag im Herbst möchte das Bundesbildungsministerium anscheinend groß feiern, denn mit Geburtstagsbroschüren als Zeitungsbeilage, Geburtstagswebseite ( 50jahrebafoeg.de) oder einem Geburtstagswebtalk haut das Ministerium fleißig auf die Werbetrommel.
„Liebes BAföG, alles Gute zu 50 Jahren Chancengerechtigkeit!", schreibt das Ministerium auf der Titelseite ihrer Broschüre, dazu gibt es ein Foto von drei glücklichen, adrett gekleideten Studierenden in einer schnieken Küche. Meiner WG und mir ist da beim Sonntagsfrühstück fast das Marmeladenbrötchen aus der Hand gefallen. „Würden die Bafög bekommen, könnten die sich eine so schöne Küche gar nicht leisten", sagt meine Mitbewohnerin Laura. Ich schaue derweil auf unseren wackeligen Küchentisch mit Brandlöchern. Stolz sein darf man ja, aber bitte nicht sich selbst beweihräuchern! Das Bafög ist ein tolles Instrument, aber es gibt noch viel zu tun. Statt Luftschlangen zu pusten, sollten die Zuständigen lieber anpacken.
Denn auf dem Papier hört sich Bafög fein an: Je nach Einkommen der Eltern erhalten Studierende bis zu 861 Euro pro Monat, davon müssen maximal 10.010 Euro als zinsfreies Darlehen zurückgezahlt werden. Aber bereits der Blick auf die Statistik lässt Schwächen erkennen, denn immer weniger Studierende erhalten die Förderung. Den vergangenen Novellierungen zum Trotz sinkt die Förderungsquote. Wurden 2009 noch achtzehn Prozent aller Studierenden gefördert, waren es 2019 weniger als zwölf Prozent. Auch die absoluten Zahlen gehen zurück. Die Berechnungsgrundlage hält mit den allgemeinen Entwicklungen nicht Schritt und so werden die meisten Eltern als Zu-gut-Verdienern eingestuft, Bafög geht an der unteren Mittelschicht vorbei. Wenn man überlegt, dass 1972, ein Jahr nach Bafög-Einführung mehr als 44 Prozent aller Studierenden gefördert wurden, fragt man sich, was man heute feiern soll.
„Vom Bafög-System bin ich traumatisiert"Mein Zehn-Zimmer-Flur im Studentenwohnheim ist eine glückselige Insel der Armen, zu Spitzenzeiten erhielt jeder Zweite von uns Geld vom Amt. Das Wohnheim liegt am Stadtrand und hat eine der günstigsten Zimmermieten in Mannheim. Ob es daran liegt, dass man hier so viele Bafög-Empfänger antrifft? Sicher ist, große Sprünge sind mit der Förderung nicht möglich, die Bedarfssätze gehen an der Realität vorbei. 2019 wurden bei der letzten Neukalkulierung 325 Euro für die Miete festgesetzt. Wie kann das sein, wenn 2019 ein WG-Zimmer in Deutschland durchschnittlich 385 Euro kostete, in Frankfurt sogar 500 Euro? Einige werden jetzt denken, dass junge Menschen eben dort studieren und wohnen sollen, wo es günstig ist. Klar, das kann man so sehen, aber chancengerecht ist das nicht. Wenn reiche Kinder freie Uni-Wahl haben und Bafög-Empfänger sich staatlich verordnet nur die günstige Peripherie leisten können, dann ist das eine Bafög-Geburtstagsparty, auf die ich nicht gehen möchte.
Der Finanzdruck für Bafög-Empfänger ist hoch, abgesehen von Härtefällen gibt es das Geld nur während der Regelstudienzeit. Das ist verständlich, ein Sozialstaat ist ja keine Gießkanne, aber man sollte darüber nachdenken, ob Geförderte damit die gleichen Bedingungen wie ihre Kommilitonen haben. Das Studium allein bringt heute keine Arbeitsstelle mehr, dafür braucht es noch Praktika, Ehrenamt, Auslandssemester und qualifizierte Nebenjobs. Nur mit wenig Schlaf und viel Stressresistenz kann man das in der Regelstudienzeit schaffen, im Vergleich zu Kommilitonen, deren Eltern ohne Murren ein paar zusätzliche Semester finanzieren (können), ist das nicht chancengerecht.
Neben zu wenig Geld für zu wenig Studierende spricht vom dritten großen Problem die Bafög-Geburtstagsbroschüre sogar selbst, leider versucht sie erfolglos, das Bafög-Bürokratiemonster positiv umzuwerten. „BAföG beantragen - da denken viele an jede Menge Bürokratie und Papierkram", schreibt das Ministerium. Was soll man sagen, genauso ist es, man denkt richtig! Sonderlich pfiffig war der Texter nicht. Meine Mitbewohnerin Laura hat auf ihren vergangenen Förderbescheid beispielsweise ein halbes Jahr gewartet, eine andere Bekannte fast ein Jahr. Die Anträge sind kompliziert, das Personal ist knapp. Aus bürokratischer Perspektive kann Laura die Probleme nachvollziehen. „Aber am Ende geht es um unsere individuelle Zukunft", sagt die Jura-Studentin.
Mitunter torpediert das Bafög-System die Zukunft Einzelner, weil es für individuelle Notwendigkeiten blind ist. Ich denke da an meinen Freund Mark, der Scheidungskind ist. Der Vater zahlt keinen Unterhalt, Kontakt haben die beiden nicht. Das ist ein familiäres Drama und es ist auch ein Bafög-Drama, denn der Vater unterschrieb die Förderungsanträge seines Sohnes nicht. Bafög erhielt Mark daher keines, obwohl ihm theoretisch fast der Höchstsatz zugestanden hätte. Die Mutter hat eine Imbissbude, der Vater ist Verkäufer. Einen Gerichtsprozess, der den Vater an seine Pflicht erinnert, trauten sich Sohn und Mutter nicht zu. Das Bachelorstudium hat Mark daher mit zwei Nebenjobs durchgezogen. Aufgrund der Doppelbelastung fehlte ihm für einen Master dann die Kraft. „Vom Bafög-System bin ich traumatisiert", sagt er. Das Versprechen des Staates, Benachteiligte zu fördern, ging an dem Arbeiterkind vorbei.
Eines ist sicher, den Bafög-Geburtstag in diesem Jahr werde ich nicht feiern. Ich stelle mir vor, wie der aussehen soll: Vielleicht gibt es im Bildungsministerium einen Empfang für Minister und Bafög-Empfänger mit selbstgestanztem Konfetti und ranziger Buttercreme-Torte von vorgestern, weil für mehr einfach kein Geld da war. Chancengerecht wäre das ja - Magenverstimmung für alle!
Leon Igel (25 Jahre alt) studiert an der Uni Mannheim Germanistik und BWL im Master, dabei beschäftigt er sich weniger mit Goethe, dafür umso mehr mit Christoph Schlingensief. Wenn ihm das zu bunt wird, fährt er zu seinen Eltern und hackt Holz. Oder backt Brot. Corona sei Dank kann er das jetzt auch.