Wenn wir zu Weihnachten nach Hause fahren, treffen wir sie wieder: die alten Freunde, die neben uns in der Schule saßen. Mit denen wir nachts ins Freibad einstiegen, auf Festivals tanzten und glücklich in den Sonnenaufgang taumelten. Manchmal fühlt es sich beim Wiedersehen an, als sei seitdem überhaupt keine Zeit vergangen. Und manchmal erkennt man sich kaum wieder. What? Wir waren mal unzertrennlich? Von Freundschaft handelt auch einer der schönsten und grausamsten Romane des Jahres. In "Ein wenig Leben" erzählt die amerikanische Schriftstellerin Hanya Yanagihara von vier Männern - Willem, Malcolm, JB und Jude -, die nach der Uni beste Freunde bleiben, obwohl sie ihre dunkle Vergangenheit fast zerreißt. Wir trafen Hanya Yanagihara, um mit ihr über das Geheimnis der Freundschaft zu sprechen, im Roman und im echten Leben.
ZEIT Campus: Frau Yanagihara, Sie haben ein fast tausend Seiten dickes Buch über vier Studenten geschrieben, die bis zum Lebensende befreundet bleiben. Was hat Sie am Thema Freundschaft so fasziniert?
Hanya Yanagihara: Es gibt kaum eine Beziehung, die wir so sehr selbst definieren können wie eine Freundschaft. Man kann Freundschaften nicht offiziell verkünden und nicht juristisch beurteilen. Sie sind immer etwas Privates und für Außenstehende nie ganz zu verstehen. Fast wie Liebesbeziehungen.
ZEIT Campus: Jede Freundschaft ist einzigartig.
Yanagihara: Genau. Jahrhundertelang waren unsere Beziehungen zu anderen Menschen vorherbestimmt. Man konnte nicht wählen, wen man heiratet, für wen man arbeitet, welcher Religion man angehört oder wo man lebt. In vielen Teilen der Welt ist das heute immer noch so. Aber man konnte und man kann immer wählen, wen man zum Freund haben möchte. Freundschaft ist Freiheit.
ZEIT Campus: Warum verlieren wir alte Freunde trotzdem oft aus dem Blick?
Yanagihara: Viele von uns hierarchisieren ihre Beziehungen. Für die meisten von uns kommt zuerst die Liebe zum Kind, wenn wir eins haben, dann die zum Partner, zum Hund, zuletzt die zu den Freunden. Dabei ist eine Beziehung nicht weniger wertvoll, nur weil man keinen Trauschein hat oder nicht biologisch verwandt ist. Wir sollten unsere Freundschaften pflegen und ernst nehmen.
ZEIT Campus: Sind Freunde die neue Familie?
Yanagihara: Ach, ich halte nichts von diesem "das neue Dies, das neue Das". Aber Freunde können wie eine neue Familie für uns sein. Die alte Idee der Familie, die noch von Blut, Kirche, Tradition, Gesetz bestimmt ist, ist nicht so flexibel, wie wir sie heute brauchen. Da ist Freundschaft schon zeitgemäßer.
ZEIT Campus: Warum haben Sie in Ein wenig Leben ausgerechnet über eine Männerfreundschaft geschrieben?
Yanagihara: Mir erschien das spannender.
ZEIT Campus: Weil Frauenfreundschaften schon in Sex and the City, Girls und anderen Serien ausführlich gezeigt wurden?
Yanagihara: Nein, Männerfreundschaften drücken sich einfach anders aus, egal, ob unter hetero- oder homosexuellen Männern. Es gibt da eine andere Art der Kommunikation, zumindest bei den Männern meiner Generation. Während wir Frauen gelernt haben, unsere Ängste zu artikulieren, werden Männer in ihrer Erziehung nicht ermutigt, über ihre Emotionen zu sprechen, über Angst, Scham, Verletzlichkeit. Wenn sich diese Gefühle nicht in Sprache manifestieren können, suchen sie sich eben andere Wege. Das wollte ich erzählen.
ZEIT Campus: Die Männer in Ihrem Buch sind sehr unterschiedlich. Beruht Freundschaft nicht auf dem Prinzip des Ähnlichen?
Yanagihara: Sie teilen zumindest dieselbe Lebensphase: das Studium. In diesem Alter ist man auf eine Weise embryonal, weil man versucht herauszufinden, was für ein Mensch man eigentlich sein möchte und was es bedeutet, ein Erwachsener zu sein. Zu Leuten, die Zeuge dieser Phase sind, bleibt später oft eine tiefe und emotionale Verbindung.
ZEIT Campus: Tiefer als zu Kindergarten- oder Schulfreunden?
Yanagihara: Manche Menschen haben ein angeborenes Talent für Freundschaften. Entweder weil sie instinktiv wissen, was es bedeutet, ein Freund zu sein, so wie Willem in meinem Buch. Oder weil ihnen klar ist, was sie in anderen Menschen suchen. Bei den meisten von uns ist das aber nicht so, wir müssen den Sinn für die Freundschaft erst lernen.
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