Ob mit Spreewaldgurken, Russischbrot oder Trabant - alte DDR-Artikel helfen Demenzkranken bei der Orientierung in einem Hier und Jetzt, in dem sie sich nicht mehr zurechtfinden.
"Hände hoch, Amerika!", ruft die alte Dame. Sie sitzt neben zwölf anderen Rentnern an einem Tisch in einer Küche, die den sechziger Jahren der ehemaligen DDR, der Deutschen Demokratischen Republik, nachempfunden ist. Für ihren Ausruf erntet die Dame jedoch keine Reaktionen. Einzig ein Rentner greift nach dem Hörer eines orangefarbenen Telefons, steckt den Finger in die Wählscheibe und versucht, sich an die Nummer der Volkspolizei zu erinnern. Die DDR im Alexa-Altenheim in Dresden ist exakt hundert Quadratmeter gross. Sie wurde für die dementen Senioren quasi wieder aufgebaut. Ein grosses Fenster in der Küche gibt den Blick auf eine Strasse mit Fussweg frei. Auf einem riesigen Werbeplakat für Zigaretten prangt der Spruch "Draussen die Party, drinnen das Leben". Draussen, vor dem Altenheim, rasen Autos vorbei, Mercedes, Volkswagen, BMW; die gab es in der DDR nicht. Die Welt lebt im Jahr 2017. Wenn Passanten aber ihren Blick von aussen durch das Fenster fallen lassen, sehen sie eine Welt wie in den sechziger Jahren.
Draussen West, drinnen OstEs hängen Fotos von Erich Honecker und alten DDR-Schauspielern an der Wand, die Zeitschriften "Guter Rat" oder "Sibylle" liegen aus. Die Senioren können Amiga-Platten hören oder sich wie eben in der Küche - Modell Ratiomat 95 des VEB-Möbelkombinats Dresden - ihr Frühstück zubereiten.
Unweigerlich fühlt man sich an den Spielfilm "Good Bye, Lenin!" erinnert. Der Film wurde nach seinem Erscheinen 2003 mit internationalen Preisen überhäuft. Er erzählt die Erlebnisse der ostdeutschen Familie Kerner. Die Geschichte beginnt im Sommer 1978. Jahre später, ausgerechnet am 7. Oktober 1989, am 40. Jahrestag der Gründung der DDR, erleidet Mutter Kerner einen Herzinfarkt und fällt ins Koma. Als die Mutter Wochen später erwacht, hat sich die Welt komplett verändert. Da für ihren Kreislauf die kleinste Aufregung lebensbedrohlich wäre, darf sie auf keinen Fall von den tiefgreifenden Veränderungen erfahren. Deshalb lässt der Sohn in ihrer Wohnung die DDR wieder aufleben. Er kauft Spreewaldgurken und Rotkäppchen-Sekt, Ostprodukte, die jetzt im vereinten Deutschland deutlich schwieriger aufzutreiben sind als zuvor. Draussen Westen. Drinnen Osten. So, wie in dem Dresdner Altenheim. Nur ist das hier keine Fiktion.
In der Alexa-Seniorenresidenz begann die DDR vor etwa zwei Jahren wieder zu wachsen. Eigentlich wollte die Heimleitung nur einen Kinosaal einrichten, um alte Filme der Defa - des volkseigenen Filmunternehmens der DDR - zu zeigen, wie der Heimleiter Gunter Wolfram erzählt, ein Mann mit borstigem Haarschnitt und rahmenloser Brille. Wolfram hatte den Kinosaal etwas herausputzen wollen und kaufte einem alten Bauern aus dem Erzgebirge einen DDR-Motorroller der Marke Troll für 500 Euro ab; als Deko habe er ihn in den Saal stellen wollen, so, wie die Cadillacs amerikanische Nostalgiekinos schmückten, erzählt er. Zur Premiere scharrten sich die Alten plötzlich nur um den Troll-Roller, das Kino schien ihnen fast egal. Der Roller war vielmehr als ein Dekoelement, er war eine Tür zu ihren Erinnerungen, sagt Wolfram: "Bewohner, die sonst kaum noch ihren Namen kannten, wussten auf einmal genau, wo Blinker, Benzinhahn und Kickstarter sind - und schwärmten von ihrer ersten Fahrt."
Das brachte Wolfram auf die Idee, den untergegangenen Staat 27 Jahre nach der Wende wieder aufzubauen. Er zog los, besuchte Trödel- und Flohmärkte oder bestellte Ostprodukte auf Ebay. Als Erstes habe man einen alten Ofen rangezerrt, 60 Euro habe der gekostet; es folgte die alte Küche aus den Sechzigern, Marke Ratiomat, für 150 Euro. Die Küche habe er dem Gründer des DDR-Museums in Schwepnitz abgeschwatzt, das nur 35 Autominuten entfernt von dem Seniorenheim liege.
Acht Stunden täglich NostalgieAn diesem Tag sitzen dreizehn Rentner in der DDR-Kulisse und begutachten alte ostdeutsche Produkte. Eine Rentnerin greift nach einer Tüte Russischbrot - Kekse aus Eischnee, Zucker und Kakao in Buchstabenform. "Russischbrot gab es bei uns auf der Leidinger Strasse. Das hat unser Bäcker selbst gemacht", erinnert sich die demenzkranke Frau, die schon nicht mehr weiss, was sie eben zum Frühstück gegessen hat. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Eine andere klatscht, offenbar vor Freude, in die Hände.
Die Pflegerinnen Fanny Vieira, 27 Jahre, und Doreen Weber, 38 Jahre, und ihr Team betreuen die Bewohner wochentags von 7 Uhr 30 bis 19 Uhr in der "DDR". Sie gehen mit ihnen in die Kaufhalle, wo sie mit DDR-Mark zahlen können. Gunter Wolfram hat sogar Spielgeld nachdrucken lassen. Oder in den Intershop, da musste man mit Westmark oder Forumchecks zahlen und bekam dafür etwa Zigaretten oder Alkoholika. Die Senioren basteln, erzählen und schwelgen mittels Haushaltwaren oder Amiga-Schallplatten von früher - acht Stunden lang, von Montag bis Freitag. Nur am Wochenende hat die DDR geschlossen.
Heute ist Donnerstag. Auf dem Küchentisch stehen eine Brotschneidemaschine AS 101 und ein AKA-Elektrikmixer; eine Patientin kurbelt an einem Sahnegerät mit Handmotor, das hatte jeder DDR-Haushalt. Pflegerin Vieira will eine Schallplatte auflegen und fragt in den Raum: "Kennen Sie noch die Helga Hahnemann? Was hatte die noch einmal für ein bekanntes Lied?" Plötzlich drehen fünf Rentner, die eben noch ganz versunken schienen, auf: Erstaunlich laut und textsicher singen sie im Chor: "Jetzt kommt dein Süsser, dein kleines Engelein, dem tut der Kopf weh vom Heiljenschein."
Erinnerungen als SchlüsselHeimleiter Wolfram sagt, er wolle in seiner Seniorenresidenz weder Ostromantik noch Ostalgie befeuern, wie es viele DDR-Komödien à la "Good Bye, Lenin" täten. Ihm gehe es auch nicht um politische Botschaften, er wolle "den Alten etwas Gutes tun". An Demenz erkrankte Rentner, die vorher bettlägerig gewesen wären, könnten plötzlich wieder ihre Marmeladenbrötchen selbst schmieren, erzählt Wolfram. "Aber dass Biografiearbeit hilft, das ist ja auch keine Erfindung von mir." Diese sogenannte Biografiearbeit kennen Altenpfleger tatsächlich schon seit Jahren. In der Erinnerungstherapie werden Erkrankte durch Fotos, Zeitungsausschnitte, Musik oder Haushaltsgegenstände angeregt, von Ereignissen und Erfahrungen der Vergangenheit zu erzählen. Diese Art stimulierender Lebensrückblick verbessert gemäss Studien nicht nur die Selbständigkeit, sondern auch die Fähigkeit zur Kommunikation, das Gedächtnis und die Stimmung.
Schon vor ein paar Jahren, 2009, gründete etwa der Brite Richard Earnest ein Startup mit sogenannten "Rem-Pods" - Räumen der Vergangenheit für Demenzkranke. Als Hilfsmittel dient ihm eine Stellwand, auf der ein Wohnzimmer der fünfziger Jahre nachgebildet ist - samt Blumentapete und Teeservice -, so werden manchmal Demenzpatienten in britischen Krankenhäusern "aktiviert". Heute ist Earnest mit seiner "Interior Medizin" ein erfolgreicher Unternehmer.
Anker in der verlorenen ZeitDer Heimleiter Wolfram sucht schon wieder auf seinem Smartphone nach Artikeln, die er für sein Heim erwerben will. Auf der Couch in seinem Büro türmen sich Devotionalien. "Inzwischen bringen uns die Leute alles Mögliche vorbei", sagt Wolfgang. Er zeigt auf einen Toilettenpapierhalter und ein sogenanntes Ladefix. "Damit hat man im Winter die Batterien beim Trabant geladen, damit er wieder angesprungen ist", erklärt er.
In Wolframs Seniorenresidenz leben etwa 130 Patienten, die stationär betreut werden müssen. Etwa 30 von ihnen, im Alter von 75 bis 102 Jahren, sind an Demenz erkrankt. "Vor allem die noch sehr mobilen, aber doch schon orientierungslosen Personen brauchen intensive Betreuung", sagt Wolfram. Sie liefen die ganze Zeit im Heim rum, glaubten, Kinder zu Hause zu haben oder Arbeit bei der Post. "Wir wussten nicht, was wir am besten mit ihnen machen sollten. Ich habe mir immer über eine geeignete Betreuungsform Gedanken gemacht", sagt Wolfram. Seit er die Erinnerungszimmer eingerichtet habe, sei sogar die Zahl der Anmeldungen in seiner Einrichtung gestiegen.
Die Nostalgieartikel beruhigen die Patienten, bauen Stress ab und helfen bei der Orientierung in einem Hier und Jetzt, in dem sich viele Demenzkranke nicht mehr zurechtfinden. Ihr Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr. In den Erinnerungszimmern haben die Patienten "zumindest für den Tag oder auch nur eine Stunde Orientierung", sagt die Pflegerin Vieira. An einer Wand hängt ein riesiger Kalender mit dem aktuellen Datum - nur das Jahr steht nicht dabei. Das stört aber nicht. Die alten Gegenstände sind wie ein Anker in der verlorenen Zeit.
"Wir wollen morgen wieder kochen und backen", sagt Vieira in die Runde. "Dafür brauchen wir auch Zutaten." Sie verteilt die Dederon-Einkaufsnetze an die Alten, die ihre Rollatoren vor Kaufhalle und Intershop parkiert haben, die gegenüber von der Küche wie ein Kaufmannsladen für Kinder eingerichtet sind. In den Kisten liegen Tempolinsen, Nudossi-Brotaufstrich, Bautz'ner Senf.
"Das DDR-Food kennt jeder, wenn wir die alten Gerichte kochen, weiss jeder, wie es geht", sagt Vieira. "Toast Hawaii mit Schinken und der Ananas, Soljanka, Rhabarberkompott." Jüngst hätten sie gar Eierlikör selbst gemacht. "Wie macht man Eierlikör?", fragt Vieira eine der Patientinnen, die gerade sehr apathisch wirkt. Die antwortet direkt: "Doppelkorn, Sahne, Zucker, Eigelb und Vanille." Nun kommt sie ins Erzählen. Wo Erinnerung ist, ist auch Leben.
Silke Weber · Das Wort "Demenz" lässt sich von dem lateinischen Begriff "dementia" ableiten, das mit "Verlust des Verstandes" übersetzt werden kann. Demenz zählt zu den häufigsten Gesundheitsproblemen im fortgeschrittenen Alter. Der Begriff beschreibt die meist chronische und fortschreitende Erkrankung des Gehirns, die mit einem Verlust der geistigen Funktionen wie Denken, Erinnern, Orientieren oder Planen einhergeht. Dies führt dazu, dass alltägliche Aktivitäten nicht mehr eigenständig durchgeführt werden können. Dazu zählen unter anderem die Krankheitsbilder Alzheimer, vaskuläre und frontotemporale Demenz sowie Lewy-Körperchen-Demenz. Alzheimer ist die häufigste Demenzform. Dabei breiten sich nach und nach im Hirn die typischen Eiweissablagerungen aus, die zum Absterben der Nervenzellen führen. Im Anfangsstadium schrumpft zudem der Hippocampus. Er ist zuständig für das Speichern neuer Informationen. Die zweithäufisgte Form von Demenz ist die sogenannte Lewy-Körperchen-Demenz, 15 bis 20 Prozent aller Erkrankten weisen diese auf. Die Eiweissablagerungen, benannt nach dem deutschen Neurologen Friedrich H. Lewy, treten zunächst im seitlichen Hirnbereich auf und erfassen schliesslich das ganze Organ. Betroffene haben zusätzlich Parkinsonsymptome (Schwanken, Stürzen). Die frontotemporale Demenz gehört zu den seltenen Demenzformen und macht etwa zehn Prozent aller Erkrankungen aus. Wenn im vorderen Bereich das Hirn schrumpft, führt das zu Persönlichkeitsveränderungen: Manche Patienten werden ruhelos statt aggressiv, andere ziehen sich zurück. Ist auch der seitliche Bereich betroffen, treten zusätzliche Sprachprobleme auf. In Deutschland leben gegenwärtig fast 1,6 Millionen Demenzkranke. Die meisten sind 85 Jahre und älter. Rund zwei Drittel von ihnen sind von der Alzheimerkrankheit betroffen. Jahr für Jahr treten etwa 300 000 Neuerkrankungen auf. Infolge der demografischen Veränderungen kommt es zu weitaus mehr Neuerkrankungen als zu Sterbefällen unter den bereits Erkrankten. Sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt, dürfte sich nach Schätzungen zur Bevölkerungsentwicklung die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf rund 3 Millionen Betroffene erhöhen. Weltweit sind etwa 46 Millionen Menschen von Demenzerkrankungen betroffen, zwei Drittel davon in Entwicklungsländern. Bis 2050 wird die Zahl auf voraussichtlich 131,5 Millionen ansteigen, besonders in China, Indien und den afrikanischen Ländern südlich der Sahara.