Vor dreißig Jahren gingen in Leipzig, Erfurt und Berlin Hunderttausende für Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit auf die Straßen. Die riesigen Demonstrationen, die Pressekonferenz mit Günter Schabowski, schließlich der Mauerfall - es waren Bilder, die um die Welt gingen und die sich fest ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben.
Medienaufbruch in der DDR
Weitgehend in Vergessenheit geraten ist hingegen die Geschichte des Medienaufbruchs in der DDR. Anfang 1990 entstanden mehr als 100 neue Zeitungen, viele nannten sich "andere Zeitung". Eine von ihnen war die "Die Andere Zeitung" (DAZ) aus Leipzig, die in der Spitze eine Auflage von bis zu 40.000 Exemplaren hatte. Mit Blick auf die dicht beschriebenen Seiten sagt Gründer Jan Peter heute: "Wir waren nicht knapp. Wir haben am Ende immer die Schriftgröße verändert, um noch mehr Text reinzukriegen."
Interviews mit Sozialisten, Spitzeln und Skinheads
In alten DAZ-Ausgaben finden sich lange Essays, etwa über Georgien, Armenien und zur Frage, wie richtiger Sozialismus funktionieren könnte. Und neben einer Frauenseite gibt es in jeder der wöchentlich erscheinenden Ausgabe ausführliche Interviews - mit Sozialisten, Spitzeln und Skinheads. Jan Peter: "Wir haben gesagt, wir reden mit allen. Wir können ja nicht wieder wie in der DDR sagen, wir machen jetzt nur noch das, was uns gefällt. Also nur noch die Meinung, die uns gefällt. Wir wollten das ja aufbrechen, wir wollten den Bodensatz, der in der DDR immer versteckt war."
West-Verlage witterten Morgenluft
Die DAZ geriet wie die meisten der Zeitungsneugründungen schnell in finanzielle Not. Das lag zum einen daran, dass sie sich anfänglich kaum um Anzeigen kümmerten. Vor allem aber schwappten mit der Öffnung der Mauer nicht nur begehrte Konsumwaren in den Osten. Auch die Zeitungsbranche aus dem Westen witterte Morgenluft angesichts neuer Absatzmärkte in der DDR.
Die Kommunikationswissenschaftlerin Mandy Tröger hat zu den Zeitungsneugründungen in der DDR geforscht. "Im März haben sich quasi die vier Großverlage, Gruner und Jahr, Bauer, Springer und Burda, die DDR in Vertriebsgebiete unterteilt und die jeweiligen Produkte der anderen mitvertrieben", so Tröger.
Vertriebssystem setzt kleine Zeitungen unter Druck
Das Vertriebssystem der West-Verlage setzte die kleinen, unabhängigen Zeitungen erheblich unter Druck. Viel mehr Kosten als kalkuliert seien für den Vertrieb draufgegangen, so Jan Peter. "Wir haben bis dahin wirklich gedacht, wir verkaufen Zeitungen für eine Mark und behalten 80 Pfennig übrig. Aber wir haben sie für eine Mark fünfzig verkauft und nichts übrig behalten und draufgezahlt."
Die Volkskammer der DDR sah die Gefahr für den heimischen Zeitungsmarkt und beauftragte einen unabhängigen Medienkontrollrat. Außerdem entstand nach den Volkskammerwahlen im März 1990 ein Ministerium für Medienpolitik. Der erste und letzte Minister für Medienpolitik, Gottfried Müller (CDU), sprach im Mai 1990 angesichts der Vertriebspraxis von einer faktischen Einschränkung der Pressefreiheit. Politisch war die letzte DDR-Regierung samt ihres Medienministers allerdings weitgehend machtlos.
Alternativen wären möglich gewesen
Die großen West-Verlage bewegten sich mit ihrem eigenen Vertriebssystem zumindest in einer rechtlichen Grauzone, erklärt Mandy Tröger. In ihrer Preisgestaltung setzten sie den DDR-Markt erheblich unter Druck. Zunächst war im Gespräch, die westdeutschen Zeitungen für einen Wechselkurs von 1:3 zu verkaufen. Schließlich kam es aber zum Wechselkurs 1:1. Gleichzeitig fielen die Subventionen für Zeitungen. Die Ost-Zeitungen, die noch nicht etablierten Neugründungen sowieso, hatten da kaum eine Chance, zu überleben.
Es hätte Alternativen gegeben, sagt Mandy Tröger, aber die hätte die Bundesrepublik vorantreiben müssen. Die DDR sei zu diesem Zeitpunkt als Regulator bereits zu schwach gewesen. Denkbar wäre laut Tröger etwa eine Schonfrist gewesen, damit sich die neuen Ost-Zeitungen auf die neuen Bedingungen einstellen hätten können.
Folgen bis heute zu spüren
Das jähe Ende des Pressefrühlings im Osten ist für Mandy Tröger mindestens ein Grund, warum eine demokratische Zivilgesellschaft in den neuen Bundesländern weniger ausgeprägt ist. Sie widerspricht der in der Presse häufig zu lesenden Diagnose, der Aufstieg der Rechten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sei auf das angeblich mangelnde Demokratieverständnis der Ostdeutschen zurückzuführen. "Ich würde da einen Schritt zurücktun und angucken, was ist denn zur Wendegeschichte an zivilgesellschaftlichem Engagement kaputtgegangen durch die Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen aus dem Westen."
Die letzte Ausgabe der DAZ erschien im April 1991. Ihre Geschichte und die der anderen Zeitungsneugründungen ist auch dreißig Jahre später noch relevant - wegen der Blütezeit der ostdeutschen Zivilgesellschaft und wegen der Gründe ihres Scheiterns.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Films über den Pressefrühling der Nachwendezeit wurde der O-Tongeber falsch benannt. Dies haben wir korrigiert. Es handelt sich um den damaligen DAZ-Layouter Dominik Schech.