Die diesjährige Retrospektive der Berlinale warf einen Blick zurück auf die Arbeiten deutscher Regisseurinnen aus Ost und West in den Jahren 1968 bis 1999. Im Fokus der Auswahlkommission lagen Filme von, für, mit und über Frauen. Vor diesem Hintergrund wählten die Kurator*innen insgesamt 28 Spiel- und Dokumentarfilme aus Bundesrepublik und DDR für das Festivalprogramm der Retrospektive aus, hinzu kamen 20 Kurzfilme. Darunter waren renommierte Filme wie etwa Unter dem Pflaster ist der Strand (1975) von Helma Sanders-Brahms, Die allseitig reduzierte Persönlichkeit (1978) von Helke Sandernd Die bleierne Zeit (1981) von Margarethe von Trotta. Dies sind allesamt Filme, die Lebenswelten und Alltagsroutinen von Frauen erkunden und dabei versuchen, eine eigene filmische Sprache zu finden, um die neue Identität der selbstbewussten Frau in einer männerdominierten Gesellschaft darzustellen und zu etablieren.
Zu den zum Teil experimentellen, selbstreflektierenden Anfängen dieser, in den 1970er Jahren noch recht jungen, weiblichen Produktionen gehören zwei zeitlich dicht beieinander liegende Filme aus West- und Ostdeutschland: Für Frauen. Kapitel 1 (Cristina Perincioli/ 1972) aus der Bundesrepublik und(Gitta Nickel /1970) aus der DDR machen eine vergleichende Betrachtung beider Filme interessant. Diese Filme wurden im Rahmen der diesjährigen 69. Berlinale an zwei Terminen zum Thema Kurzfilme 1: Arbeit und Alltag in einer Sektions-Zusammenstellung der Retrospektive mit zwei weiteren Kurzfilmen (Barbara Marheineke/1998) und Heimweh nach Rügen oder Gestern noch war ich Köchin (Róza Berger-Fiedler/ DDR 1977) vorgeführt.
Der erste der vier Kurzfilme, die im Rahmen der Veranstaltung Kurzfilme: Alltag und Arbeit vorgeführt wurden, war Cristina Perinciolis Für Frauen Kapitel 1, eine Dokufiktion aus dem Jahr 1972.[1] Die Regisseurin, eine gebürtige Schweizerin, kam 1968 nach West-Berlin, um hier als eine der ersten Frauen an der 1966 gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie - einer damals sehr politisch engagierten Institution für junge Filmemacher*innen, deren Ruf als politischste Filmschule Deutschlands bis heute anhält - zu studieren. Der Film Für Frauen Kapitel 1 war Perinciolis Abschlussarbeit an der DFFB und gleichzeitig einer der ersten Filme in Westdeutschland, der von einem reinen Frauenteam realisiert wurde. Bei der kurzen Einführung, die direkt vor der Berlinale-Filmvorführung auf der Bühne des Kinosaals 8 im Cinemaxx stattfand, berichtete die Regisseurin Cristina Perincioli über die Ausgangssituation dieses allerersten „Frauenfilm" wie sie ihr Werk selbst nennt. Anfang der 70er Jahre gab es beispielsweise noch keine Strukturen innerhalb der autonom organisierten Frauenbewegung, die zweite große Welle der bundesdeutschen Frauenbewegung befand sich noch in den „Kinderschuhen". Die Regisseurin erzählte von ihren Erfahrungen, die sie mit dem sozialistischen Frauenbund (SFB) machte, in dem Frauen sich mit den Schriften von Marx, Engels und Lenin auseinandersetzten, um auf gleichem Level wie ihre männlichen Kollegen (mit) zu diskutieren. Perincioli sprach auch über die Hintergründe dieser, ihrer ersten Filmproduktion: Einen ganzen Sommer lang hatte das Filmteam, das ausschließlich aus Frauen bestand, seine Sonntage im Märkischen Viertel in Berlin verbracht. An jenen Sonntagen sprachen sie über all die Themen, die sie bewegten. Ziel dieser Gespräche war es, eine Stimme für Frauen zu finden, eine Möglichkeit, Alltagsprobleme und deren Bewältigungsstrategien zu schildern. Es wurde viel improvisiert und experimentiert. Alle beteiligten Frauen, auch die Laiendarstellerinnen - Hausfrauen und Verkäuferinnen -, wurden in die Diskussionen mit einbezogen. Das Ergebnis Für Frauen. Kapitel 1, das auf den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 1971 mit dem Journalistenpreis ausgezeichnet wurde, zeigt schließlich vier Verkäuferinnen, die sich selbst spielen. Im Fokus der Handlung steht der gemeinsame Kampf gegen Lohndiskriminierung.
...