ACHIM ENGELBERG : Sie haben mit einundzwanzig Jahren im renommierten
»Poesiealbum« debütiert, haben als Regisseur und Clown, als Darsteller und
Intendant gearbeitet. Gab es eine Zeit, in der Sie etwas anderes als Künstler
werden wollten? Ich frage auch, weil Sie eine akademische Abschlußarbeit über
ein so anspruchsvolles Thema wie das »Passagenwerk« von Walter Benjamin
verfaßt haben.
STEFFEN MENSCHING: Benjamin beschäftigte mich mit Ende zwanzig und ich
bin immer noch nicht mit ihm fertig. Vor wenigen Tagen fiel mir meine Diplom-
arbeit in die Hände und ich staunte, daß ich damals, 1987, die »Lehre vom
Ähnlichen« ins Zentrum meiner Fragen stellte, einen theoretischen Ansatz, über
den ich heute wieder verstärkt nachdenke.
ENGELBERG: Da untersucht Benjamin eine Jahrtausende andauernde Entwick-
lung vom Lesen aus Eingeweiden oder den Sternen bis hin zur Schrift. Wie hat
sich Ihre Sicht auf diese Lehre nach über drei Jahrzehnten verändert?
MENSCHING: Angesichts der Fetischisierung von Identitäten bekommt Ben-
jamins Suche nach Ähnlichkeit – die manche als einen verschrobenen Tick
abtun wollten – eine politische Dimension. Es ging ihm um das Herausarbei-
ten von Gemeinsinn, um die Überbrückung von Differenzen zur Herstellung
ziviler Verhältnisse. Daher auch sein Interesse am mimetischen Vermögen –
eine Begabung, die Ähnlichkeiten herzustellen versucht. Ich beobachte mit
Sorge, daß solche Erfahrungen in der Gegenwart eher verhindert als beför-
dert werden, unter anderem mit dem Verdikt kultureller Aneignung. Kind-
liches Spiel mit Indianerhauben kann als Legitimation von Kolonisation
untersagt oder als Versuch respektiert werden, den Erfahrungsschatz durch
Nachahmung zu bereichern und kritische Auseinandersetzung anzuregen.
Auseinandersetzung setzt Interesse voraus. Interesse verlangt nach Nähe. Für
die Künste wäre eine freiwillige Beschränkung des Erfahrungsraums fatal.
Moderne Kunst ist kosmopolitisch, egal, ob sie fremde Erfahrungen aufgreift
oder sich ihnen verweigert, stets setzt sie sich zu etwas in Beziehung. In einer globalisierten Welt produziert niemand außerhalb des Kanons und des
Bestehenden.
ENGELBERG: Wie verorten Sie sich in der Welt der Poesie?
MENSCHING: Nah am Boden. Die Dichtung, die mich prägte und die ich schreibe,
ist nicht sprachexperimentell, sondern eher erzählend, mit klaren Bildern und
lyrischen Vorgängen. Brecht ist ein Vorbild mit seinen Elementen der Neuen
Sachlichkeit, weniger die Poeten mit kühnen Metaphern neuer Empfindlichkei-
ten. In der Weltpoesie interessieren mich Giuseppe Ungaretti und William Car-
los Williams, Ernesto Cardenal und Jannis Ritsos, Czesław Miłosz oder Adam
Zagajewski.
ENGELBERG: Träume tauchen nicht nur im Titelgedicht Ihres letzten Bandes
auf, sondern sind, auch in Ihrem jüngsten Roman präsent. Darüber hinaus haben
Sie ein besonderes Buch herausgegeben: »In derselben Nacht. Das Traumbuch
des Exils«. Wie kamen Sie zu dieser Beschäftigung mit dem weitgehend verges-
senen Autor Rudolf Leonhard?
MENSCHING: Leonhard wurde von den Nazis ausgebürgert und in Frankreich
zwischen 1939 und 1944 als feindlicher Ausländer im Lager Le Vernet und
im Gefängnis Castres interniert. Zeitlebens notierte er Träume. Während
der Internierung, ohne Alkohol und ohne – für den bekennenden Erotiker –
die Möglichkeit zum Sex war er geradezu besessen von seinen Träumen, die
er noch nachts notierte und später ausformulierte. Er sah das nicht nur als
etwas Subjektives, sondern als ein Selbsterforschungsprojekt und eine Art
Geschichtsschreibung. Er träumte fünf- bis sechsmal in einer Nacht, zuwei-
len sogar zehnmal. Man kann Träume auch initiieren. Was mich an seinem
Manuskript interessierte, war die Fülle der Fälle, der Figuren und die Sti-
listik. Es tauchen Gestalten aus Leonhards Geburtsort Lissa auf (das heu-
tige polnische Leszno), die gesamte Boheme der zwanziger Jahre, die Land-
schaft des Exils und ungeheure erotische Beschreibungen. Gerade letztere,
die so detailliert und entblößend sind, legen nahe, daß er keine Selbstzensur
anwandte. Er nahm seinen Stoff so ernst, daß er nie manipulierte. Er war, wie
er selbst sagte, Stalinist und als Kommunist doktrinär, aber in seinem Traum-
buch benennt er alle Zweifel, die in seinen Träumen vorkommen. So schreibt
er am 22. Mai 1942: »Später kommt Münzenberg selbst, durch einen engen
Korridor, in das Zimmer, wie in einen Hinterhalt; es soll mit ihm abgerechnet
werden. Ich selbst habe eine Pistole bekommen, mit der ich ihn von seinem
Eintritt an in Schach halte.« Zu diesem Zeitpunkt war der legendäre Verle-
ger Willy Münzenberg schon tot, erhängt, aller Wahrscheinlichkeit nach kein
Selbstmord. Nach der Parteilinie schwieg man darüber. Leonhard erzählte
es – wenn er es geträumt hatte. Diesen Widerspruch zwischen dem bewußten,
frisierten Parteidenken und dem libertären Träumen empfand ich als wunderbare
ENGELBERG: Als ich das Buch erhielt, war ich vom Umfang überrascht. Andere
Traumbücher, die ich kenne, etwa von Wieland Herzfelde oder Heinar Kipp-
hardt, umfassen vielleicht zweihundert, aber sicher keine fünfhundert Seiten.
MENSCHING: Dabei ist das nur eine Auswahl, etwa ein Viertel des gesamten
Manuskripts. Leonhard schrieb – soweit ich weiß – die größte Traumsammlung
eines einzelnen Menschen.
ENGELBERG: Warum konnten Sie 2001 – rund sechzig Jahre nach ihrer Entste-
hung – als erster diese Texte veröffentlichen?
MENSCHING: Ich war einfach der erste, der sie gründlich angesehen und sich in
die Handschrift eingelesen hat. Zu DDR-Zeiten wären die Texte zu brisant gewe-
sen, und zwar nicht einmal wegen der politischen Passagen. Als sozialistischer
Autor schrieb man keine homo-, bi- und transsexuellen Träume auf. Maximilian
Scheer, ein Freund Leonhards, publizierte 1955 wenige Auszüge, aber sie geben
kein rechtes Bild von diesem aufregenden Material. In den neunziger Jahren
interessierte sich kaum jemand für den Autor, meine Herausgabe änderte daran
wenig. Soweit ich weiß, hat bislang kein Traumforscher dieses Material unter-
sucht, es nach Traumstrukturen befragt.
ENGELBERG: Hier werden Träume zu Dokumenten. Nicht in allen Ihrer Bücher
verwenden Sie Dokumente, aber sie sind eine Konstante, etwa in »Jacobs Leiter«
von 2003. Literatur, die sich auf Dokumente stützt, behandelt oft Traumata, etwa
bei Karl Kraus in seinem als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstandenen,
monumentalen Stück »Die letzten Tage der Menschheit«. Kraus wiederum taucht
in »Schermanns Augen« (2018) auf, ein Werk, daß die Desaster von Nazi-Dikta-
tur und Stalinismus darstellt und als Ihr bisheriges Hauptwerk gilt. Warum sind
Ihnen Dokumenten so wichtig?
MENSCHING: Bei mir sind die Grenzen zwischen Dokumenten, realen Perso-
nen und erfundenen Situationen fließend. Dokumentengestützte Informationen
regen mich oft stärker an als das rein Erfundene, aber ich versuche, sie mit
meinen Erfahrungen und Ausschmückungen zu verbinden. Hier spielen auch
Träume wieder eine Rolle. Im Traum gibt es den Abdruck der Erinnerungen,
die wir reflektieren, als etwas Dokumentarisches. Aber er verbindet es mit dem
Phantastischen, dem Fiktionalen. Das versuche ich mehr oder weniger auch
in meiner Prosa. Bei der Arbeit an »Schermanns Augen« habe ich viele auto-
biographische Zeugnisse gelesen. Von Solschenyzin kannte ich den »Archi-
pel Gulag«, aber während des Schreibens habe ich mir bewußt keine anderen
Klassiker der Gulagliteratur wie Warlam Schalamow angeschaut, der damals in
Deutschland entdeckt wurde. Ich wollte keine direkte Beeinflussung. Dafür habe
ich viel deutsche, aber auch polnische Erinnerungsliteratur gelesen. Letztere
gibt es in großer Fülle auf englisch, weil sich viele polnische Soldaten, die fürdie Briten gekämpft haben, in England oder Kanada niederließen und dort ihre
Lebenserinnerungen schrieben. Die polnischen Militärs, die nicht in Katyn oder
anderswo umgebracht worden sind, wurden ja – so muß man es zynisch sagen –
1941 befreit, und viele gingen über Persien zum britischen Militär. Aus diesen
Erinnerungsbüchern entnahm ich Episoden oder Details. Zukünftige Literatur-
wissenschaftler könnten dann herausfinden, wo ich etwas geklaut habe. Aber ich
habe das Material stark verfremdet. Das gehört sich einfach, daß man etwas nicht
komplett übernimmt, sondern sich nur anregen läßt. Wenn man richtig recher-
chiert, erfährt man von Geschichten, auf die man sonst nie gestoßen wäre. Ein
Beispiel: Der Graphologe Rafael Schermann, berühmt in ganz Europa und den
USA, reiste 1923 nach Amerika. Das wußte ich, das konnte man in einschlägi-
gen Zeitungen wie der New York Times oder der Chicago Tribune nachlesen. Im
Archiv der Manhattan vorgelagerten Migrationsinsel Ellis Island kann man sämt-
liche Passagierlisten einsehen. Obwohl ich wußte, daß Schermann erster Klasse
reiste, guckte ich mir auch die Liste für die zweite Klasse an und fand dort
viele russische Namen, alle mit Wohnort Moskau. Einige Namen wie Olga Kniper
kannte ich und entdeckte so, daß das Moskauer Künstlertheater mit Stanislaw-
ski auf dem Schiff war. Das war ein wunderbarer Tag für mich, das hätte ich mir
kaum ausdenken können. Wahrscheinlich sind sich Schermann und Stanislawski
gar nicht begegnet. Das Wunderbare bei dokumentargestützten Informationen ist
aber, daß es geschehen sein könnte. Ein Möglichkeitsraum wird geöffnet. Einer
meiner Favoriten, der jüdisch-amerikanische Schriftsteller E. L. Doctorow, der
in »Ragtime« über die Anarchistenbewegung geschrieben hat, arbeitete immer
nach diesem Prinzip. Seine Bücher sind faktengestützt und dennoch phantasti-
sche Odysseen.
ENGELBERG: Die Szenen zwischen Schermann und Stanislawski unterbrechen
die apokalyptische Verhörsituation und wirken wie die Narrenszene vor dem
Königsmord in Macbeth. Es ist kaum erwähnt worden, daß der Roman »Scher-
manns Augen«, der im Gulag, an einem Grausamkeitspol der Weltgeschichte
spielt, zahlreiche lustige Szenen enthält. Eine fiktive Gestalt, der deutsche Kom-
munist Otto Haferkorn, begegnet dort historisch verbürgten Personen. Wie kam
diese Figur zu Ihnen?
MENSCHING: Ich wollte über den Graphologen und Hellseher Rafael Schermann
schreiben. Als prominenter Jude mußte er nach 1933 aus Deutschland emigrie-
ren. Als ich erfuhr, daß er nach Polen gegangen war, ahnte ich, daß er 1939 in
große Schwierigkeiten gekommen sein mußte. Entweder war er im Holocaust
umgekommen oder weiter geflohen. Dann fand ich in New York einen Hinweis,
Ein GesprMch über Dokumente, Phantasie und Literatur 669
daß er zuletzt 1942 in Sibirien gesehen und wohl in ein Lager im Hohen Nor-
den deportiert worden war. Nun stellte ich ihm, auch um die Sprachbarriere zu
überwinden, einen jungen deutschen Kommunisten an die Seite. Diese Erfin-
dung ermöglichte es mir, Material zu benutzen, das ich fünfundzwanzig Jahre
zuvor über Maria Osten recherchiert hatte. Mit Haferkorn konnte ich Schermann
zu seinen metaphysischen Spleens und seinen angeblich vollbrachten Wunder
befragen. Außerdem paßte die Konstellation jung und alt in eine solche Konflikt-
situation. Es war ein Kammerspielambiente.
ENGELBERG: Sie haben bei der Premiere des Nachfolgebuchs »Hausers Aus-
flug« erzählt, daß Sie beinahe mit einem Kebabverkäufer in dessen Geburts-
ort gefahren wären, was Corona verhindert hat. Besuchten Sie für »Schermanns
Augen« ehemalige Lagerorte? Oder ins Allgemeine gewendet: Wie wichtig sind
historische Orte, die sich oft stark verändert haben?
MENSCHING: Eine atmosphärische Kenntnis bestimmter Orte kann die Lust
am Fabulieren verstärken. Manchmal verführt sie einen auch zu Abschweifun-
gen, die den Fluß der Handlung bremsen. Bei der Beschreibung von Moskau
war es für mich von Vorteil, die Stadt in Ansätzen zu kennen, ihr Licht, ihren
Geruch, die schwüle Sommerhitze und die trockene Kälte im Winter. Um Kotlas
zu entwerfen, war ich auf Berichte angewiesen und mußte diese mit Phantasie
anreichern. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich habe keine ehemali-
gen Lager in Rußland besucht, habe mir aber für Artek 2, das fiktive Lager des
Romans, eine Skizze entworfen, die immer konkreter und bunter wurde, auch die
Krankenstation und das Verhörzimmer bekamen eine detaillierte Möblierung.
ENGELBERG: Bei Peter Weiss, aber auch bei anderen, die auf der Grundlage
von Dokumenten arbeiten, gibt es oft einen mythologischen Bezug. Diesen sehen
viele Rezensenten auch bei Ihnen. Ihr Freund Wenzel, mit dem Sie in den acht-
ziger Jahren als Clownsduo bekannt wurden, vergleicht das Paar Schermann
und Haferkorn mit Dante und Vergil in der »Göttlichen Komödie«. Er schreibt,
»Schermanns Augen« sei keine Divina Commedia, aber eine Commedia Pro-
fana. Weitere Bezüge sieht er zu »Tausendundeiner Nacht«.
MENSCHING: Wenn es Bezüge gibt, so entstehen sie eher unbewußt. Ich bin kein
Konzeptionalist. Menschen verhalten sich in bestimmten Gefährdungslagen ähn-
lich, über die Zeiten und Anlässe hinweg, dadurch wirken gewisse Reaktionen
nahezu archaisch, auch wenn sie sich auf eine aktuelle Bedrohung beziehen.
ENGELBERG: In etlichen Ihrer Bücher gibt es Zeitzeugen, etwa eine der Sekre-
tärinnen Oskar Schindlers. Suchen Sie diese wie Dokumente? Welche Rolle neh-
men sie für Sie ein?
MENSCHING: Daß ich Hilde Olsen, geborene Berger, kennenlernte, gehört zu den
Geschenken meines Aufenthalts 1998 in New York. Wir waren uns auf Anhieb
sympathisch, zwei Berliner Kinder, eins 1916 geboren, eines 1958. Daß sie in
Öl AG unter dem Direktor Berthold Beitz als Sklavenarbeiterin tätig gewesen
war, die Schindler-Liste tippte, auf diese Weise Auschwitz überlebte, erfuhr ich
erst später. Es brauchte einige Zeit, Vertrauen und Überredungskunst, um sie zu
ermuntern, mir ihre Geschichte zu erzählen. Ich habe dann in diversen Archiven
ein paar hundert Seiten Gerichtsprotokolle für sie kopiert, Briefe ihres Man-
nes, ihres Bruders, ihrer Mutter, die alle von den Nazis umgebracht wurden.
Ich glaube, sie hat diese Dokumente niemals geöffnet. Sie wollte dem Schmerz
keine neue Nahrung geben. Sie war eine resolute, selbstbewußte und trotzdem
bescheidene Frau. Ihre besten Freunde in New York erfuhren ihre Lebensge-
schichte erst, als Spielbergs Film in den Kinos lief und diskutiert wurde. Da
sagte sie irgendwann: »Ich kenne diese Geschichte, diese Episode stimmt, das
ist Legende, hier wird Schindler heroisiert usw.«
ENGELBERG: Es gab in den letzten beiden Jahrzehnten Auseinandersetzungen
darüber, wer was und wie erzählen und was womit verglichen werden dürfe. Claude
Lanzmann, der mit »Shoah« ein monumentales und beeindruckendes Werk der
Filmgeschichte schuf, lehnte nahezu jegliche Fiktion bei der Darstellung des
Mordes an den europäischen Juden ab. Der nicht weniger beeindruckende Jorge
Semprún vertrat eine Gegenposition. Er glaubte, daß viele nachgeborene Roman-
ciers authentischer als die Zeitzeugen schrieben, weil sich in ihren Werken ver-
schiedene, sich überlagernden Erlebnisberichte verflechten. Ohne Fiktion gab es
für ihn keine Tradition. Gleichzeitig verband er die Verbrechen des Stalinismus
mit denen der Nazis, ohne sie einander gleichzusetzen. Letztere Position deckt
sich stark mit Ihrem Herangehen bei »Schermanns Augen«, wo Shoah und Archi-
pel Gulag miteinander verknüpft werden. Ohne die Judenverfolgung der Nazis
wäre Schermann niemals in den Osten geflohen. Haben Sie diese Diskussionen
verfolgt, sich möglicherweise beteiligt, oder waren sie nur Begleitumstände?
MENSCHING: Ich nehme Theorie ernst, habe ja kulturwissenschaftliche Ambi-
tionen, aber im Schreibprozeß vergesse ich sie, da bestimmt das Material den
Gang der Geschichte. Sobald man fiktional über eine Person der Zeitgeschichte
schreibt, gerät man in ein kompliziertes Kraftfeld. Auf der einen Seite steht der
Zwang der Erfindung, denn man will ja kein Sachbuch, keine Biographie verfas-
sen, zum anderen gibt es die moralische Verpflichtung, der Person, über die man
schreibt, mit Respekt zu begegnen. Wäre ich in dem amerikanischen Lexikon
nicht auf die Anmerkung gestoßen: »Schermann wurde zuletzt in Sibirien gese-
hen«, hätte ich ihn nicht in polnischen Deportationslisten gesucht, ihn niemals
auf die Reise nach Fediakowo geschickt. Die Erfindung brauchte – zumindest
für mich – das Votum: es war im Bereich des Möglichen.
ENGELBERG: Über die deutsche Schriftstellerin Maria Osten, die Sie schon
erwähnten, aber auch über die Jugendbuchautorin Ruth Rewald und über OlgaBenario-Prestes schrieb Robert Cohen sein Epochenbuch »Exil der frechen
Frauen«. Ihm ist »Schermanns Augen« gewidmet. Sowie den drei mittlerweile
verstorbenen Frauen Lily Ruth Hull, Silvia Schlenstedt und Simone Barck. Wer
sind diese Personen?
MENSCHING: Silvia Schlenstedt war eine leidenschaftliche Literaturhistorikerin,
die viel über Emigration und Exil gearbeitet hat. Ich war mit ihr und ihrem Mann
Dieter, einem brillanten Kopf und Theoretiker, eng befreundet. Ohne die Gesprä-
che mit ihnen wären Wenzel und ich andere Autoren und Menschen geworden,
ärmere, glaube ich. Simone Barck kam auch aus dem Bereich der Exil-Forschung,
sie stellte mir nach der Wende Aufzeichnungen über Maria Osten zur Verfügung,
die sie bei Studien in sowjetischen Archiven hatte machen können. Lily Hull,
geborene Waldapfel, war eine wunderbare Freundin, gebürtige Wienerin, die ab
1939 in den USA lebte. Ich habe ihr viel zu verdanken, großzügigste Aufnahme
in ihrem Haus in New Jersey, das mir ein zweites zu Hause wurde, Freundschaft,
Ratschläge, Unterstützung und Herzenswärme. Sie erzählte mir irgendwann, daß
ihre Mutter um 1925 zu Schermann gegangen sei, um dem Wundermann ihre,
Lilys, erste Handschriften zu zeigen. Die Mutter machte sich Sorgen um die
Psyche der Sechsjährigen und wollte eine Expertise vom Psychographologen.
Ich fragte, was der Hellseher in ihrer Schrift entdeckt hätte? Daß ich den Män-
nern eines Tages – eines sehr frühen Tages – einige Aufmerksamkeit entlocken
würde, sagte die fast Neunzigjährige und lächelte verschmitzt.
ENGELBERG: Die Schlenstedts arbeiteten nach 1989 vor allem als Herausgeber,
Silvia für die Werke von Anna Seghers, Dieter für die von Egon Erwin Kisch.
Beide publizierten bis 1989 regelmäßig in Sinn und Form. Ähnliches erlebte
ich bei dem Exilforscher Werner Mittenzwei, der nur noch einmal, 1992, einen
Aufsatz in der Akademie-Zeitschrift veröffentlichte. Als ich ihn danach fragte,
meinte er, daß die Wirkung sich entscheidend verändert habe. Helmut Dame-
rius, der im sowjetischen Exil in den Gulag und anschließend in die Verbannung
kam, übergab Werner Mittenzwei seine Memoiren. In keiner anderen Zeitschrift
als in Sinn und Form hätte Mittenzwei dieses Schicksal bekanntmachen können.
Das eigentliche Buch konnte erst 1990 erscheinen, ging dann in den Wirren der
zweiten deutschen Einheit nahezu unter, der Sinn-und-Form-Aufsatz von 1987
hatte eine stärkere Wirkung. Hat das »Schweigen« der Schlenstedts auch mit
den Abwicklungen zu tun?
MENSCHING: Silvia und Dieter Schlenstedt waren 1991 aus ihrem vertrauten
Forschungsverband entlassen worden. Das Institut für Literaturgeschichte an der
Akademie der Wissenschaften wurde abgewickelt. Die Exilforschung der DDR
Achim Engelberg, Steffen Mensching672
genoß in der neuen Bundesrepublik – das muß man so klar formulieren – eher
geringe gesellschaftliche Anerkennung. Ihre Leistungen wurde weitgehend igno-
riert, es gab wie auf allen anderen Gebieten wenig Differenzierung. Dafür gab
es ideologische Gründe, man hatte in der DDR die kommunistische Emigration
stärker beachtet als die bürgerliche, hatte »blinde Flecken« und Einseitigkeiten
zugelassen, deswegen wurde sie pauschal abgewertet. Wer eine Ostbiographie
hatte, mußte zudem seine demokratische Legitimation beweisen. Die Schlen-
stedts waren zu einem solchen Kotau nicht bereit. Silvia hat weiter über Leben
und Werk vor allem jüdischer Autorinnen geforscht, Dieter war mit der Her-
ausgabe des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus beschäftigt und
hat als Präsident des Ost-PEN viel für eine respektvolle Vereinigung der beiden
deutschen Zentren geleistet. Ich erinnere mich, daß er mir irgendwann von sei-
nem Plan erzählte, eine DDR-Literaturgeschichte zu schreiben, als einen Essay,
der Analyse und autobiographischen Lektürebericht verbinden sollte. Leider hat
er dieses Projekt nicht verwirklicht.
ENGELBERG: Ein häufiger Vergleich mit »Schermanns Augen« ist der mit »Die
Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss. Was ist Ihre Verbindung zu diesem
Werk?
MENSCHING: Ich war glücklich, damals ein Exemplar ergattert zu haben, über
gute Beziehungen zum »Volksbuchhandel«. Der Roman war für mich und viele
meiner Freunde eine ungeheure Ermunterung, ästhetisch, politisch, historisch.
Was ich an Peter Weiss besonders bewundere, war seine Entscheidung, sich kon-
sequent zwischen alle Stühle zu setzen, ihm mußte ja klar sein, daß sein Roman
auf taube oder durch Vorurteile verstopfte Ohren stoßen würde. Gut, er würde
für die literarische Leistung Anerkennung einheimsen, aber die Intention des
Werkes würde im Osten wie Westen nicht zur Wirkung kommen. Trotzdem hat er
in der Substanz keine Kompromisse gemacht. Eine solche Radikalität wäre heute
verstärkt nötig, wir haben nicht mehr viel Zeit. Was mich an vielen Radikalen
(auf politischem wie ästhetischem Gebiet) ungeheuer langweilt, ist der Glaube
an die eigene Bedeutung und der damit verbundene Mangel an Selbstironie. Mit
abgehobenem Messianismus ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen.
ENGELBERG: John Berger war der Überzeugung, daß jeder wirkliche Künstler
eine Tradition erneuert, zu der er gehört. Gibt es bei Ihnen diese Arbeit mit und
an der Tradition?
MENSCHING: Das sollten eigentlich andere beantworten, die zu mir und meinen
Texten besseren Abstand haben. Eine Chronik, sagte Goethe, schreibt nur derje-
nige, dem die Gegenwart wichtig ist. Insofern bestimmte meine Auseinanderset-
zung mit der Vergangenheit oder toten Dichterinnen und Dichtern nie ein muse-
ales Interesse, sondern immer ein aktuelles Defizit, das ich so zu füllen suchte.
Ein GesprMch über Dokumente, Phantasie und Literatur 673
Es war nie eine Pflicht, etwas Äußerliches, sondern immer ein Vergnügen, eine
Freundschaftssuche.
ENGELBERG: Als Sie 2022 den Berliner Literaturpreis mit besonderer Erwäh-
nung von »Schermanns Augen« erhielten, war Ihre Reaktion auf den russischen
Angriff auf die Ukraine: »Ich dachte, ich hätte Vergangenheit rekonstruiert, aber
ich habe Zukunft beschrieben.« Welche Parallelen sehen Sie?
MENSCHING: Es gab frappierende Ähnlichkeiten und Korrespondenzen. Von
den überfüllten Zügen mit Menschen auf der Flucht bis zu den Granatenangrif-
fen. In Lemberg / Lwiw stieg damals wie heute die Bevölkerungszahl aufgrund
der Ankommenden. Gespenstisch gleich ist, wie die Sowjets durch das Geheim-
abkommen mit Deutschland Lemberg ab September 1939 in die Sowjetunion
eingliederten, und wie Rußland mit besetzten Gebieten wie der Krim verfährt:
sofort werden der Rubel und russisches Recht eingeführt. In Lemberg wurde
1939 Moskauer Zeit eingeführt, was katastrophale Folgen hatte. So mußten viele
um sechs Uhr zur Arbeit aufstehen, aber es war eigentlich erst um vier. Es wer-
den gezinkte demokratische Wahlen mit festgelegten Kandidaten durchgeführt.
Wer keine Arbeit hat, bekommt keinen Wohnsitz. Im Prozedere gibt es viele
Ähnlichkeiten. Mein Buch beginnt 1940: Der Spanische Bürgerkrieg ist verlo-
ren. Die Tschechische Republik wird nach dem Münchener Abkommen filetiert.
Das war wie die Annektion der Krim. Das Sudetenland ist wie Donezk. Die West-
mächte reagieren nicht oder zu schwach. Als Polen angegriffen wird, erklären sie
den Krieg, aber kämpfen nicht. Die Engländer tun wenig, die Franzosen nichts.
Spanien war wie die Ukraine heute auch keine konsolidierte Demokratie, aber es
gab ein gewähltes Parlament.
Wer die ideologische Konzeption der Sowjetunion in den dreißiger Jahren bis
zum Überfall Deutschlands 1941 betrachtet, vom Spanienkrieg über das Mün-
chener Abkommen bis zur Infiltration der kommunistischen Bewegung, sieht: Sie
ist getragen vom Haß auf das demokratische westliche System. Das findet man
auch heute wieder. Frankreich und Großbritannien waren schlimmere Feinde
als Nazideutschland. Diese Parallele ist in ihrer antizivilisatorischen Ausrich-
tung erschreckend. Über die Defizite des westlichen Demokratiemodells kann
gleichwohl man lange streiten und genug kritische Punkte benennen. Vor einigen
Jahren drohten die USA in die Despotie abzurutschen.
ENGELBERG: Ausgeschlossen ist das immer noch nicht.
MENSCHING: Obwohl ich die NATO-Osterweiterung für einen Fehler halte, sind
wir durch den Krieg in der Ukraine in eine schreckliche Lage gekommen. Ich
rate zur Vorsicht. In Ihrem Gulag-Film »Gefangen in der Hungersteppe« sagt
der Zeitzeuge Arthur Hörmann: »Es gab nur eine Wahrheit.« Aber die Situa-
tion ist zu komplex für scharfe Trennllinien. Man merkt es selbst im eigenen
Freundeskreis, es gibt viele Differenzen. Wir müssen lernen, einem Menschen
mit anderen Meinungen nicht zu unterstellen, er wolle keine Lösung finden. Zu
schnell ist er dann ein Idiot, ein Militarist, ein blinder Pazifist. Die Corona-
Pandemie war eine Zeit eindeutiger Zuweisungen und erinnerte mich zuweilen
an bestimmte Diskussionen in der DDR. Möglicherweise durch meine Arbeit an
»Schermanns Augen« bin ich vorsichtig geworden. Mein Titelheld ist ein bür-
gerlicher Relativist, da kann man zuhören und sich mit ihm streiten. Gravierend
aber ist für mich der Unterschied, daß wir es heute mit einer Atommacht zu
tun haben. Das macht viele Vorschläge von gestern, internationale Streitkräften
oder Brigaden, fragwürdig. Im Spanischen Bürgerkrieg hatte man erwartet, daß
Frankreich Panzer liefert, was nicht geschah. Heute ist die Lieferung schwerer
Waffen an die Ukraine eine Gratwanderung.
ENGELBERG: Eine alte Debatte, die durch den Krieg neu auflebt, ist die über
Mitteleuropa, eine Region, die nach dem Ende des Habsburgerreichs schwer
gebeutelt wurde. Manche Texte etwa von Milan Kundera aus den achtziger Jah-
ren wirken in diesem Zusammenhang ungemein aktuell. Auch der Roman »Pen-
tateuch oder Die fünf Bücher Isaaks« von Angel Wagenstein, über den ich Ihren
Komplizen und Freund Wenzel kennenlernte. »Schermanns Augen« kann man
auch als Mitteleuropa-Roman lesen. Interessiert Sie diese Debatte oder ist sie
wie der von Wenzel beobachtete Bezug zu Dante nur hineingeraten?
MENSCHING: Schermann wurde in Krakow geboren, in Wien ausgebildet, er
lebte in Berlin und Paris und tourte als Wundermann und Hellseher durch die
europäischen Hauptstädte. Seine Lebensreise berührte die Boheme und kultu-
relle Avantgarde, er traf Oskar Kokoschka, Adolf Loos, Yvan Goll, Else Lasker-
Schüler, Hans Natonek, Wilhelm Stekel, Walter Benjamin und Sergej Eisenstein.
Die Intellektuellen standen in engem Austausch, nahmen andere Perspektiven
und Experimente zur Kenntnis. Die k.u.k-Monarchie war ja ein ambivalentes
Unternehmen, einerseits unterdrückte sie die nationale Selbständigkeit, gleich-
zeitig schuf sie zivilisatorische Brücken von Lemberg bis Ragusa / Dubrovnik, ja
bis Cattaro / Kotor.
ENGELBERG: Der Ausdruck »Zeitenwende« mit seinem philosophischen Reso-
nanzraum einer nichtlinearen Geschichte macht die Runde. Bestimmt gibt es
große Teile der Erde, die am 24. Februar 2022 nicht in einer anderen Welt auf-
gewacht sind. Der Hunger, der »Weltkrieg in Stücken« (Papst Franziskus) tobt
weiter. Als schon einmal von einer »Wende« gesprochen wurde, 1989/ 90, insze-
nierte Heiner Müller im Deutschen Theater »Hamlet« und sagte seinem Freund
Alexander Kluge, daß er eine vergleichbare Shakespeare-Inszenierung in der
Bundesrepublik für sinnlos halte. Aus den folgenden Jahren bis zu seinem frü-
hen Tod 1995 gab es mehrere Äußerungen über die Saturiertheit des Westens.
Ein GesprMch über Dokumente, Phantasie und Literatur 675
Bedeutet »Zeitenwende« für die Künste heute, daß die großen Stoffe wieder auf
der Straße liegen? Daß das Bewußtsein für Tragik, für Geschichte wächst, daß Sie
als Intendant des Theaters Rudolstadt oder als Autor darauf aufbauen können?
MENSCHING: Ich bin da skeptisch. Die großen Stoffe haben ja im Grunde nie
aufgehört zu funktionieren. Der Hintergrund dieser Wirksamkeit ist ein trauri-
ger Fatalismus. Die Menschheit, die sich so viel auf ihren Fortschritt einbildet,
kommt im Grunde nicht von der Stelle, fällt immer wieder in alte, brutale, apoka-
lyptische Muster zurück. Der Krieg in der Ukraine ist dafür ein erschreckendes
Beispiel. Daß die alten Tragödien heute noch funktionieren, wissen viele. Ich
glaube, es besteht vielmehr ein Bedürfnis, aus dem Teufelskreis dieser Erzäh-
lungen auszubrechen, neue Perspektiven zu entwickeln, die eigene Situation aus
der heutigen Misere geschildert zu bekommen.
ENGELBERG: In Ihrem Programm »Der Abschied der Matrosen vom Kommunis-
mus« sangen Sie mit Wenzel: »Sie werden kommen«. Das war 1992, eine Asyl-
debatte »tobte« mehr, als daß sie geführt wurde, es gab Anschläge und Pogrome,
das Mittelmeer war wie heute die gefährlichste Grenze der Welt. Wie sehen Sie
heute die widersprüchlichen Entwicklungen in einer Welt, in der über hundert
Millionen Menschen auf der Flucht sind? Ähneln die Verbesserungen, etwa im
Staatsbürgerrecht, dem von Karl Kraus beschriebenen verzweifelten Entschluß,
an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen?
MENSCHING: Man kann es so sehen: Die Verteidigung des Asylrechts ist trotz-
dem absolut notwendig, nicht nur für die schutzsuchenden Flüchtlinge, auch
für die deutsche Zivilgesellschaft. Klar ist, daß die kommenden Migrationsbe-
wegungen nicht mit logistischen Taschenspielertricks aufzufangen sein werden.
Wir stehen heute in vielen Bereichen (Aufrüstung, Energie, Ökologie, Migra-
tion) vor Grundsatzentscheidungen. Eigentlich ist der Mehrheit längst klar, daß
dahinter die Systemfrage lauert.
ENGELBERG: Nun sind Sie mit Ihrem aktuellen Roman »Hausers Ausflug« zum
Thema Asyl und Abschiebung zurückgekehrt. Während die Flüchtlinge aus der
Ukraine aufgenommen werden, werden die aus Weltgegenden, in die Hauser
wider Willen deportiert wird, abgedrängt. Zeigt sich in diesem offensichtlichen
Widerspruch, durch den täglich Menschen sterben, daß wir eine neue kulturelle
Ordnung brauchen, um auf die zunehmende Zahl von Migranten und Fliehenden
zu reagieren?
MENSCHING: Kultur ist nach Wilhelm Stekel – ich zitiere das in »Schermanns
Augen« – gut funktionierende Hemmung. Es ist also ein Mittel, bestimmte Kon-
flikte zu isolieren, zu begrenzen, in zivilisierte Bahnen zu lenken, ohne daß der
Grund des Konflikts angefaßt wird. Wir investieren in die Feuerwehr, bekämpfen
aber nicht die Brandursachen.
ENGELBERG: Da Sie stark reflektieren, wann Sie auf dokumentengestützte Infor-
mationen zurückgreifen und wann Sie in die Fiktion ausweichen: Warum haben
Sie den Roman, in dem auch der Krieg um die Ukraine auftaucht, genau zehn
Jahre nach dem Terrorakt von Hanau, also 2030, angesiedelt und nicht in einer
unbestimmten nahen Zukunft?
MENSCHING: Es war an einem bestimmten Punkt nötig, mit konkreten Daten
zu operieren, denn im Bereich von Flucht und Asyl sind Daten der Einreise,
der Aufenthaltsdauer absolut entscheidend. Die Geschichte spielt ja in einer
konkreten Zeit, nicht im luftleeren Raum. Auch Orwell brauchte eine Jahres-
zahl: 1984. Mir war wichtig, daß der Text in naher Zukunft spielt, also quasi
übermorgen. Als ich mich für 2029 / 2030 entschied, wußte ich noch nicht, daß
Hanau eine Schlüsselrolle im Roman erhalten würde. Dort, im Ortsteil Kessel-
stadt, habe ich natürlich auch recherchiert.
ENGELBERG: Kurz vor Erscheinen des Buchs erklärten die potentiellen Nachfol-
ger des britischen Premierministers Boris Johnson, dessen Vorhaben umzusetzen,
Asylsuchende in Auffanglager nach Ruanda auszufliegen. Dort sollen auch die
Asylverfahren stattfinden, und selbst bei positiven Bescheid sollen Flüchtlinge
in diesem afrikanischen Land bleiben, das von Großbritannien dafür bezahlt
wird. Gab es vergleichbare Vorhaben, die Sie für Ihren Roman inspirierten?
MENSCHING: Ich war mit dem Text fertig, als ich die Nachricht hörte, Dänemark
wolle im Kosovo Gefängnisse anmieten, um dort abgelehnte Asylbewerber unter-
zubringen. Dann kam die britische Idee mit Ruanda. Obwohl die Verwirklichung
beider Pläne erst einmal juristisch verhindert wurde, werden es nicht die letzten
zynischen Versuche gewesen sein, die Probleme, also die Menschen, auszula-
gern. Übrigens wurde »Hausers Ausflug« auch von neurechten Ideologen zur
Kenntnis genommen. In einer Veranstaltung des Instituts für Staatspolitik teilten
die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen und Ellen Kositza, die Partnerin
von Antaios-Verleger Götz Kubitschek, ihre Lektüreeindrücke mit. Als Dagen
den Zuschauern die Handlung referierte und erwähnte, abgewiesene Asylanten
würden in Boxen über ihren Heimatländern abgeworfen, reagierte das Publi-
kum mit Beifall. »Freuen Sie sich nicht zu früh!«, bremste Dagen die Euphorie,
um sodann den Roman zu zerpflücken und mich als Apologeten des Systems
zu zeichnen. An meinem Buch störte sie nicht die Tat, sondern die kritische
bis ironische Darstellung des Täters, seine Reflexion und seine mögliche Wand-
lung. Getroffene Hunde bellen. Es gibt Kritiken, die mich ärgern, diese hat mich
ermuntert.
ENGELBERG: Den Rat von Tschechow nehmen Sie an: »Entfernen Sie alles, was
für die Geschichte nicht relevant ist. Wenn Sie im ersten Kapitel sagen, daß ein
Gewehr an der Wand hängt, muß es im zweiten oder dritten Kapitel unbedingt
losgehen.« Sind Ihnen die Avantgarden, die am Anfang des 20. Jahrhunderts
Wege ins Offene wiesen, die den Kreis der Kenner erweitern wollten, fremd
geworden, zu dekorativ, zu sehr verbunden mit den Reichen und manchmal auch
Schönen? In Ihrem letzten Lyrikband sprechen Sie unter anderem vom »seriellen
Kitsch der Moderne«.
MENSCHING: Formale Fragen haben mich nie in erster Linie interessiert. Ich
verfuhr beim Schreiben immer nach dem bescheidenen Grundsatz: so einfach
wie möglich, so kompliziert wie nötig. Ich weiß, daß mir dies auf dem lyrischen
Feld wenig Ehre eingebracht hat, denn gerade in diesem Genre gilt Schlichtheit
eher als Makel denn als Tugend. Um als Lyriker anerkannt zu werden, sollte man
sich schon mit der Aura des Hermetischen umgeben. Die wenigen Kritiker, die
sich mit solcher Materie abgeben, brauchen Gegenstände, an denen sie bewei-
sen können, daß sie dekonstruieren können. Gedichte, die sich selbst erklären,
haben schlechte Karten.
ENGELBERG: In einer Schlüsselszene erfindet sich Hauser eine Familie, von
dieser träumt er später. Kann man »Hausers Ausflug« auch als Traum lesen,
ähnlich wie das Titelgedicht des Bandes »In der Brandung des Traums«, in dem
es am Ende heißt: »um schreiend zu erwachen und nach dem Wesen zu / tasten,
das neben Dir liegt«?
MENSCHING: Eine gute Frage. In der Tat, ich habe eine gewisse Zeit darüber
nachgedacht, Hauser am Ende erwachen zu lassen. Das Ganze erinnert nicht von
ungefähr an einen Alptraum.
ENGELBERG: Bei aller weltpolitischen Zeitenwende gibt es gerade eine Welle
der Auseinandersetzung mit der DDR – in Filmen, in Büchern, in Ausstellun-
gen, auf Konferenzen. Sie waren wie andere Künstler in der DDR ein deutscher
Dichter und Clown, im vereinten Deutschland sind Sie ein Ostdeutscher. In
gewisser Weise werden die Ostdeutschen zur Ethnie. Was bringt diese Sprache
an den Tag?
MENSCHING: Ich bin an dieser Stelle nicht empfindlich. Staatsbürgerliche Auf-
oder Abwertung spielt für mich keine Rolle, solange sie nicht meine Rede- und
Bewegungsfreiheit berührt. Ich bin in Ost-Berlin geboren, dort aufgewachsen,
habe die Mauer stehen, wachsen und fallen sehen. Diese Prägung werde ich
nie los. Ist das ein Makel oder eher eine Erfahrung, um die man mich beneiden
könnte?
ENGELBERG: Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der
1963 von einer Westreise nicht in die DDR zurückkehrte, vertrat 1991 die
These, daß die DDR für lange Zeit eine deutsche Wunde bleiben würde. Sollte
die Unterscheidung zwischen ostdeutschen und deutschen Künstlern als ein
Beleg für diese These gedeutet werden?
MENSCHING: Nur bedingt. Mayers Bemerkung zielt meines Erachtens in eine
andere Richtung. Für ihn war die DDR eine Wunde, weil mit ihr der Versuch
einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus scheiterte. Die Unter-
scheidung von deutschen und ostdeutschen Künstlern zeigt nur, wie hartnäckig
man im Westen an überholten Denkmustern festhält.
ENGELBERG: Seit 2008 sind Sie Intendant im traditionsreichen Theater Rudol-
stadt, das Ende des 18. Jahrhundert schon von Goethes Schauspielgruppe
bespielt wurde. Hat sich Ihr Schreiben durch diese Intendanz verändert? Gibt es
Wechselbeziehungen?
MENSCHING: Eigentlich war ich nie ein freier Schriftsteller, also jemand, für den
das literarische Schreiben die einzige und eigentliche Arbeit ist. Früher, als wir
als Clowns durch die Lande zogen, war ich über Wochen und Monate mit Pro-
ben und Auftritten beschäftigt, jetzt gibt es Phasen, da ist an Literatur nicht zu
denken, weil mich der Betrieb völlig okkupiert. Vergils schöne Forderung »Nulla
dies sine linea« erfülle ich nur ungenügend. Allerdings zwingt mir das Amt eine
strenge und mitunter eintönige Regelmäßigkeit auf. Die Kleinstadt befördert
Konzentration. In der Literatur suche ich das, was mir die Bühnenarbeit nicht
bieten kann. Ich brauche ein intellektuelles Gegenfeld, um mich geistig aufzu-
laden, anzuregen, abzulenken, um nicht im Kleinklein der alltäglichen Praxis zu
ermüden.
ENGELBERG: In einer Selbstauskunft von Ihnen heißt es: »Es wäre mir lieb, man
vergleicht meine Tätigkeit mit der Arbeit in einem Bergwerk, einem emsigen
Graben nach dem, was gewesen ist, was sich ablagerte, was es zu retten gilt.«
Hat diese Gedächtnisfunktion von Literatur in einer Zeit, wo uns der Krieg in
der Ukraine dem Katastrophenzeitalter des 20. Jahrhunderts näherrückt, einen
stärkeren oder einen schwächeren Sinn?
MENSCHING: Die permanente Krise zwingt uns zu eingreifendem Handeln, zum
andauernden Reagieren, insofern rückt die Reflexion in den Hintergrund. Wir
müssen trotzdem auf unser kollektives Gedächtnis vertrauen und es wachhalten,
weil es ein wichtiges Instrument ist, das Gemeinsinn stiftet. Ohne eine solche
Verbindung werden wir in den kommenden Kämpfen schwächer und verletzbarer
sein. Die Verteidigung der Demokratie braucht nicht nur mutige, sondern auch
kluge, erfahrene Menschen.
Rétablir l'original