2 Abos und 0 Abonnenten
Artikel

Paul Celan: Mai 1968 in Paris – Nomen Nominandum

Foto: CC / Lütfi Özkök, 1963

Paul Celan begann schon früh, sich politisch zu engagieren: Bereits als Gymnasiast in Czernowitz las er theoretische Schriften von Karl Marx oder Peter Kropotkin, trat antifaschistischen Jugendgruppen mit kommunistischen Sympathien bei und war Mitherausgeber der illegalen Schülerzeitschrift Elevul Roşu (‚Der rote Schüler'). Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen lehnte er allerdings jegliche Parteidogmatik ab und stand dem repressiven System der Sowjetunion unter Stalin ohne Illusionen gegenüber. Seine Erfahrungen in der ‚Volksrepublik' Rumänien nach Kriegsende bestärkten diese Haltung nur noch.

Als es im Mai 1968 zu Demonstrationen und Streiks in ganz Frankreich kommt, schließt sich Celan, der als Lektor und Übersetzer an der prestigeträchtigen École normale supérieure in Paris arbeitet, begeistert an. Vorausgegangen waren Studentenproteste, die sich unter anderem gegen das kapitalistische System, die rigiden gesellschaftlichen Normen und den Krieg in Vietnam richteten. In Reaktion auf das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Studierenden solidarisieren sich auch die mächtigen Gewerkschaften mit dem Protest. Es folgt ein wochenlanger Generalstreik, im Zuge dessen die Studierenden und Arbeiter auch Universitäten und Fabriken im ganzen Land besetzen und selbst verwalten. Nach gewaltvollen Konfrontationen mit der Polizei errichten die Protestierenden vielerorts Barrikaden, womit sie ganze Stadtviertel abriegeln. Besonders in Paris ist das Stadtbild geprägt von Graffiti, bunten Plakaten und revolutionären Losungen.

Paul Celan schließt sich enthusiastisch der breiten Protestbewegung an

Zahlreiche Zeitzeugen beschreiben Celans Euphorie zu Beginn der Proteste. Sein Sohn Eric etwa, damals 13 Jahre alt, erinnert sich später an die Stimmung seines Vaters während dieser historischen Tage: „Im Mai 1968 zog er mit mir durch die Straßen und sang lauthals revolutionäre Lieder in allen möglichen Sprachen. Es machte ihm großen Spaß." Dies spiegelt sich auch in der Korrespondenz des Dichters: So greift er beispielsweise in einem Brief an den Schweizer Schriftsteller Franz Wurm enthusiastisch den Slogan „La société est une fleur carnivore" („Die Gesellschaft ist eine fleischfressende Pflanze") auf, der in der Rue du Pot-de-fer in der Nähe seiner Wohnung prangt.


Am 01. Mai 1968 schreibt Celan einen Brief an die deutsche Studentin Gisela Dischner, der viel über seine Wahrnehmung der Proteste verrät. Darin bezieht er sich auf Gustav Landauer (1870-1919), einen deutsch-jüdischen Schriftsteller und kommunistischen Anarchisten im Deutschen Kaiserreich, der später an der Münchner Räterepublik vom April 1919 mitwirkte und nach deren Niederschlagung von Freikorpssoldaten ermordet wurde. In seinem Essay Die Revolution, der im Jahr 1907 erschien, reflektierte Landauer über die geschichtsphilosophische Bedeutung von Aufständen und Umstürzen in der Moderne. Mit Bezug auf die Russische Revolution von 1905 schrieb er:

Niemand kann in dieser Stunde sagen, ob da noch alles im ersten Werden oder schon wieder im Abstieg ist [...]. Nur daß können wir wissen: daß unser Weg nicht über die Richtungen und Kämpfe des Tages führt, sondern über Unbekanntes, Tiefbegrabenes, Plötzliches.

Dieses Zitat greift Celan in seinem Brief auf und zeigt damit, dass ihm Landauers Schrift als Prisma für die aktuelle Situation in Paris dient: Der gewaltige Umfang, die Kreativität, die Unmittelbarkeit der Protestbewegung eröffnen Raum für Veränderung, sie ermöglichen Hoffnung auf einen nachhaltigen Wandel.

Celans Briefe und Gedichte spiegeln seine Sorge angesichts eines neuen Antisemitismus

Alarmiert nimmt der Dichter allerdings einen wachsenden Antisemitismus in Frankreich wahr, der sich besonders um die Person von Daniel Cohn-Bendit kristallisiert. Dieser wurde am 04. April 1945 als Sohn deutscher Juden in Montauban geboren und ist damit französischer Staatsbürger; seine Eltern waren im Jahr 1933 von Berlin nach Paris geflohen, einige andere Familienmitglieder wurden später von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Als der Soziologiestudent Cohn-Bendit in den 1960er Jahren zu einem zentralen Akteur der Protestbewegung wird, kommt es zu offenen Anfeindungen: Wie Celan in einem Brief festhält, den er auf den „keinsten Mai 1968" datiert, greifen sowohl die rechte Wochenzeitung Minute als auch das kommunistische Blatt L'Humanité den ‚Fremden' Cohn-Bendit massiv an und rufen dazu auf, ihn loszuwerden. Später verwehrt ihm die französische Regierung nach einem Berlin-Aufenthalt die Wiedereinreise und erklärt ihn zur persona non grata; Cohn-Bendit überquert die Grenze schließlich illegal, um sich wieder den Protesten in Paris anzuschließen.

Celan, der als deutschsprachiger Jude in Paris lebt, fühlt sich der Figur Daniel Cohn-Bendit in mehrfacher Hinsicht verbunden und verarbeitet seine Eindrücke am 02. Juni 1968 im Gedicht DEIN BLONDSCHATTEN. Ein Einschub darin richtet sich an Cohn-Bendit selbst: „auch du / hättest ein Recht auf Paris, / würdest du deiner / bitterer inne". Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Wiedemann liest dies als Aufforderung - an Cohn-Bendit, an die Leserinnen und Leser - zur Reflexion über die politischen Strukturen Frankreichs, die den Studentenführer, „von rechts und von links, vor allem als Deutschen angriffen und vor allem als Juden meinten".

Im Laufe der Wochen drückt der Dichter in Briefen an seine Freunde zudem seine wachsende Enttäuschung über die Entwicklung der Proteste aus, die sich immer mehr dogmatisieren. „Das parteiparolige ist das übertünchende", schreibt er etwa angesichts dessen, dass der kreative Impuls der Protestbewegung zunehmend von den machtpolitischen Kämpfen linker Gruppierungen überlagert wird. Als der moskautreue Parti communiste français sich nach anfänglicher Zurückhaltung auch den Streiks anschließt und versucht, diese zu vereinnahmen, sieht der Dichter darin das Ende der spontanen Revolte. Der Filmemacher und Schriftsteller Klaus Voswinckel erinnert sich später an Celans deutlicher Kritik gegenüber den eindimensionalen ideologischen Debatten, die an veralteten Revolutionsmodellen anknüpfen:

„Sie schlagen den Vätern die Köpfe ab und setzen ihnen die Köpfe der Onkel auf."
 Der Umgang der Protestierenden mit der NS-Geschichte bestürzt den Dichter

Celans Haltung gegenüber den Protesten ist also komplex und wandelt sich im Laufe der Wochen. Schließt er sich anfangs euphorisch der Bewegung an und hofft auf tiefgreifende Veränderungen, befremden ihn die ideologischen Grabenkämpfe und das Auftreten der Demonstranten in mehrfacher Hinsicht zunehmend. Am 02. Juni 1968 verfasst Celan das Gedicht Für Eric, das er seinem Sohn widmet und in er die Eindrücke der letzten Wochen Revue passieren lässt. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich liest in den ersten Zeilen eine gewisse Skepsis angesichts der ‚großen Geschichte', die nur oberflächlich gewirkt hat, statt anhaltenden Wandel zu schaffen. Die Hinweise auf die laufende Mobilisierung von Panzern um Paris, über die Celan einen Bericht in der Frankfurter Allgemeinen gelesen hatte, deuten bereits das Ende der Revolte voraus. Dennoch bekräftigen die letzten Worte eine Art Trotz, eine Widerständigkeit gegen den Verlauf der Geschichte.

In der Flüstertüte
buddelt Geschichte,
in den Vororten raupen die Tanks,
unser Glas
füllt sich mit Seide,
wir stehn.

17. Januar 2021

Zum Original