Manuskript für Radio SRF2 Kultur: //
ATMO
Es ist ein gewaltiger Wüstensturm, der über die kleine Pfadfindergruppe hinwegfegt, monatelang. Zuflucht gefunden hat sie, aber wo? Ist es ein altes Krankenhaus oder ein verlassener Schlachthof? Eingeweiht wurde das Gebäude auf jeden Fall ganz offiziell. Jetzt gleicht es einem Gefängnis. Denn draußen verschließt der Sand die Türen und nimmt der Wind den Atem. Das kleine Kollektiv auf der Bühne hat sich nicht nur verlaufen.
Es fehlt ihm generell die Orientierung.
ATMO
Einer verwechselt sich mit einem Hund, er geht einer anderen an den Kragen.
Eine beginnt eine vielstufige Planung komplett ohne Inhalt.
Eine läuft ständig mit einem Aufnahmegerät herum und dokumentiert Gruppenprozesse.
Modernes absurdes Theater.
Das Stück "Peur(s)" ist der zweite Teil einer Trilogie. Der erste Teil hat den Einzelnen und die Gewalt thematisiert. Im zweiten Teil soll es unter dem Titel "Peur(s)", Angst und Ängste, um die Ursachen von Gewalt und um den Menschen in der Gruppe gehen.
Wie die Darstellung einer Laborsituation, so sehen Regisseur Fadhel Jaibi und seine Autorin Jalila Baccar ihre Inszenierung. Mit der tunesischen Revolution haben Menschen und Menschengruppen ihr Verhalten geändert. Im Stück ist ganz Tunesien vom Sandsturm bedeckt, erzählt Regisseur Fadhel Jaibi, der Sturm auf der Bühne stehe für Orientierungslosigkeit. Und seine Frau, die Autorin Jalila Baccar, ergänzt noch...
Jalila Baccar: "Mais les bouleversement, ce n'est pas seulement la révolution tunisienne... dans cet univers-là." (35s)
... dass nicht nur die Revolution in Tunesien und der sogenannte arabischen Frühling zu Veränderungen im arabischen Raum geführt hätten. Der ganze Erdball sei betroffen von grossen Umwälzungen. In allen Aspekten, politisch, geopolitisch, ökonomisch, strategisch und sogar ökologisch. Tunesien sei nur ein kleiner Punkt in diesem Universum.
Die Fronten in Tunesien seien nicht mehr so klar wie zu den Zeiten politischer Zensur, sagen die Künstler. Sondern verschiedene Gruppen versuchten, mit ihrer je eigenen Identität in der Gesellschaft vorzukommen. Dadurch entstünden Spannungen.
ATMO
Unter den im Wüstensturm Verlorenen entsteht ein Streit um Eier und Mehl. Man könnte denken, es gebe zu wenig davon. Auch Arbeitslosigkeit ist ein großes gesellschaftliches Problem in Tunesien. Aber gleichzeitig ist die Szene eine riesige Verschwendung, in der die Pfadfinder mit gekochten Eiern nur so um sich werfen.
Tunesien, sagt Regisseur Jaibi, habe zwei Seiten, eine fortschrittlich-moderne und eine konservativ-religiöse. Das lässt sich an der Uraufführung von "Peur(s)" nicht so klar ablesen. Es überwiegt der universell-absurde Aspekt:
Die Pfadfinder auf der Bühne sind ein in viele Teile zerfallendes, völlig zerfahrenes Kollektiv. Eingeschlossen mit ihren Alpträumen und Wahnvorstellungen.
Und hin und wieder belustigend mit ihren scheiternden Versuchen, sich zu retten.
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