Und dann fängt Martin Oberle an zu lauschen. Unten, am alten Dorfweiher, der sich vor seiner Terrasse ausbreitet wie das Meer, tut sich kaum etwas, aber Oberle hört trotzdem hin. Das Hinhören ist ja eine Gabe. Vogelkundler wissen das, und wenn sie in solchen Momenten bescheiden, man solle doch bitte kurz still sein, um das Tier, das sich gerade nähert, in seiner ganzen Pracht begreifen zu können, dann ist das immer als Befehl zu verstehen.
Oberle aber lehnt sich an diesem sonnigen Nachmittag in Kieferndorf schweigend in seinen Stuhl zurück, ein Schwan paddelt davon, der Karpfen lässt seinen Meister hängen. Aber was bitte soll er schon sagen?
Andererseits ist er ja listig und schlau, der Karpfen. So schlau, dass er es in den vergangenen Jahren geschafft hat, dem breiten Fischpublikum immer wieder zu entwischen: Der Karpfen taucht nicht unter den zehn beliebtesten Speisefischen der Deutschen auf. Er war nie Fisch des Jahres, dazu hat ihm immer etwas gefehlt. Mal war das die Spitzgliedrigkeit des Herings (Fisch des Jahres 2021), mal die romantische Südseeoptik der Meeresforelle (Fisch des Jahres 1996). Runtergebrochen auf den Fußball ist der Karpfen wie der Club – nicht immer schön anzuschauen, aber im Grunde gnadenlos unterschätzt.
Ein Leben für den Karpfen
Gut möglich aber, dass sich daran bald was ändert. Schließlich hat der Karpfen in diesem Jahr gleich mehrere Auszeichnungen abgeräumt. Die Umweltorganisation Greenpeace kürte den Karpfen vor kurzem zum nachhaltigsten Fisch überhaupt. Im März schaffte es die Teichwirtschaft zudem auf die Liste für immaterielle Kulturgüter. Fürs erste könnte man also zufrieden sein mit der Performance des Karpfens. Die Voraussetzungen stimmen, nun kommt es darauf an, wie der Karpfen den Aufstieg angeht. Und das ist ja immer interessant zu beobachten: bei Mensch wie Tier.
Oberle, der im luftig hellblauen Freizeithemd auf seiner Terrasse erstmal durchatmet, wäre das nur recht. Fast sein ganzes Leben hat er sich mit dem Karpfen beschäftigt. Er wuchs in einer Teichwirtschaft in Kosbach auf, die seit dem 16. Jahrhundert in Familienbesitz ist, nach seinem Landwirtschaftsstudium promovierte er zum Thema „Fütterung und Qualität von Karpfen“. In Starnberg war er ein Jahr für Forellen zuständig, danach ging er nach Höchstadt zurück, um das Institut der Landesanstalt für Landwirtschaft zu leiten. Arbeitsbereich 2. Karpfenteichwirtschaft. Oberle, 57, sagt: „Ich wollte immer was mit Fischen tun.“
Türgriff ist ein Karpfen
Wer wissen will, wie groß der Stellenwert des Karpfens bei Oberle ist, braucht bloß an seiner Haustüre zu stehen, wo ein fein geschnitzter Karpfen als Türgriff fungiert. Man kann ihm aber auch einfach eine Weile zuhören, lauschen gewissermaßen: „Wissen Sie, der Karpfen ist uns weit voraus. Er holt sich seine Nahrung aus der Natur, Bodentierchen und Insektenlarven versorgen ihn mit Eiweiß, das ist wirklich toll. Und dann braucht es keine Importe, alles wird regional vermarktet, das Idealbild eines Wirtschaftskreislaufs. Es ist schön zu wissen, dass man sich mit nachhaltigen Dingen beschäftigt“, sagt Oberle und lächelt breit.
Dass der Karpfen, anders als der Lachs oder Hecht, angesichts seiner Verdienste stets bescheiden blieb, hat auch mit seinem Naturell zu tun, sagt Oberle. „Der Karpfen beobachtet gerne. Wenn er weiß, wo er gefüttert wird, wartet er oft schon an der Stelle, er ist sehr listig.“ Über das Verhältnis von Karpfen und Huhn schrieb der Dichter Heinrich Seidel einst aus Sicht des Karpfens: „Wenn ich um jedes Ei / So kakelte, / Mirakelte, / Spektakelte – / Was gäb's für ein Geschrei.“ Vielleicht ist die Bescheidenheit nur Taktik, eine Finte, um am Ende umso härter zuzupacken. Bis jetzt jedenfalls ist der Karpfen nicht gut im Geschäft. War das immer so?
Besuch im Karpfenmuseum
Ein Besuch, um diese Frage zu klären, bei Hans Pflaumer, Betreuer des Karpfenmuseums in Neustadt an der Aisch. Normalerweise führt Pflaumer, 63, Zottelbart, Jeans, die Hände in die schwarze Lederjacke gegraben, ganze Busladungen an Touristen durch die Museumsräume. Senioren, Wandervereine, sowas eben. Aber wegen Corona folgt dem gelernten Buchhändler seit Monaten kaum noch jemand durchs Museum, das die Stadt seit 2008 im alten Heimatmuseum betreibt. „Es ist eine Erfolgsgeschichte, auf die die Höchstadter schon a bissl neidisch sind“, sagt er.
Pflaumer weiß viel über den Karpfen, das, was er weiß, hat er sich angelesen, sagt er beim Rundgang. Zum Beispiel, dass es die Teichwirtschaft im Aischgrund bereits seit dem 13. Jahrhundert gibt, seit der Herrschaft Karl des Großen. Begünstigt war die Teichwirtschaft vom guten Boden, dessen Tonschichten das Wasser davon abhält zu versickern. Exakt 7185 Weiher gibt es heute im Aischgrund. Damals sei der Karpfen eine Delikatesse gewesen, die manchmal fünfmal so viel kostete wie Rindfleisch. „Der Karpfen war hier schon immer was Besonderes“, sagt er.
Pflaumer schlurft an ledernen Weiherstiefeln und hölzernen Fischfässern vorbei. Kilometerweit habe man die Karpfen damit früher transportiert, erzählt er, was Pflaumer zur Ansicht bringt: „Der Karpfen ist ein zähes Luder, der hält so einiges aus.“ Für seine Unbeliebtheit hat er eine einfache Erklärung: „Viele denken, der Karpfen sei ein dreckiger Fisch, weil er im Schlamm wühlt. Sie wissen nicht, dass er nach dem Abfischen noch im Frischwasser liegt für Tage.“ Grundsätzlich sei der Karpfen mager, fett werde er nur, wenn er unausgewogen genährt werde. Dann kann es auch sein, dass er moosig im Geschmack wird, was beim Aischgründer Karpfen aber selten so sei.
Was für den Karpfen spricht
Drei Jahre in etwa braucht der Karpfen, um zu reifen, mit rund eineinhalb Kilo, wird abgefischt. Dann haben die Karpfenbauern den Teichboden bearbeitet, Fische eingesetzt, Getreide zugefüttert und je Hektar rund 100 Arbeitsstunden hinter sich. Fünf Millionen Tonnen Karpfen werden jedes Jahr produziert, das sind mehr als bei der Forelle oder beim Lachs. Zwar hat Corona auch der Teichwirtschaft zugesetzt, weil Restaurants und Gaststätten oft geschlossen waren und die Karpfenbauern nicht wussten, wohin mit dem ganzen Fisch. Mit der kommenden Saison aber könnte damit, so die Hoffnung der Bauern, vorerst wieder Schluss sein.
Es spricht also einiges dafür, dass es bald aufwärts geht für den Karpfen. Stimmt schon, was Oberle sagt: der Karpfen ist listig. Sein größter Widersacher war lange Zeit der Kormoran, voriges Jahr kam dann der Biber hinzu, der die Teiche in einen solch desaströsen Zustand versetzte, dass die Stimmung bei den ohnehin unterbezahlten Teichwirten ins Bodenlose absank. Und als wäre das nicht genug, steht nun der Fischotter vor der Tür. Oberle sagt: „Der Fischotter ist der schlimmste Fischräuber überhaupt.“ In der Oberpfalz habe er seine zerstörerische Kraft gezeigt, nun wurde er auch in der Gegend gesichtet. Niedergelassen scheint er sich aber noch nicht zu haben.
Zurück auf seiner Terrasse in Kieferndorf zeigt Oberle hinunter zum Weiher. „Dort, wo der Otter kommt, muss man sofort Gegenmaßnahmen einleiten, sonst kann es sehr schnell vorbei sein mit dem nachhaltigen Naturraum im Aischgrund.“ Manche Naturschutzverbände seien oft „zu engstirnig, sie sehen nicht, dass mit den Räubern die Vielfalt stirbt“, sagt Oberle. Ähnlich wie beim Klimaschutz sind einmal angerichtete Schäden nicht mehr rückgängig zu machen. Um dem Karpfen eine Chance zu geben, hofft Oberle, dass Behörden schnell handeln, sonst habe es der Karpfen schwer.
Das Interesse am Karpfen steigt
Positiv sei, dass das Interesse am Karpfen grundsätzlich weiter steige, sagt er. Zu sehen ist das leicht an der Zahl eingehender Presseanfragen bei Oberle. Am Nachmittag stehe ein Interview mit der Deutschen Presseagentur an, erzählt er, man wolle eine Bilderstrecke aufnehmen, „mit mir, verstehen sie?“. Wie der Karpfen so hält es auch Oberle am liebsten: bescheiden. Und sonst? Dass Menschen sich für den Karpfen begeistern, sei schön, sagt er, schmeichelhaft für den Karpfen, und letztlich auch für Oberle.
Seit 1. Mai ist die Karpfensaison zu Ende. Und weil auch sonst hoffentlich bald für alle wieder eine neue alte Zeit anbricht, gilt dies ebenso wahrscheinlich für den Karpfen. Vielleicht als Fisch des Jahres. Gelauscht wird auf Oberles Terrasse dann trotzdem weiter, vermutlich den ganzen Sommer über. Pssst, Ruhe jetzt!
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