Wolf Thieme wuchs unter Nazis auf. Lange dachte er, ihre Zeit laufe ab. Nun ist er sich nicht mehr so sicher. In Brandenburg erklärt er die Banalität des Bösen.
Am Anfang dieser Geschichte steht das Ende einer Begegnung. Wir drehen an der Uhr, beobachten, wie die Sonne in einer länglichen Kurve über die brandenburgische Kleinstadt Bad Belzig wandert, bis sie hinter Wolf Thieme untergeht. Jetzt, in der Dämmerung, fällt der Satz, der den Kern seiner Motivation offenbart. Thieme, 81 Jahre alt, geboren zwischen Hitlers Machtergreifung und Kriegsbeginn, sagt: "Wenn es wirklich wieder zu einem Putsch von rechts kommen sollte, werden wir wohl, letztendlich, schießen müssen." Er steht am Gedenkstein des Zwangsarbeiterlagers Grüner Grund. Vom Waldboden steigt der Geruch vertrockneter Kiefernnadeln auf, und wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, seine Stimme habe kurz gezittert.
Wolf Thieme will nicht schießen müssen. Er weiß, wie laut ein Schuss knallt, das Echo steckt in seinem Kopf, nach all der Zeit.
Er hat nie selbst ein Gewehr abgefeuert. Im Krieg war er zu jung, danach bediente er sich als Journalist in Westdeutschland der schlagendsten Waffe, die das Arsenal der Demokratie zu bieten hat: des Wortes. Er ist viel rumgekommen, lebte in Berlin und Karlsruhe, in Hamburg und in Rom. Vor 15 Jahren zog er großstadtmüde ins kleine Bad Belzig, baute ein Haus und setzte sich zur Ruhe. Aber er ist nicht still geworden, im Gegenteil. Er ist Vorstandsmitglied im Belziger Forum, einem Bürgerverein, der in den Neunzigern gegründet wurde, als Neonazis die Stadt zur nationalbefreiten Zone machen wollten. Er ist in die SPD eingetreten, hat einen Stolperstein im Ortskern setzen lassen und beschwert sich über den Hundeübungsplatz auf einem ehemaligen KZ-Gelände.
Zuletzt war er damit beschäftigt, eine Ausstellung über jüdisches Leben in der Region zu machen. Monatelang hat er sich durch Archive gewühlt, um Transportlisten, Todesanzeigen und Zeitungsartikel zu finden. Er hat Nachfahren und Nachbarn nach Erinnerungen und Fotografien gefragt. Er wollte verstehen, welche Schnittmengen der überschaubare Ort Bad Belzig und das unüberschaubare Verbrechen Holocaust haben. Zusammen mit Helfern recherchierte er die Biografien einiger Belziger Juden. So unterschiedlich diese Lebenslinien verlaufen - eines haben sie alle gemein: Irgendwann verlagern sie sich ganz plötzlich, in die USA oder nach China. Oder sie brechen einfach ab.
Als die Ausstellung Ende August eröffnet wurde, hielt Thieme eine Rede. "Das hier ist der 33. Osttransport, Berlin-Auschwitz vom 3. März 1943", sagte er und rollte eine Liste aus, 86 Seiten, selbst zusammengeklebt. "700 für den Arbeitseinsatz selektiert, 1033 sofort getötet. Auf der Liste steht auch Lilli Müller, geboren 1893 hier in Belzig am Marktplatz." Knapp 300 Leute waren in die Stadtkirche St. Marien gekommen, darunter der Bürgermeister, Gemeindemitglieder und eine Schülergruppe aus Israel, die Bad Belzig besuchte. Am Ende der Rede bat Thieme die Anwesenden, sich zu erheben, während er die Namen der Vertriebenen und Ermordeten vorlas. "Diese Erinnerung sind wir ihnen schuldig." Schließlich sprach eine Schülerin das Kaddisch, das jüdische Totengebet.
Inzwischen stehen die 18 blauen Schautafeln seit vier Wochen im südlichen Seitenschiff gegenüber dem Taufbecken. Eine von ihnen erzählt die Geschichte der Familie Sachs, die ein Warenhaus in Belzig besaß. In der Pogromnacht am 9. November 1938 zertrümmern Belziger Nazis die Schaufenster. Nachbarn können verhindern, dass sie das Haus auch noch anzünden. Nur wenige Tage später verkauft die Witwe Ida Sachs das Warenhaus an einen "Arier". Ihr Sohn Rudi sitzt da schon in Lagerhaft. Währenddessen stehlen Belziger Bürger sein Motorrad, seinen Grammophonschrank und sein Radio. Es rechnet wohl niemand damit, dass der Besitzer aus dem KZ zurückkehren wird. Nach seiner Freilassung flieht Rudi mit dem Schiff nach Shanghai, seine Mutter folgt ihm später mit dem Zug. Onkel Bruno hat nicht so viel Glück, 1943 wird er deportiert, er stirbt in Auschwitz.
Er könne nicht begreifen, dass man die Juden wirklich alle umbringen wollte, sagt Thieme. Nicht ausweisen, das wäre schlimm genug gewesen, ermorden. An dieser Tatsache scheitert sein Verstand. Was ist Menschlichkeit wert, wenn der Mensch es vermag, sie so vorsätzlich in ihr Gegenteil zu verkehren? "Es muss doch auch Gute gegeben haben. Diesen Satz höre ich immer wieder." Zuletzt von Belzigs Bürgermeister. Er fragte Thieme nach einem aufrichtigen Belziger, den er in seinem Teil der Eröffnungsrede erwähnen könne. Thieme berichtete ihm von einem Herrn Bäricke, der Ida Sachs mit Lebensmitteln versorgte, als ihr Sohn schon in Shanghai war. Er sagte dem Bürgermeister aber auch: "Mir sind bei meinen Recherchen nicht viele Gute begegnet." Jetzt, da er diesen Satz wiederholt, klingt er wie die Bilanz eines 81-jährigen Journalisten.
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