Vibrisse sind praktisch. Vibrisse werden gemeinhin Schnurrhaare genannt. Sie enthalten selbst keine Nerven, sind tote Haare, geben aber Impulse weiter an die Nerven an der Basis, im Gesicht. So können Säugetiere feinste Veränderungen ihrer Umgebung wahrnehmen und dementsprechend reagieren, also meistens: weglaufen.
Impuls und Reaktion liegen nur minimal voneinander entfernt, sind quasi identisch, da passt nichts dazwischen. Oder doch? Ist auch ein Zögern möglich? Gibt es eine andere Abzweigung?
Das ist die Frage der Orestie. Oder zumindest der Orestie, die Ersan Mondtag am Thalia Theater in Hamburg inszeniert. Es ist dieses eine Detail, das sofort ins Auge sticht und sich von Anfang an drei Stunden lang durchzieht (Kostüme: Josa Marx). Selbst in der Pause glaubt man sie an einigen Zuschauern zu sehen: lange, dicke, wippende Haare zwischen Nase und Oberlippe.
Orest (Sebastian Zimmler), Klytaimnestra (Marie Löcker), Agamemnon (André Szymanski), Elektra (Björn Meyer) - sie alle sind vereint durch diese lächerlichen Schnurrhaare, Reizempfänger, die sie komisch entstellen und animalisch scheinen lassen.
Volksabstimmung über Orests Tod
Folgerichtig wirken sie auch nicht menschlich, zumindest dann nicht, wenn man sich Menschen als unberechenbare, individuelle Lebewesen vorstellt. In Mondtags Orestie herrscht die strenge Form: kein individuelles Spiel, keine Marotten der einzelnen Figuren. Der Text, in der Übertragung von Walter Jens, steht im Mittelpunkt.
Das ist ungewöhnlich für Mondtag, der zum Beispiel in Tyrannis, mit dem er 2016 zum Berliner Theatertreffen eingeladen war, den Text auch mal ganz wegließ und zwei Stunden stumm spielen ließ. Vielleicht liegt es am komplexen Stoff, den man erst einmal durchdringen muss.
Drei Teile, die wiederum auf etwas aufbauen. Am Anfang steht die Opferung Iphigenies durch ihren Vater, Agamemnon. Er segelt gen Troja, seine Frau, Klytaimestra, schwört Rache. Gemeinsam mit ihrem Liebhaber tötet sie Agamemnon nach seiner Rückkehr mit drei Axthieben in der Badewanne. Daraufhin schwört - man ahnt es - Orest Rache, und tötet seine Mutter. Daraufhin, wenig überraschend, fordert die Gesellschaft Gerechtigkeit, Strafe, und es kommt zur Volksabstimmung: Soll Orest den Tod finden? Nur tritt das ein, was niemand will bei Volksabstimmungen, nämlich Stimmengleichheit, und so kommt Göttin Athene ins Spiel, die schlichtweg bestimmt und Orest freispricht.
Man kann dem Frieden nicht trauen
Die Orestie ist ein Drama, das schon begonnen hat, lange bevor der Zuschauer im Sessel sitzt. Und dementsprechend dreht sich auch schon die Bühne, als der Vorhang aufgeht, das Weltgeschehen ist in vollem Gange. Das Bühnenbild (Paula Wellman), eine Art halbrundes Gerüst mit der Ästhetik einer Tiefgarage, grau und kahl, schraubt sich aus dem Boden, ohne Anfang, und in den Schnürboden, ohne Ende.
Es erinnert an den Satz Heiner Müllers, der über die Orestie sagte: "Was mich interessiert, ist die Orestie als Skelett, ein Gerüst, in das man aber sehr verschiedene Dinge reinhängen kann. Wie ein Kleiderständer, wo man dann auch ganz andere Kostüme dran aufhängen kann." Mondtag nimmt keinen Weichspüler, er hängt sehr steife Kleider rein.
Die Figuren sind starr, ihre Bewegungen sind choreografiert, ihre Mimik zwanghaft. Sie tun, was sie tun müssen. In einer einzigen Szene blitzt ein Zögern auf. Eine Reflexion, die sich zwischen Impuls und Tat schiebt. Orest mit dem Beil in der Hand, bereit, die Mutter zu töten. Und dann tut er es trotzdem.
Die Orestie ist ein trostloses Stück, und Mondtag macht es noch trostloser. Zwar spricht Athene das Urteil und durchbricht den Blutkreislauf. Doch man kann dem Frieden nicht trauen. Die Bühne dreht sich weiter, und es endet so, wie es angefangen hat. Die nächste Rache kommt bestimmt.