Dr. Volker Weiß

Historiker, Publizist, Dozent, Hamburg

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Jugendtreffen am Hohen Meißner: Sie feierten die Jugend und verspotteten die Spießer

Das Fest auf dem Hohen Meißner im Herbst 1913 war das letzte große Jugendtreffen vor Beginn des Weltkriegs. In die ausgelassene Feier mischten sich schon viele trübe Töne.

Das Fest wurde zum Symbol einer Generation im Aufbruch, zum Versprechen auf die Zukunft. Für den 11. und 12. Oktober 1913 lud der Freideutsche Jugendtag auf den Meißner. Seit dieser "Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände" gilt der Bergrücken in den Grimmschen Landen östlich von Kassel nicht mehr nur als Wohnort der Frau Holle. Zum "Hohen Meißner" aufgewertet, wurde er der bedeutendste Erinnerungsort der Jugendbewegung. Aus diesem Grund wollen im Oktober mehrere freie Jugendbünde und die Pfadfinder erneut hier feiern. Der 100. Jahrestag ist darüber hinaus Anlass für eine große Schau in Nürnbergs Germanischem Nationalmuseum und für etliche weitere Ausstellungen. So präsent war die Jugendbewegung lange nicht mehr.

Damals, 1913, stand sie in ihrer ersten Blüte. Stürmisch klagte sie ihr Recht auf ein "Jugendreich" ein. Es galt Abstand zu halten von den Spießbürgern und Korporierten, Askese und Einfachheit bestimmten das Ideal. Von den patriotischen Massen, die zeitgleich zur Eröffnung des Völkerschlachtdenkmals nach Leipzig strömten, wollte man sich abheben. Der Dramatiker Herbert Eulenberg formulierte dies in einem "Festgruß" für das Meißner-Treffen: "Bringt Humpen und Säbel zur Rumpelkammer, / verjagt den Suff samt dem Katzenjammer / und alles, was Euch verfault und verplundert! / Auf, werdet Menschen von unserm Jahrhundert!"

Mehr als zweitausend Teilnehmer kamen. Trotz des oppositionellen Anspruchs hatte die Versammlung den Zeitgeist auf ihrer Seite. Im Deutschen Reich herrschte ein regelrechter Jugendkult. Es schien, als durchlebe es eine Phase der Adoleszenz, seit Wilhelm II. 1888 - 29-jährig - den Thron bestiegen hatte. Deutschland war jung: 1910 war die Bevölkerung seit der Reichsgründung 1871 um 58 Prozent auf knapp 65 Millionen Menschen gewachsen, das Durchschnittsalter lag bei 23,6 Jahren. Die Lebensumstände - Arbeiten, Wohnen - änderten sich rasant. Technisch, kulturell und sozial befand sich das Land im Bann der Erneuerung. Flexibilität und Dynamik waren gefragte Tugenden.

Blieb der Wunsch nach politischem Wandel, der Lebensreform, Jugend- und Arbeiterbewegung einte. "Mit uns zieht die neue Zeit", fasste der Hamburger Arbeiterdichter (und spätere Nationalsozialist) Hermann Claudius das Lebensgefühl der Jungen in eine bald viel zitierte Zeile. Das konservativ erstarrte System machte das gewonnene Terrain nur attraktiver: Während politische Mitbestimmung versagt blieb, lockerten sich die kulturellen Zügel merklich. "Rauschhaft", urteilt der Historiker Winfried Mogge, "erlebte man die Gemeinschaft, souverän nahm man die Freiräume und Rechte in Besitz, die eine bürgerliche Gesellschaft - teils widerstrebend, teils voller Zukunftshoffnungen - dieser ›neuen Jugend‹ zugestand."

Dabei ließ sich das Fest im Herbst 1913 zunächst unerfreulich an. Es hatte Unstimmigkeiten gegeben zwischen Lebensreformern und Jugendbewegten. Die Reformer befürchteten, das Ganze könne zu einer verspielten "Sonnwendfeier" geraten, die Jugendbünde scheuten programmatische Schwere. Am Vortag waren bei einem Delegiertentreffen die Differenzen offen zutage getreten.

Mancher Linke spottete über die bürgerlichen "Edellatscher"

Mühe hatte es zudem gekostet, die Bedenken der Behörden zu zerstreuen. Das Kleingedruckte einer "Quartiersanweisung" der Organisatoren für "2Plätze im Stroh" mahnt die Teilnehmer: "Verbotene Wege und Forstdickungen dürfen nicht betreten werden. Alkoholgenuß und Rauchen unterbleibt. Übernachten in Zelten oder im Freien ist am Meißner nicht gestattet. Am Sonnabend muß jeder um 11 Uhr abends im Quartier sein."

Der erste Vormittag war verregnet. Trotzdem versammelte sich alles auf den Wiesen. Es gab Wettkämpfe, Tänze, Schauspiel, Singkreise - und Reden. Und genauso ging es in den zweiten Tag; zum Glück ließ sich ab und an die Sonne sehen. Die Reden verrieten "alternativen" Geist; unter anderem sprachen der Reformpädagoge Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius, der Chefredakteur der einflussreichen Kunstzeitschrift Der Kunstwart, und der sozialliberale protestantische Theologe Gottfried Traub aus dem Ruhrgebiet. Vieles war widersprüchlich, eine Mischung aus Vaterlands- und Naturliebe, Aufrufen zu Umkehr und Aufbruch, völkischer Besinnung und allmenschlicher Versöhnung.

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