Die Revolution von Vindeby
Vor einem 2.000-Seelen-Nest auf der dänischen Insel Lolland wurde 1991 der erste Offshore-Windpark der Welt errichtet. Seit 24 Jahren liefern die Kraftwerke Strom - und Stoff für jede Menge Abenteuergeschichten.
Einem historischen Ort sieht man seine Bedeutung nicht unbedingt an – dem 2.000-Seelen-Nest Vindeby auf der dänischen Insel Lolland schon gar nicht. Reetgedeckte Häuser stehen in gepflegten Gärten, vor der Kirche hoppeln Kaninchen über die Straße, ein Mann stutzt eine Hecke zurecht. Typisch skandinavische Pippi-Langstrumpf-Behaglichkeit. Morten Skouboe hat an diesem Frühherbstmorgen keinen Blick dafür übrig. Er steuert seinen silbergrauen Van zügig über die baumbestandenen Dorfstraßen. Wenn er durch das sattgrüne Blattwerk linst, kann er für Sekundenteile das Ziel seiner Fahrt sehen: Windradflügel, die vor einem wolkenlosen Himmel kreisen.
Der erste Schritt vom Land aufs Meer
Skouboe
erreicht den kleinen Hafen von Vindeby, springt aus dem Auto, und dann
hat er sie vor sich: Elf Windräder ragen aus den seichten Wellen der
Ostsee. Weder sind sie ungewöhnlich hoch, noch stehen sie besonders weit
draußen. Im Gegenteil, die nächstgelegene Anlage trennen nicht viel
mehr als 1000 Meter Wasser von der Küste. Und dennoch sind diese
Windräder der Grund, warum sich das verschlafene Vindeby als
geschichtsträchtiger Ort fühlen darf: Sie bilden den ältesten
Offshore-Windpark der Welt.
Im Oktober 1991, mehr als zwei
Jahrzehnte, bevor das Wort „Energiewende“ vom Duden in den deutschen
Sprachschatz aufgenommen wurde, wagten hier auf Lolland Ingenieure des
dänischen Windenergiespezialisten Elkraft den Schritt vom Land aufs Meer
– und lösten damit eine Revolution in der Stromerzeugung aus.
Ohne ihre Leistung wären die gewaltigen Windparks von heute nicht denkbar.
Ob
Riffgat, Alpha Ventus, Anholt oder London Array – in allen Anlagen, die
in den vergangenen Jahren auf der Nord- und Ostsee entstanden sind,
steckt etwas vom Pioniergeist aus Vindeby. Und ein wenig auch noch von
der Technik und Grundlagenforschung des betagten Windparks. 2.200
Haushalte beliefert er mit sauberer Energie – seit 23 Jahren fast immer
störungsfrei. „Hier hat alles angefangen“, sagt Skouboe ein wenig
feierlich.
Mit einem Katamaran zum Windpark
Der
Däne, 40 Jahre alt, Bürstenschnitt und Dreitagebart, ist
Service-Koordinator beim Energiekonzern Dong Energy, dem der Windpark
gehört. Er ist verantwortlich für die Sicherheit und den reibungslosen
Betrieb. Oder wie er selbst es ausdrückt: „Ich bin hier der
Museumswärter.“
Heute steht der jährliche Austausch der
Sicherheitsausstattung auf dem Programm. Vier Mann aus Skouboes Team
schleppen neue Feuerlöscher, Erste-Hilfe-Packs und anderes Equipment zum
Hafen. Dort hat die „Tender“ festgemacht, ein Fiberglas-Katamaran, den
Dong inklusive einer Zwei-Mann-Crew aus Schweden für zwei Tage
gechartert hat. Er eignet sich hervorragend für das flache Wasser rings
um die Windräder.
Ein zweites, kleineres Boot, die „Martha“,
gehört daneben fest zum Windpark. Ein- bis zweimal pro Woche fährt ein
Team damit raus, um auf den Anlagen nach dem Rechten zu sehen. Auch
heute sind zwei Techniker auf der „Martha“ unterwegs und kontrollieren,
ob etwa ein Filter gereinigt werden muss oder ein Getriebe Schmiere
benötigt. Wenig später legt auch die „Tender“ ab, und die Ostsee, die
vom Hafen aus so seicht erschien, wirft das Boot heftig hin und her,
satte Wellen klatschen aufs Deck. Dabei bläst der Wind mit gerade einmal
zehn Metern pro Sekunde – frisch, aber weit entfernt von einem Sturm.
Skouboe
und seine Männer stört das Schaukeln nicht, als Landratte allerdings
fragt man sich: Wer um alles in der Welt ist auf die Idee gekommen,
Windräder ins Meer zu stellen?
Auf dem Meer gibt es keine Nachbarn
Es
waren Männer wie Ken Egebaek. Der heute 59-Jährige, der für Dong in
Kopenhagen arbeitet, war seit 1989 an den Planungen und dem Bau von
Vindeby beteiligt. „Wir hatten gar keine andere Wahl, als aufs Wasser zu
gehen“, erinnert sich Egebaek am Telefon. „An Land haben wir ja kaum
noch Platz für neue Windräder gefunden.“
Was weniger daran lag,
dass es in Dänemark mit seiner langen Küstenlinie und den zahllosen
windumtosten Inseln keine geeigneten Stellen gegeben hätte. Der Grund
waren vielmehr Proteste der Bevölkerung. Die Regierung hatte den Ausbau
der Windenergie kräftig gefördert, überall im Land entstanden damals
neue Anlagen. Anfangs als Lieferant sauberen Stroms begrüßt, stießen sie
bald auf Ablehnung: Anwohner beklagten den Lärm der Windräder, ihren
Nerv tötenden Schattenwurf und eine Verschandelung der Landschaft. Vor
allem aber fürchteten sie um den Wert ihrer Grundstücke. Da lag der
Gedanke an Offshore-Windparks nahe.
Auf dem Wasser gibt es keine
Anwohner. Dafür aber eine ganze Reihe neuer Herausforderungen, mit
denen sich die Windradbauer an Land nie befassen mussten. „Wir waren gut
darin, Löcher in den Boden zu graben und einen Mast hineinzustellen“,
sagt Egebaek. „Aber wie gräbt man ein Loch in den Meeresgrund?“
Ein
kleines Team von Technikern und Ingenieuren mehrerer Firmen arbeitete
damals beim Projekt Vindeby zusammen, allen voran von den regionalen
Energieunternehmen Elkraft und SEAS und dem Anlagenbauer Bonus Energy.
Elkraft ging später in Dong auf, Bonus wurde Teil der Windenergie-Sparte
von Siemens.
Erste Planungen beginnen 1990
„Wir
hatten einen ganz besonderen Spirit in unserem Team“, sagt Ken Egebaek.
„Uns war klar: Sollten wir scheitern, würde vielleicht nie wieder
jemand versuchen, den Wind auf dem Meer zu ernten.“ So groß die
technischen Herausforderungen waren, so klein war das Budget: Mit gerade
einmal elf Millionen Euro nach heutigem Maßstab mussten sie auskommen.
Zunächst
beschäftigten sie sich mit den Fundamenten – und stießen dabei gleich
auf eines der größten Probleme des gesamten Projekts: Eis. Zwar friert
das Meer in der dänischen Südsee vor Lolland nur selten zu. Aber sollte
es doch einmal passieren, könnte das Eis die Fundamente des Windparks
schwer beschädigen.
Die Ingenieure rechneten verschiedene Modelle
durch. Am Ende entschieden sie sich dafür, die Masten auf kegelförmige
Betonfundamente zu stellen, die nach oben hin schmaler werden und gut
zwei Meter aus dem Wasser ragen. Würde das Meer tatsächlich zufrieren,
könnte das Eis einfach daran hoch gleiten und brechen, ohne das
Fundament zu belasten. 1990 begannen Arbeiter im Hafen von Vindeby
damit, die Betonkegel zu gießen.
Anschließend wurden die
tonnenschweren Elemente mit einem aus Alborg organisierten Lastkahn
einzeln zu ihrem Bestimmungsort transportiert. An die gewaltigen
Errichterschiffe heutiger Windparks, die nicht nur viel größere der
inzwischen aus Stahl bestehenden Fundamente transportieren, sondern auch
gleich mehrere auf einmal, war damals nicht zu denken. Gut drei
Kilometer vor der Küste verankerten sie den am weitesten entfernten
Betonsockel, fünfeinhalb Meter ist das Wasser dort tief. Der
nächstgelegene ruht in gerade einmal zwei Metern Wassertiefe.
Weil
an den Kegeln allerdings keine Boote festmachen konnten, mussten die
Ingenieure zusätzliche Anleger konstruieren. Dazu wählten sie eine
denkbar simple Variante: Sie stellten sie auf Holzpfähle. Im Falle eines
Eisschadens wäre es viel günstiger, sie zu ersetzen, als sie von
vornherein so stabil zu bauen, dass sie auch größtem Druck standhalten –
ein entscheidender Vorteil angesichts des geringen Budgets.
An
einem dieser hölzernen Anleger macht jetzt die auf den Wellen tanzende
„Tender“ fest. Zwei Techniker aus Skouboes Team klettern mit den neuen
Feuerlöschern eine Stahltreppe hinauf und verschwinden in der Tür der
Windanlage. In einer modernen Anlage könnten sie nun mit dem Fahrstuhl
nach oben fahren, in Vindeby warten Leitern auf sie. Allerdings haben
sie auch nur 35 Meter vor sich. Die Gondeln neuer Offshore-Windräder
schweben mehr als doppelt so hoch über dem Meer.
Wie im Stollen eines Bergwerks
„In
den Masten ist es ziemlich eng“, sagt Skouboe, der an Bord geblieben
ist. „Ein großer Mann muss schon genau darauf achten, wohin er seine
Füße setzt.“ Man fühle sich ein bisschen wie im Stollen eines alten
Bergwerks. Auch oben in den Gondeln ist kaum Platz.
Dabei sind
die Turbinen in Vindeby sehr viel kleiner als heutige Anlagen. Jede von
ihnen kommt auf eine Leistung von 450 Kilowatt. Zum Vergleich: Die 111
Anlagen in Dänemarks größtem Offshore-Windpark Anholt liefern jeweils
3,6 Megawatt – acht Mal so viel. „Solche großen Windräder hätten wir
damals gar nicht aufstellen können“, sagt Ken Egebaek. 1990 sei es schon
schwierig gewesen, die Masten in Vindeby mit Hilfe von zwei auf
wackeligen Lastkähnen stehenden Kränen auf ihre Betonsockel zu wuchten.
Wenn
er heute von dem gewagten Manöver erzählt, schwingt noch der Stolz mit,
den er auch am 12. Oktober 1991 verspürt haben muss: dem Tag, an dem
die damalige dänische Industrieministerin Anne-Birgitte Lundholt Vindeby
nach erfolgreichem Testbetrieb eröffnete.
Offshore-Strom seit fast 24 Jahren
Die
„Tender“ nimmt Kurs auf das nächste Windrad, um das zweite
Technikerteam abzusetzen. Anschließend wird das erste abgeholt und zu
einer dritten Anlage gebracht, bis am Ende alle elf neue Feuerlöscher
haben.
Skouboe liebt diese Ausflüge nach Vindeby. Nicht nur, weil
sie eine willkommene Abwechslung zu seiner üblichen Schreibtischarbeit
bieten. Sondern auch, weil ihm der alte Windpark einfach ans Herz
gewachsen ist. „Die Technik ist viel simpler als in neuen Windparks,
aber sie funktioniert noch immer.“ Lediglich zwei Getriebe und ein
Hauptlager hätten in all den Jahren ausgewechselt werden müssen. Maximal
20 Jahre gaben die Erbauer dem Windpark beim Start 1991.
Inzwischen läuft er seit fast 24 Jahren. Skouboe glaubt, dass er locker auch das Jahr 2020 erreicht. Für ihn steht fest: Er wird seinen Museumsbetrieb so lange aufrechterhalten, wie er kann.