Aus dem FOCUS Magazin | Nr. 48 (2017)
Der Deutschland-Akku
Ein armdickes Seekabel verbindet das deutsche Stromnetz mit norwegischen Pumpspeicherkraftwerken. Und das ist erst der Anfang der Suche nach Speichermöglichkeiten für erneuerbare Energiequellen.
Gestern erst hat es wie zum Beweis der Dringlichkeit gestürmt, heftige Böen sind über Norddeutschland hinweggefegt, und Manfred Boll hatte sich schon Sorgen gemacht, ob das Richtfest überhaupt stattfinden kann. Boll ist Bürgermeister des kleinen Nortorf in der Wilstermarsch in Schleswig-Holstein. Nortorf, das ist Energiewende als Mikrokosmos. Am Horizont erhebt sich die Silhouette des Atomkraftwerks Brokdorf, das bald stillgelegt wird. Ringsherum stehen Hunderte Windräder, jedes einzelne kirchturmgroß. Im Westen fängt ein Solarpark die Herbstsonne ein, auf den Höfen stehen Biogasanlagen. Und jetzt kommt noch dieses Ungetüm. Ein Umspannwerk, 20 Meter hoch, ein Riese, der surren, zischen und fauchen wird. Aber das stört Bürgermeister Boll nicht. Im Gegenteil. Gleich beim Richtfest wird er sagen, wie wichtig die neue Stromkreuzung ist. Für das kleine Nortorf, aber auch für das ganze Land. „Wir sorgen dafür, dass wir nach dem Atomausstieg noch Strom haben."
Denn im kleinen Nortorf geschieht Großes. Die zwei wichtigsten Trassen der Republik treffen hier aufeinander. Die eine kommt aus Bayern und ist die A1 der Stromautobahnen. Die andere taucht bei Büsum in die Nordsee ab - und im norwegischen Vollesfjord wieder auf. Die Unterwasserverbindung heißt NordLink, wird zwei Milliarden Euro kosten und die Stromnetze Deutschlands und Norwegens verbinden.
Das armdicke Kabel löst ein schwieriges Problem: Wie kann es gelingen, die Schwankungen der Ökostromquellen auszugleichen? Anders gefragt: Woher nehmen wir den Strom, wenn der Wind nicht weht? Und umgekehrt: Wohin mit dem vielen Strom, wenn es - wie am Tag vor dem Richtfest in Nortorf - heftig stürmt?
Ein Speicher muss her. Und Norwegen ist wie gemacht für diese Aufgabe. Mit seinen gewaltigen Wasserkraftwerken kann es künftig einspringen, wenn die Stromerzeugung hierzulande zum Erliegen kommt. Umgekehrt kann Deutschland Stromüberschüsse in Norwegens Stauseen speichern: Statt die eigenen Reservoirs anzugreifen, versorgt sich das Land dann mit deutschem Ökostrom. Flaut der Wind ab, fließt der Strom wieder in die andere Richtung. Norwegen wird damit zur Batterie Deutschlands.
Hinter dem Projekt steht ein Konsortium aus dem niederländisch-deutschen Netzbetreiber Tennet, seinem norwegischen Pendant Statnett und der KfW-Förderbank. Schon ab 2020 sollen bis zu 1400 Megawatt durch ihr XXL-Kabel fließen. Das entspricht in etwa der Leistung des aktuell leistungsstärksten deutschen Atomkraftwerks Isar 2.
Norwegen, am Vollesfjord, zwei Autostunden südlich von Stavanger. Statnett-Manager Stein Håvard Auno hat sein Smartphone aus der Tasche gekramt. Er blickt auf eine Nordeuropa-Karte. Blaue Pfeile darauf zeigen an, in welche Richtung der Strom gerade durch die Netze der Region fließt.
Auno ist zufrieden, der Staatskonzern exportiert mal wieder kräftig - sowohl über die Landverbindungen nach Russland, Finnland und Schweden als auch durch zwei Seekabel nach Dänemark und in die Niederlande. „Der Strom fließt immer in die Richtung, in der er teuer ist", erklärt er. „Und weil wir Norweger Energie im Überfluss haben, ist er hier meist billig. Wir sind wir viel häufiger Exporteure als Importeure."
Das liegt an den mehr als 300 Wasserkraftwerken im Land. Nirgendwo in Europa sind die Bedingungen dafür besser als hier, denn Norwegen bringt drei zentrale Voraussetzungen mit: ausgiebige Regenfälle, Hochebenen voller Stauseen und Fjordhänge, über die das Wasser in Rohren hinabschießen kann, um dabei Generatoren anzutreiben.
Und so versorgt sich Norwegen, das so reich an Erdöl und -gas ist, zu fast 100 Prozent mit Ökostrom. Schon heute produzieren seine Wasserkraftwerke fast durchgängig mehr Energie, als die 5,2 Millionen Einwohner verbrauchen können.
Die Kapazitäten werden sogar noch ausgebaut - mit einem klaren Hintergedanken: Norwegens Ölreichtum ist endlich. Selbst wenn die Vorräte noch für 50 oder gar 100 Jahre reichen sollten, ist zudem nicht sicher, ob der Brennstoff dann überhaupt noch gefragt ist. Die Politik strebt die carbonarme Zukunft an, fossile Energieträger passen da nicht ins Bild.
Deshalb baut das Land neben NordLink noch eine zweite Leitung ins nordenglische Blyth. „Das ist für alle Beteiligten ein gutes Geschäft", erklärt Statnett-Manager Auno auf der Baustelle am Fjord, wo an diesem Tag das armdicke Seekabel mit dem Land verbunden wird.
NordLink soll aber nicht nur die Energieversorgung stabilisieren, sondern auch die Strompreise. Um zu verstehen, wie das funktioniert, muss man die Mechanismen der Energiebörsen kennen. Wenn Stürme wie „Xavier" gigantische Mengen Windstrom in die Netze fluten, kollabieren die Preise binnen Minuten. Manchmal drehen sie sogar ins Minus - die Verkäufer zahlen drauf, um ihren Strom loszuwerden.
Für die Verbraucher wird es dann besonders teuer. Denn den Erzeugern von Ökostrom wird über das Erneuerbare- Energien-Gesetz (EEG) ein fester Abnahmepreis garantiert. Damit wollte der Gesetzgeber bei der Einführung des EEG im Jahr 2000 Investoren zum Einstieg in die damals teure neue Technologie ermutigen. Fällt der Preis an der Börse unter den garantierten Wert, wird den Erzeugern über die EEG-Umlage die Differenz erstattet. Je billiger der Börsenstrom, desto höher also die von der Allgemeinheit getragene EEG-Umlage.
Die Ökostromerzeuger erhalten aber sogar Geld für Strom, den sie gar nicht liefern können. Immer öfter nämlich sind die Netzbetreiber gezwungen, Windparks oder Solaranlagen abzuschalten, weil mehr Strom in die Leitungen drängt, als sie verkraften können - auch weil Kohle- und Atommeiler nach wie vor im Dauerbetrieb laufen. Die Entschädigungen an die Ökostromproduzenten summieren sich auf mehrere Hundert Millionen Euro jährlich.
Hier kommt NordLink ins Spiel. Denn das Kabel funktioniert nicht nur von Nord nach Süd, sondern auch in die Gegenrichtung. In weniger als einer Stunde lässt sich die Fließrichtung umstellen. Wenn Deutschland Stromüberschüsse produziert, kann es so künftig einen Teil davon exportieren, statt ihn an der Börse zu verramschen. „Und Norwegen schont seine Wasservorräte, bis die Preise hier wieder niedriger sind als bei euch", sagt Auno.
Wind gegen Wasser - ein Tauschgeschäft, das auch Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister Robert Habeck beim Richtfest in Nortorf lobt: „Statt Ökostrom abzuschalten, können wir ihn in Norwegens Stauseen zwischenspeichern."
Doch allem Jubel über NordLink zum Trotz: Ein Kabel allein wird nicht reichen, um Deutschlands Stromversorgung zu sichern, wenn Ende 2022 die letzten der derzeit noch acht aktiven Atomreaktoren vom Netz gehen. Erst recht nicht, wenn das Land auch aus der Kohle aussteigt.
Soll die Zukunft wirklich erneuerbar sein, braucht es Konzepte, die viel größer sind. Pläne, wie sie die Netzbetreiber Tennet und Energinet aus Dänemark gemeinsam mit dem niederländischen Energiekonzern Gasunie schmieden. Die drei wollen in der Nordsee eine Insel aufschütten, die, umgeben von Tausenden Windrädern, als Stromdrehkreuz für sechs Anrainerstaaten fungieren soll. Sie soll über einen Hafen verfügen, über Lagerhallen, Werkstätten, Unterkünfte für die Betriebsmannschaften und sogar über einen Flugplatz.
Hintergrund sei die Frage gewesen, wie man 70 oder gar 100 Millionen Menschen rings um die Nordsee im Jahr 2050 zuverlässig mit Ökostrom versorgen könne, erklärt Tennet-Vorstand Lex Hartman. Die beste Technologie dafür sei die Offshore-Windkraft. Allerdings müssten die Kapazitäten gewaltig sein, die Rede ist von bis zu 100000 Megawatt. Zum Vergleich: Deutschlands Offshore-Windparks schaffen aktuell maximal 5000 Megawatt.
Stünden die Parks aber viel weiter draußen, wo die Windbedingungen noch besser sind, wäre das zu schaffen. Bislang scheitert das an den zu großen Entfernungen zu den Häfen. Das Konsortium hat dazu die Doggerbank ins Auge gefasst, eine Region zwischen Dänemark und England, in der das Wasser stellenweise nur 13 Meter tief ist. Aufwand und Kosten wären gewaltig. „Aber langfristig", glaubt Hartman, „wäre das eine Chance, Millionen von Menschen mit bezahlbarer, sauberer Energie zu versorgen."
Doch es muss noch viel getan und geklärt werden, Umweltschutz, Eigentumsrechte, Schiffsrouten und, und, und. Wieder eines dieser Projekte, die toll klingen, aber niemals umgesetzt werden? Ein zweites Desertec? Nein, nein, sagen dann Inselfans wie Hartman: „Wir meinen das wirklich ernst."