Volker Kühn

Redakteur und Blattmacher, Journalist, Oldenburg

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Reportage

Der Akku Europas

Stauseen im hohen Norden sollen Strom aus Offshore-Windparks speichern. Eine Reise in das Tunnelsystem norwegischer Wasserkraftwerke und die majestätische Einsamkeit der Fjorde.

Neulich auf der Fahrt ins Büro hatte Bjørn Sandvik mal wieder so einen Moment, in dem ihm klar wurde, dass er auf der richtigen Seite steht. Dass seine Arbeit Sinn ergibt.

Die Straße wand sich schon eine Weile durch das imposante Fjordland Westnorwegens, vorbei an sattgrünen Wiesen und bunten Holzhäusern, an schroffen Felswänden und kleinen Wasserfällen, als er im Radio auf ein Interview stieß. Der Chef einer Handelskette, die Alkohol und Tabak vertreibt, rechtfertigte sein Geschäft wortreich mit den beachtlichen Steuereinnahmen, die es dem Staat Jahr für Jahr beschert.

„Alkohol und Tabak?“, dachte sich Sandvik. Da hat mein Chef einen besseren Job.

Sandviks Chef, das ist der Vorstandsvorsitzende von Statkraft, dem größtem Energieversorger des Landes. Das Staatsunternehmen betreibt 230 Wasserkraftwerke allein in Norwegen, dazu mehr als 70 im Ausland. Hinzu kommt eine ganze Reihe von Wind- und Solarparks sowie Biomasseanlagen. Damit ist Statkraft nach eigenen Angaben der größte Erzeuger erneuerbarer Energien in ganz Europa.

Sauberer Strom im Überfluss – das ist es, was Sandvik so sicher macht, mit seiner Arbeit auf der richtigen Seite zu stehen. Denn er trägt dazu bei, diesen Strom zu produzieren.

Der 44-Jährige ist der Leiter von Ulla-Førre, einem Verbund von Wasserkraftwerken auf halber Strecke zwischen Stavanger und Bergen. Angetrieben werden die Turbinen mit dem Wasser aus einer künstlichen Seenplatte, die sich über endlose 2000 Quadratkilometer im menschenleeren Hochland Westnorwegens erstreckt.

Die Kapazität von Ulla-Førre ist gewaltig: Sind die Stauseen vollständig gefüllt, können die Kraftwerke theoretisch mehr als 7,8 Terawattstunden liefern. Das würde ausreichen, um die gesamte Stromversorgung Deutschlands fünf Tage lang zu ersetzen – also all seine Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke, sämtliche Offshore-Windparks und sonstige Stromlieferanten.

Herzstück von Ulla-Førre ist ein gut 125 Kilometer langes Netz von bis zu zehn Meter breiten Tunneln, die 16 Seen mit den Turbinen von sechs Kraftwerke verbinden. 14 Staudämme sorgen dafür, dass sich ausreichend Wasser in den Seen befindet.

Seit einiger Zeit empfängt Sandvik in Ulla-Førre immer öfter Besucher aus dem Ausland. Ingenieure anderer Energiekonzerne sind darunter, Manager von Netzbetreibern und Politiker wie der US-Minister für Energie oder der deutsche Wirtschaftsminister.

Sie kommen allerdings nicht, um die Leistung der Generatoren oder die gewaltigen Staumauern zu bewundern. Sie interessieren sich für etwas anderes: Ulla-Førre kann nämlich nicht nur Strom erzeugen – es kann ihn auch speichern.

Und damit nimmt es eine Schlüsselfunktion für den Ausbau erneuerbarer Energie in Zentraleuropa ein. Denn wenn etwa die Offshore-Windparks in der Nordsee bei starkem Wind mehr Strom produzieren, als im Netz benötigt wird, dann kann dieser Ökostrom in Norwegens Stauseen gespeichert werden – bis er zu einem späteren Zeitpunkt zurück nach Zentraleuropa fließt.

Norwegen wird damit zum Akku des Kontinents.

Tief im Inneren vibriert der Berg

Um zu erklären, wie das funktioniert, legt Sandvik Helm und Arbeitsoverall an und steigt in einen Kombi, der vor seinem Büro im Örtchen Suldalsvegen parkt. 20 Minuten geht die Fahrt über schmale, steile Straßen hinauf ins Hinterland. Sie endet vor einem gewaltigen Rolltor, das direkt in den Berg eingelassen ist: dem Eingang zum Kraftwerk Kvilldal.

Sandvik gibt einen Code ein, das Tor öffnet sich, und er steuert den Wagen gut einen halben Kilometer durch rohe Stollen in den Berg hinein. Von dort geht es zu Fuß weiter bis zu einer schweren Stahltür. Im Boden davor ist ein leichtes Vibrieren zu spüren.

Als Sandvik die Tür öffnet, fällt der Blick in eine gigantische Kammer, die als Filmkulisse dienen könnte, etwa für das Hauptquartier eines Bond-Bösewichts mit Weltherrschaftsambitionen: 100 Meter lang, 20 Meter hoch, die Wände teils aus massivem Fels, teils orange verkleidet und von futuristischen Leuchtröhren durchzogen.

Vier große zylindrische Körper erheben sich in der Kammer, bei James Bond wären es Raketensprengköpfe. „Darunter liegen die Turbinen“, erklärt Sandvik.

Zusammen leisten sie 1240 Megawatt, das ist so viel wie ein durchschnittliches Atomkraftwerk. 66 Kubikmeter Wasser schießen in jeder Sekunde hindurch – daher das Vibrieren. Zu hören ist davon nur ein Summen. Alle Kraftwerke von Ulla-Førre zusammen kommen sogar auf 2057 Megawatt.

Neben den vier Turbinen in Kvilldal gehören sieben weitere zu dem Kraftwerksverbund.Der Clou: Vier davon können bei Bedarf als Pumpen eingesetzt werden.

Statt die Energie des aus den Stauseen herabschießenden Wassers an Stromgeneratoren weiterzugeben, befördern sie dann Wasser zurück in die Seen – und werden so zu Pumpspeicherkraftwerken.

Das Umschalten der Turbinen auf Pumpbetrieb ist laut Sandvik innerhalb weniger Minuten möglich. Zudem ließen sich ohne großen Aufwand weitere Turbinen zu Pumpen umrüsten – die Speicherfähigkeit von Ulla-Førre könnte damit noch erhöht werden. Schon heute verfügen Norwegens Stauseen über knapp die Hälfte der Kapazität von ganz Europa.

Seekabel nach Schleswig-Holstein

Um überschüssigen Ökostrom aus Offshore-Windparks oder Solaranlagen in diesem Akku zu speichern, sind allerdings neue Stromautobahnen nötig: sogenannte Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungskabel, die Energie mit geringem Verlust über weite Strecken leiten. Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, den länderübergreifenden Ausbau dieser Stromnetze zu fördern.

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Ein Seekabel zwischen Norwegen und den Niederlanden ist bereits seit 2008 in Betrieb, ein weiteres nach Großbritannien in Planung. Ein drittes trägt den Namen Nordlink. Es soll ab 2019 Norwegen mit Schleswig-Holstein verbinden und befindet sich in einem frühen Baustadium.

Dahinter steht ein Konsortium aus dem staatlichen norwegischen Netzbetreiber Statnett, der KfW-Bank und dem Netzbetreiber Tennet. Sie teilen sich die Baukosten von Nordlink, die auf bis zu zwei Milliarden Euro geschätzt werden.

„Das Kabel ermöglicht uns, den Ökostrom in beiden Ländern effizienter zu nutzen“, sagt Stattnet-Sprecher Christer Gilje. Strom werde immer dann hindurch fließen, wenn sich mit dem Preisunterschied zwischen Norwegen und Deutschland Geld verdienen lässt – wenn also der Überschuss auf einer Seite des Kabels so hoch ist, dass Strom dort billiger ist als auf der anderen.

Auf diese Weise werde Nordlink dazu beitragen, Leistungsschwankungen der deutschen Sonnen- und Windkraft auszugleichen. Das Kabel helfe damit bei der Umsetzung der Energiewende, sagt Gilje – wobei der Norweger den Begriff „Energiewende“ auf Deutsch verwendet.

Doch nicht alle seine Landsleute sind von der Idee angetan, ihre Stauseen zur Lösung des Energieproblems anderer Länder einzusetzen. Bedenken dagegen kommen ausgerechnet von Umweltaktivisten.

Damit zeichnet sich auch im hohen Norden ein Konflikt ab, der aus vielen Orten in Deutschland bekannt ist: Klimaschützer streiten gegen Naturschützer.

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Wer verstehen will, wie dieser Konflikt in Norwegen verläuft, muss die Wanderschuhe schnüren, Proviant einstecken und sich mit Synnøve Kvamme aufmachen in die atemberaubende Bergwelt am Hardangerfjord, knapp 100 Kilometer nördlich des Kraftwerks Kvilldal.

Die 24-Jährige leitet die Umweltschutzorganisation Friends of the Earth in der Region Bergen und zählt zu den profiliertesten Aktivisten des Landes. Dass sie sich in der Natur zuhause fühlt, merkt man beim Aufstieg in die Berge schnell, wenn sie Blaubeeren im Dickicht pflückt, aus einer sprudelnden Quelle trinkt oder leichtfüßig über eine Spalte im Fels springt.

„Die Natur hier ist so schön, dass es einfach unsere Pflicht ist, sie zu erhalten“, sagt Kvamme.

Eine Stromtrasse zerschneidet die Wildnis

Manchmal fällt es schwer, die Dimensionen dieser Natur überhaupt zu begreifen, so überwältigend groß ist sie, so menschenleer und scheinbar unberührt. Erst wenn das Auge auf etwas Vertrautes stößt, schärft sich der Blick für die Relationen.

Ein winziges Schaf zum Beispiel, versteckt in den Tausend Grün- und Grautönen einer Bergflanke, hilft, die gewaltigen Ausmaße der Szenerie zu verstehen.

Umso größer ist der Kontrast, als nach einer Stunde das Ziel der Wanderung auftaucht: ein stählerner Strommast, 45 Meter hoch, in rot-weißen Signaltönen lackiert. Er ist Teil einer Hochspannungstrasse, die ein Wasserkraftwerk am Ende des Fjords mit dem Großraum Bergen verbindet.

Und er ist der Grund, warum Synnøve Kvamme Naturschützerin geworden ist. Sie war noch ein Teenager, als sie vom Beschluss zum Bau dieser Trasse erfuhr – und den Kampf dagegen aufnahm.

Bald wurde sie die Sprecherin einer Gruppe von Anwohnern der Leitung. Unterstützung kam aber auch aus anderen Landesteilen. Gut jede zweite norwegische Familie besitzt eine Ferienhütte fernab der Zivilisation, viele fühlen sich der Natur tief verbunden.

2010 bewegte kaum ein anderes Thema das Land so sehr wie der letztlich vergebliche Kampf der Menschen am Hardangerfjord gegen die „Monstermasten“. Mehrmals wurde Kvamme verhaftet, weil sie Bauplätze der Masten blockiert hatte. Einmal mussten Polizisten sie wegtragen – ein Foto davon erschien in sämtlichen Zeitungen des Landes. 2011 kürte das Politmagazin Ny Tid sie zur Norwegerin des Jahres.

Aus der Perspektive des dicht besiedelten Deutschlands mag der Protest gegen eine einzelne Leitung in der Wildnis übertrieben scheinen. Doch Synnøve Kvamme geht es ums Prinzip: „Wir dürfen nicht auch noch die letzten unberührten Flecken zerstören.“

Statt die Trasse quer über die Berge zu legen, hätte das Kabel aus ihrer Sicht auf dem Grund des Fjords verlaufen sollen, auch wenn es dann deutlich teurer geworden wäre.

Verschwendet das Land seinen Reichtum?

Zudem glaubt sie, dass selbst eine saubere Technologie wie die Wasserkraft nicht grenzenlos ausgebaut werden dürfe. Norwegen müsse vielmehr endlich seinen maßlosen Energieverbrauch einschränken.

Der statistische Vergleich zeigt, was sie meint: Deutschland hat 16-mal so viele Einwohner wie Norwegen, trotzdem verbrauchen die Deutschen nur fünf Mal mehr Strom im Jahr. Denn in Norwegen, das so unfassbar reich an Öl und Gas ist, läuft fast alles elektrisch. Schließlich ist auch Strom dank der Wasserkraftwerke im Überfluss vorhanden und entsprechend billig.

Und so werden öffentliche Gebäude auch in langen Winternächten angestrahlt. Im quirligen Bergen sitzen selbst an kalten Herbstabenden Studenten unter elektrischen Heizstrahlern vor den Cafés im Freien, und in manchen Hotelzimmern ist das Abstellen der strombetriebenen Heizungen eine Wissenschaft für sich. „Machen Sie doch das Fenster auf“, rät die Rezeption.

Im Fokus der norwegischen Energiepolitik stehen dennoch weniger Sparanreize, als vielmehr der Ausbau der Kapazitäten für den Im- und Export von Strom über Seekabel wie Nordlink. Dabei scheint der Netzbetreiber Statnett aus den Protesten in Hardanger gelernt zu haben. „Wir beziehen die Bevölkerung jetzt viel früher in unsere Pläne ein“, sagt Konzernsprecher Gilje.

Offenbar ein erfolgreicher Schritt: Im südnorwegischen Tonstad, wo die Nordlink-Leitung aus Schleswig-Holstein ankommen wird, entsteht derzeit ein großes Umspannwerk. Proteste dagegen gibt es nicht. Dem Anzapfen des norwegischen Akkus steht also nichts im Wege.

Solange die dafür notwendigen Kabel nicht die Fjordlandschaft zerschneiden, hat im Übrigen auch Synnøve Kvamme nichts dagegen. Denn wenn Norwegens Wasserkraft dabei hilft, auf dem Kontinent Kohlekraftwerke abzuschalten, profitiert schließlich die Natur auf der ganzen Welt. „Und ganz ohne Energie geht es nicht“, sagt die Umweltschützerin.



http://www.energie-winde.de/wind-und-wende/details/der-akku-europas.html