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Mehr Auflage, mehr Klicks

Im Mai 2007 befragte der amerikanische Fernsehsender Fox seinen Besitzer Rupert Murdoch zu dessen Ambitionen, das Wall Street Journal zu kaufen. Murdoch sprach über einen Mann, den kaum einer der Zuschauer kannte: Bernard Kilgore, den einstigen Chefredakteur des Journal und späteren Chef des Dow-Jones-Verlags, in dem die Zeitung erscheint. Kilgore habe den modernen Journalismus erfunden, sagte Murdoch und unterstrich damit die Bedeutung der Zeitung, für die er später mehr als fünf Milliarden Dollar zahlte.


Rupert Murdoch gilt als einer, der sonst wenig Respekt vor anderen zeigt, wenn er auf dem Weg ist, seine Macht auszubauen. Anders in diesem Fall. Kilgore war tatsächlich der Mann, der den Grundstein legte für die heutige Stellung des Wall Street Journal als auflagenstärkste Tageszeitung in den USA. Mehr als 15 Jahre lang lag das Journal an zweiter Stelle, hinter der eher boulevardesken Tageszeitung USA Today. Seit sie 17 Prozent der Auflage verlor, nimmt das Journal nun wieder Platz eins ein, sofern man gedruckte und elektronische Auflage zusammenzählt.

Kostenpflichtige Online-Abos

Beim Journal scheint diese Rechnung gerechtfertigt, weil auch Online-Abos bezahlt sind. Die Gesamtzahl der Online-Abonnenten liegt bei mehr als einer Million, die gemeinsame Print- und Online-Auflage des Journal in den USA beträgt 2024269 Exemplare. Damit legte das Journal als einzige überregionale Zeitung zu, in einem Umfeld, in dem andere zehn Prozent an Auflage einbüßten.

Das Fundament dafür hat Barney Kilgore gelegt. In einer Umfrage in den USA wurde Kilgore vor einigen Jahren zum bedeutendsten Wirtschaftsjournalisten des vergangenen Jahrhunderts gewählt. Das Fachblatt Columbia Journalism Review verglich seinen Platz in der Geschichte des Journalismus mit Sigmund Freuds Rolle in der Entwicklung der Psychoanalyse. Ein "ruheloses Genie" nennt ihn der Journalist Richard J. Tofel in einer 2009 erschienenen Biografie.

Kilgore wurde 1929 eingestellt, berichtete aus San Francisco und Washington und arbeitete von 1932 an in New York. Er hat das Journal seit seiner Ernennung zum Chefredakteur (Managing Editor) 1941 im Alter von 32 Jahren bis zu seinem Tod 1967 dominiert wie kein anderer und die Auflage von 33.000 auf 1,1 Millionen Exemplare erhöht. Er empfand die Titelseite oft als so langweilig wie eine Grabplatte. Richard Tofel sagt, eine wichtige Neuerung Kilgores war, dass er festlegte: Das Journal schreibe nicht für Banker, sondern für normale Bankkunden. Statt von oben herab zu berichten, erklärte er Lesern wirtschaftliche Zusammenhänge in Briefform.

Kurze Texte, knappe Infos

Dem Geschäftsmann Murdoch gefällt, dass Kilgore auch kürzere Texte wollte. Aber Kilgore lag vor allem an Verständlichkeit und Analyse. Da das Journal oftmals Zweitzeitung war, sollte es die Nachrichten des Tages durch Hintergrundberichte einordnen. Die über viele Jahre prägendste Einführung war eine tägliche Seite-eins-Geschichte, die über das Feld einer Wirtschaftszeitung weit hinausging: der so genannte A-Hed über ein scheinbar völlig abseitiges Thema, wie das Geschäft mit Videos über Frauen, die rauchen.

Folgt das Journal noch dem Geist von Kilgore? Murdochs Verständnis vom Zeitungsmachen als News-Geschäft sei antiquiert, sagen Mitarbeiter. Kilgore dagegen untersagte seinen Reportern, die Relevanz von Nachrichten durch die Wörter "heute" oder "gestern" zu rechtfertigen. Er war überzeugt, dass Leser vor allem erklärt haben wollen, was Nachrichten für die Zukunft bedeuteten. Er führte die Tradition des anekdotischen Erzählens ein, die das Journal perfektionierte.

Murdoch könne damit nichts anfangen, sagen Reporter des Journal. Er sei dafür als Leser zu ungeduldig, ein Nachrichtenjunkie, der keinen Wert lege auf die Vermittlung komplexer Zusammenhänge oder darauf, neben der Geschichte der Sieger auch die der Verlierer und Opfer zu erzählen.

Paul E. Steiger, bis 2007 Chefredakteur, verlangte von seinen Leuten Geschichten "mit moralischer Kraft". So entstand die zehnteilige Serie "China's Naked Capitalism", die 2007 den Pulitzerpreis erhielt. Darin untersuchte das Journal die wahren Kosten des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas und berichtete über Menschen, deren Arbeitstag nach 15 Stunden noch nicht zu Ende ist, über Kinder mit erhöhten Bleiwerten im Blut und den einsamen Kampf eines Arztes gegen Umweltverschmutzung.

Solche investigativ untermauerten Erzählungen haben dazu geführt, dass der amerikanische Konsumentenanwalt Ralph Nader einmal bemerkte, das Journal sei die Zeitung, die am wirkungsvollsten über die dunklen Seiten des Wirtschaftssystems aufkläre.

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