Brexit, Streit über die Flüchtlingspolitik, Wiedererstarken von Nationalismus - es scheint nicht gut zu stehen um die Einheit Europas. Der australische Historiker Sir Christopher Clark („Die Schlafwandler") ist für das ZDF mehrere Monate durch die Länder gereist und hat sich auf Spurensuche begeben: Was eint und was teilt uns? Sechs Teile von „Europa-Saga" sind ab diesem Sonntag zu sehen.
Christopher Clark, geboren 1960 in Sydney, studierte unter anderem 1985 bis 1987 an der FU Berlin. Er lehrt Neuere Europäische Geschichte an der Universität von Cambridge, England.
DIE WELT:
Heinrich Mann hat gesagt: „Das übernationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer ist reine Erfindung der Dichter." Wie haben Sie das auf Ihrer Reise durch den Kontinent für die „Europa-Saga" erlebt: Ist das europäische Gemeinschaftsgefühl Dichtung oder Wahrheit?
Christopher Clark:
Wahrheit. Auch, wenn Wahrheiten sich oft aus der Dichtung ergeben, jedes Nationalgefühl und jede Identität sind schließlich konstruiert. Ein starkes europäisches Gefühl habe ich besonders bei Menschen zwischen 18 und 25 Jahren erlebt, ob in den Niederlanden, Spanien oder sogar Griechenland - ich dachte, dort wären die Menschen von der EU traumatisiert! Auch in Kiew habe ich ein positives Europabild erlebt. Für sie ist Europa aber eher ein Traumbild, ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Für die Briten war es offenbar eher ein Albtraumbild. Wie empfinden Sie den Brexit?
Ich bedauere das Ergebnis sehr, auch wenn nicht feststeht, wie der Brexit am Ende aussehen wird. Ich habe die Entscheidung, ein Referendum durchzuführen, immer für einen schrecklichen Fehler gehalten. Plebiszite werden in vielen Ländern, auch Deutschland, nicht durchgeführt oder sind nicht erlaubt. Aus gutem Grund. In der Geschichte waren Volksabstimmungen eher ein Instrument von Diktaturen als von Demokratien. Napoleon III. hat ständig Referenden durchführen lassen, und auch Hitler hat sie benutzt: Ob die Volksabstimmung zur Angliederung Österreichs, die Saarabstimmung im Jahr 1935 oder letztendlich die Frage, ob dem Führer mehr Machtbefugnisse zugesprochen werden sollen. Nein, ich sehe in Referenden oft nicht den Willen des Volkes verwirklicht.
Lernen wir aus der Geschichte?
Wenn Sie meinen, ob wir aus der Geschichte konkrete Ratschläge gewinnen können, die uns aus heutigen Problemen raushelfen, dann würde ich das verneinen. Die Geschichte ist keine Lehrerin, sie ist ein Orakel. Wenn man die alten griechischen Orakel um Rat gebeten hat, kamen oft kryptische Antworten zurück, so was wie „Ein Reich wird fallen". Genauso ist das, wenn man eine Frage an die Geschichte stellt. Sie wird uns verraten, was früher geschah - aber das auf unsere Gegenwart zu übertragen ist nicht einfach. Aber auch, wenn wir keine konkreten Ratschläge erhalten - die Beschäftigung mit unserer Vergangenheit macht uns auf jeden Fall weiser.
Nach dem Einzug der AfD in den Bundestag kursierten in den sozialen Medien am Wahltag Sprüche wie: „Heute war der letzte Tag, an dem Deutschland behaupten konnte, aus seiner Geschichte gelernt zu haben." Wie bewerten Sie das?
Ich finde das intellektuell ziemlich schwach, vielleicht sogar ein bisschen dumm. Erstens ist die Tatsache, dass eine Partei wie die AfD Erfolge erzielt hat, kein ausschließlich deutsches Phänomen. Vielmehr spiegelt sich dadurch auch in Deutschland die aktuelle europäische Situation wider - aber in Deutschland ist das Phänomen des Aufstiegs nationalistischer Parteien sogar eher weniger entwickelt als in anderen Ländern. Zweitens ist die AfD eine ziemlich lose Konstellation, die mit vielen Stimmen spricht. Es gibt eine rechtsextreme Ecke in der Partei, in der nationalsozialistisches Gedankengut vorhanden ist. Das ist schrecklich! In der AfD sind aber auch Wutbürger, die wegen Themen wie Wohnungsnot in die Politik gegangen sind.
Mit ihrem Buch „Die Schlafwandler: Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog" haben Sie auch in Deutschland einen Bestseller gelandet. Brexit, Uneinigkeit über die Flüchtlingspolitik, Wiedererstarken des Nationalismus, Finanzkrisen - schlafwandelt Europa in eine neue Katastrophe?
Die Europäische Union hat in ihrer jetzigen Gestalt gravierende Strukturfehler. Es war meiner Meinung nach schlafwandlerisch, trotz großer Krisen wie der griechischen Finanzkrise weiterhin strikt nach der Logik des EU-Systems zu handeln. Die Entscheidungsträger haben bestehende Grenzen und Probleme einfach akzeptiert. Sie waren nicht abenteuerlich genug, um über neue Wege nachzudenken - ob man vielleicht einen „Neustart-Knopf" der EU drücken kann.
Und in anderen Krisen?
Genauso in der Flüchtlingskrise. Hier gab es viel zu viele nationale Alleingänge, die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Entscheidungsfindung bleibt bis heute schwach. Auch das ist schlafwandlerisch. Dass wir in eine neue Katastrophe schlafwandeln, glaube ich allerdings nicht. Ich denke vielmehr, dass Deutschland und Macron gemeinsam Bewegung in das festgefahrene EU-System bringen können.
Norman Angell veröffentlichte 1910 das Buch „The Great Illusion", in dem er davon ausging, dass die Länder Europas zu stark miteinander vernetzt seien, um noch einmal gegeneinander Krieg zu führen. Es folgten zwei Weltkriege. Irren wir uns auch heute - ebenso wie Norman Angell?
Indem wir denken, die Vernetzung verhindere einen Krieg, irren wir uns absolut. Die Vernetzung verhindert keinen Krieg, sie ermöglicht nur einen vernetzen Krieg. Der Erste Weltkrieg wurde wirtschaftlich geführt: Man wollte nicht nur die Truppen des Gegners vernichten, sondern auch sein Wirtschaftsleben. Sollte es in unserer Zeit noch einmal zu einem Krieg kommen, wird dieser über die Vernetzungen der Moderne geführt werden. Alle Mächte bereiten sich jetzt auf einen Cyberkrieg vor - obwohl er schon lange im Gange ist. Das haben wir an vermeintlich russischen Hackerangriffen gesehen. Ich sehe in unserer Vernetzung überhaupt keinen Garanten für den Frieden.
Welche historischen Erfahrungen sind entscheidend für unsere Identität als Europäer?
Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) war ein gesamteuropäisches Ereignis, aus dem sich durch den Westfälischen Frieden auch erstmals eine europäische Ordnung ergeben hat. In den Nachrichtenblättern von damals gewann der Begriff von Europa immer mehr an Gewicht. Der Erste und Zweite Weltkrieg haben ein Gefühl dafür gegeben, was Europa ist. Erst dadurch, dass Europa sich selbst bekriegt hat, dann dadurch, dass man überlegt hat, wie man in Zukunft einen solchen verheerenden Krieg auf dem Kontinent verhindern kann.
Und noch weiter zurück?
Außerdem wichtig für die Identität der Europäer war die Entstehung einer westlich-europäischen Kirche durch die Spaltung der Kirche im 11. Jahrhundert in einen orthodoxen und einen katholischen Zweig. Das Christentum war eigentlich nicht sehr europäisch, es hatte seine Wurzeln im Nahen Osten. Erst mit der Spaltung entstand eine westlich-europäische Kirche mit Hauptsitz in Rom statt in Byzanz. Das Christentum war lange ein identitätsstiftendes Merkmal der Europäer - ebenso wie das Judentum und der Islam.
Viele bezweifeln, dass der Islam zu Europa gehört.
Selbstverständlich gehört der Islam zu Europa! Ein Großteil des heutigen Spaniens war zwischen dem siebten und 14. Jahrhundert nordafrikanisch-arabisch geprägt. In al-Andalus, wie der muslimisch beherrschte Teil der iberischen Halbinsel genannt wurde, lebten und arbeiteten Christen, Juden und Muslime zusammen. So wurde die Region zum wichtigsten Zentrum seiner Zeit für Philosophie, Naturwissenschaften, Übersetzungen und Künste. Es ist eine unwiderlegbare historische Tatsache, dass der Islam Teil der europäischen Geschichte ist. Leider hat das vielen nicht gepasst: Insbesondere zwischen 1815 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde der Islam massenmörderisch aus dem Südwesten Europas herausgetrieben. Bis in die heutige Zeit hat nur Bosnien überlebt, als kleine Insel des Islam in Europa. Man sieht es in der wunderschönen Hauptstadt Sarajevo mit ihren Hunderten Moscheen und Minaretten, dass der Islam bis heute zu Europa gehört.
Mit der „Europa-Saga", von der es auch eine Fassung auf Englisch für den internationalen Markt gibt, wollen Sie Menschen für Geschichte begeistern. Ist eine Fernsehdokumentation dafür noch der richtige Weg, oder sollte man lieber auf neue Formate wie Instagram setzen?
Das würde ich gern. Aber vorher müsste ich meine Söhne fragen, wie das eigentlich geht. Wie die meisten Menschen meines Alters bin ich ziemlich verloren in der Landschaft der sozialen Medien. Dass das Fernsehen noch Menschen erreicht, hat die „Deutschland-Saga" gezeigt, bei der bis zu vier Millionen Menschen zusahen. Eine sechsteilige Doku bietet außerdem den Raum, größere Gedankengänge zu entwickeln und darzustellen. Zum Beispiel den ständigen europäischen Konflikt zwischen Einheit und Vielfalt.
Die „Europa-Saga" startet am 22. Oktober um 19.30 Uhr im ZDF.