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Hochstapler-Syndrom: "Kann ja nicht sein, dass ich wirklich so gut bin"

Im Meeting sagen sie nichts, weil es ja doch falsch sein könnte. Vielleicht gibt es eine Info, die man übersehen hat? Und das Lob der Chefin wischen sie als Selbstverständlichkeit beiseite. Das hätte doch wirklich jeder gekonnt! Für Menschen, die solche Gedanken haben, gibt es einen Begriff: Sie leiden unter dem Hochstapler-Phänomen. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein und bei nächster Gelegenheit als Hochstaplerin aufzufliegen, kennen nicht nur unsichere und zurückhaltende Menschen, sondern etwa auch Prominente, zu deren Alltag es gehört, auf der Bühne oder vor der Kamera zu stehen. Emma Watson kennt es, Tom Hanks und sogar Michelle Obama. Expertinnen schätzen, dass insbesondere in der akademischen Welt mehr als die Hälfte der Menschen schon solche oder ähnliche Gedanken hatten. Bin ich ein Hochstapler? Trotz zahlreicher Preise, Doktortitel oder Führungspositionen zweifeln sie an ihrem Können.

"Das Hochstapler-Phänomen geht weit über Selbstzweifel hinaus", sagt Sonja Rohrmann, Professorin für Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie forscht seit 2011 zum Hochstapler-Phänomen. Drei Eigenschaften müssten laut Rohrmann erfüllt sein, damit vom Hochstapler-Phänomen gesprochen werden kann. Erstens denken Betroffene, dass ihr Umfeld sich in ihnen und ihrer Expertise täuscht. Zweitens schieben sie ihren Erfolg auf externe Umstände wie Glück oder Zufall. Und drittens haben sie Angst, als vermeintliche Hochstapler aufgedeckt zu werden.

Doch wieso haben manche Menschen selbst dann noch Zweifel, wenn sie ihren Job jahrelang erfolgreich machen? Warum führen Managerinnen ihren Erfolg lieber zurück auf Glück als auf Können?

Janina, 28, Informatikerin

Während meines Bachelorstudiums in Informatik habe ich in den USA ein Praktikum in einem großen Unternehmen im Bereich Softwareentwicklung gemacht. Ich weiß noch, wie ich da zwischen Studierenden unter anderem aus Yale gesessen und mich gefragt habe, warum sie mich ausgewählt haben, wenn meine Kollegen doch viel kompetenter waren. Viele hatten an amerikanischen Eliteunis studiert, an denen die Qualität der Seminare meiner Meinung nach viel besser ist als an den deutschen Universitäten. Ich hatte Angst, dass sie entdecken würden, dass ich nicht so gut bin wie die anderen. Trotzdem hat mich das Praktikum total bereichert. Ich mag die amerikanische Arbeitsweise: Es wird offener an Neues herangegangen, Entscheidungen werden schneller getroffen, der Druck ist höher, die Entwicklungszyklen sind kürzer.

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Die Zweifel sind für mich über das gesamte Praktikum geblieben und haben mich in meinem Potenzial beschränkt. Heute denke ich, dass ich öfter hätte nachhaken sollen, wenn ich etwas nicht direkt verstanden habe oder mir Informationen gefehlt haben. Ich hätte im Nachhinein auch mehr das Angebot anderer Kollegen nutzen sollen, in ihre Arbeit reinzuschnuppern und sich zu vernetzen. Durch das Gefühl, hier nicht hinzugehören und als inkompetent aufzufliegen, habe ich mich zurückgehalten und versucht, mich unsichtbar zu machen.

Abhängig vom Feedback der Kollegen

Jetzt im Master, den ich in Informatik mache, war ich wegen der Pandemie sehr viel im Homeoffice und hatte die Zeit, mich viel mit mir selbst auseinanderzusetzen. Mir ist klar geworden, dass ich meinen Selbstwert stark von dem Feedback meiner Kollegen und meiner Arbeit abhängig mache. Im Homeoffice ist das schwer. Und selbst wenn ich erfolgreich bin oder gelobt werde, kann ich das nicht gut annehmen. Als ich meine Bachelorarbeit mit 1,0 abschloss, freute ich mich kurz. Dann dachte ich, dass das nur ein Zufall sein kann und dass die Professoren nur einen guten Tag hatten, als sie meine Arbeit korrigierten.

Bei Bewerbungen und neuen Jobs bin ich immer wieder zögerlich, weil ich Angst habe, den Erwartungen nicht zu entsprechen. Zu dem Praktikum in den USA hat mich eine Freundin überredet. Vor einem Jahr hat mich eine Recruiterin von Google angeschrieben. Sie hat mich zu einem technischen Bewerbungsgespräch für die Softwareentwicklung in Europa eingeladen. Ich war mit der aktuellen Situation, der Pandemie, dem Druck und den Erwartungen an mich selbst so überfordert, dass ich das Angebot erst verschob und dann trotz ihrer Rückfragen abgesagt habe. Als sie immer wieder nachhakte, lehnte ich ab. Das hat sich befreiend angefühlt, weil es mir die Möglichkeit gegeben hat, wieder Kontrolle über die Geschwindigkeit meiner Entwicklungen zu bekommen. Der Druck, den ich auf mich ausgebaut habe, war schlimmer als der Gedanke an die vertane Chance.

Das Hochstapler-Phänomen war mir lange kein Begriff. Ich hatte es immer wieder mit einer eigenen Schwäche abgetan. Erst durch einen Freund aus dem Praktikum in den USA, der mich auf das Hochstapler-Phänomen aufmerksam gemacht hat, habe ich angefangen, meine Muster zu reflektieren. Mir wurde langsam bewusst, dass ich mich, wenn ich so weiter mache, in meinem eigenen Entwicklungsprozess blockiere. Ich beschloss, etwas zu ändern und suchte mir externe Hilfe. Seit ein paar Wochen gehe ich zu einem Coach, der verhaltenstherapeutisch arbeitet. Mein Ziel ist es, mein Verhalten besser zu verstehen und gezielt zu verändern.

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