Susanne Greiner

Journalistin, Landsberg am Lech

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Leises Glück: Gilla Cremer im Stadttheater Landsberg

Landsberg - Was man von hier aus sehen kann? Nicht viel. Einen Ausschnitt der Lebenswirklichkeit, ein Puzzleteil des großen Ganzen vielleicht. Oder eben alles, was das Leben ausmacht. Das findet zumindest die Autorin von „Alles, was man von hier aus sehen kann" Mariana Leky. Ihr Roman sucht und findet kleine Antworten auf die große Sinnfrage, und das in ungemein poetischen Worten. Gilla Cremer und Rolf Claussen haben Lekys Wortpoesie behutsam in Bilder und Bewegung umgesetzt. Reduziert, leise, leicht - und genauso beglückend wie der Roman. Die Besucher im Stadttheater waren begeistert.


Fanny van Dannen kennt sich aus mit Okapis. Wünscht er sich doch zum Geburtstag ein Poster des possierlichen Tierchens - und bekommt eines von einem Schabrackentapir. Dabei ist ein Okapi doch unverwechselbar, weiß Selma, Luises Großmutter. „Nach einem Okapi kann eigentlich nichts mehr kommen." Sie träumt gerne von den Tieren, „ihren Tapirhüften, den Rehaugen und dem Giraffenleib". Ein Tier, alles andere als unheilvoll. Aber dennoch: Nach jedem Okapi-Traum Selmas stirbt ein Mensch im Dorf. Innerhalb von 24 Stunden - manchmal vielleicht ein bisschen verspätet. Was für ein perfekter Auftakt zu einem Roman und einem Stück, dessen Sätze und Ereignisse aufgrund einer fehlenden Kausalität in ihrer Abfolge surreal wirken. Aber gerade deswegen auch so ungemein lebensnah sind.

Cremer und Claussen meiden die große Geste. Sie bleiben so leise wie der Roman, bauen auf die Poesie des Textes, der Dinge zeigt, ohne sie erklären wollen zu müssen. Die Requisiten: Bierbänke, die zu Ikea-Regalen werden, zu Fußböden, so dünn, dass man durchbricht. Im Hintergrund flattert Wäsche. Mehr nicht.

Die beiden Schauspieler schlüpfen nicht in die Rollen der zahlreichen Protagonisten (das macht auch Leky nicht). Sie sind Erzähler und reichern den Text mit reduziertem Spiel an. Nur zweimal tritt Cremer aus dem Stück und wechselt zum Ich von Luise: wenn Luises Kinderfreund Martin aus einer defekten Zugtür in den Tod stürzt. Und wenn Selma, Luises Anker, in deren Herzschlag die Welt pulsiert, die nach Martins Tod Luises Welt ein zweites Mal erfindet, „minus eins": Wenn Selma stirbt und mit ihr die lebensrettenden Bratkartoffeln, dann reißt das Erzählerin Cremer ins Ich. Es sind zwei Momente, in denen die Welt „ihren Lauf nimmt", beschreibt es Luise. Und natürlich gehören diese Momente zum Ganzen dazu.

Der Roman und das Stück fragen nach dem, was das Leben ausmacht. Wenn Martin und Selma das Spiel „Was man von hier aus sehen kann" im Zug spielen - Martin errät mit dem Rücken an der für ihn verhängnisvollen Zugtür nach langem Üben mit Luise als Souffleuse, was in welchem Moment draußen vor dem Zugfenster vorbeischlingert -, dann ist das eine erste Antwort von vielen auf das große Warum. Was das Leben ausmacht, ist das, was mich im Moment umgibt, ist der Augenblick in seinem Rahmen. Aneinandergereiht ergibt sich Leben.

Dazu gehören auch, und das wissen Leky und ihre Protagonisten nur zu genau, saufende und abwesende Väter, die große Liebe, die man verlieren muss, um sie zu halten (ja, es gibt ein Happy End). Und natürlich die Angst vor dem Tod, immer, aber vor allem, wenn Selma vom Okapi träumt. Dazu gehört die Erleichterung und das Glücksgefühl, wenn niemand trotz Okapi-Traum stirbt. Und dazu gehört auch die menschliche Eigenart, dieses Glücksgefühl schon bei der nächsten Nebenkostenabrechnung wieder zu vergessen.

Leben besteht aus Schnipseln, sagen Leky, Cremer und Claussen. Logische Abfolgen sind reine Illusionen, „der Verstand funktioniert so", sagt Selma. Er sucht nach Verbindungen, wo keine sind, zum Beispiel zwischen einem Okapitraum und dem Tod. Wichtig ist, sich für die ganzen herumflatternden Schnipsel zu entscheiden. Das zu verinnerlichen, was man von hier aus sehen kann. Oder wie Luises große Liebe Frederick, der buddhistische Mönch, es vielleicht sagen würde: „die unbedingte Anwesenheitspflicht im eigenen Leben".

Lekys Roman ist nicht umsonst so erfolgreich. Er verursacht dieses kleine, ein wenig wehmütige Glückslächeln, das man in den Augenbrauen spürt. Cremer und Claußen scheinen auf diesem Lächeln in ihrem Spiel zu reisen.

„Was man von hier aus sehen kann" war der Auftakt der Theatersaison im Stadttheater - ein erfreulich gut besuchter: Rund 200 wollten Gilla Cremer und Rolf Claussen sehen. Hoffen wir, dass es so weitergeht.

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