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Der neue Mond von Hirschfelde

Als hätte jemand vergessen, über Polen das Licht auszuschalten: Blick aus Deutschland gen Bogatynia

In einem riesigen Gewächshaus unweit der Grenze werden in Polen Tomaten gezüchtet. Von dort scheint manchmal Licht – so hell, dass man es romantisch finden kann. Oder lästig

Wenn der Himmel über Hirschfelde wieder leuchtet, nimmt Mario Wolf sich manchmal einen Gartenstuhl und stellt ihn ein paar Hundert Meter vor seinem Grundstück auf. Sechs Kilometer Luftlinie, so weit ist es bis zur deutsch-polnischen Grenze. Dort, gleich dahinter, steht das Braunkohlekraftwerk Turów, das gewaltige Schwaden in die Nacht bläst. Wenn also der Himmel über Hirschfelde leuchtet, verschränkt Mario Wolf die Hände im Nacken und guckt Wolken. So lange, bis er Tiere darin erkennt oder Männchen, die von Wolke zu Wolke springen. Orangegelbe Männchen in gelborangefarbenen Wolken. Die Wolken über Turów werden immer mal wieder angestrahlt - von einem der modernsten Gewächshäuser Europas, dem Gewächshaus von Bogatynia, in dem Tomaten mit künstlichem Licht versorgt werden. Dessen Leuchten deshalb immer wieder zu sehen ist. Mal nur für ein paar Minuten, mal für Dutzende.

Wenn in Bogatynia das Gewächshaus leuchtet, erhellt es den Himmel über den nahe gelegenen Grenzgemeinden im Dreiländereck zwischen Polen, Deutschland und Tschechien. Dann liegt ein gelber Schein über allem, tief in der Nacht, der bis zu 60 Kilometer ins Landesinnere hinein gesehen werden kann. Im Dezember 2014, als er zum ersten Mal beobachtet wurde, riefen Menschen die Feuerwehr. Sie dachten, das Kraftwerk Turów brenne.

Für Mario Wolf und die anderen Bewohner der deutsch-polnischen Grenzregion ist das Leuchten manchmal wunderschön. Und manchmal ein bisschen lästig. Bogatynia, sagen manche hier, hat uns einen zweiten Mond geschenkt. Nicht alle finden das gut. Aber, und das ist doch noch überraschender: Bei Weitem nicht alle finden das schlecht. Viele, die das Leuchten sehen, freuen sich sogar, irgendwie.

Mario Wolf, 54, der seit 2002 in Hirschfelde wohnt, arbeitet als Designer, vielleicht ist er schon deshalb fasziniert. Er fotografiert das Schauspiel und bearbeitet die Fotos am Computer. Für ihn sind das Gewächshaus und das Kraftwerk sein "Klein-Dubai" - wegen der spektakulären Show. Gleichzeitig stört ihn das Leuchten auch: "Ich bin Hobbyastronom. In klaren Nächten konnte man früher von hier aus den Andromedanebel sehen", sagt Wolf. "Jetzt ist natürlich nichts mehr mit Sternen oder Mondphasen."

Seit drei Jahren gibt es das Gewächshaus, einen riesigen Hallenkomplex von zehn Hektar. Dass es im Sommer wie im Winter seit ein paar Jahren Tomaten aus Polen zu kaufen gibt, liegt einzig an der Tomatenplantage in Bogatynia. Sie wird vom polnischen Unternehmen Citronex betrieben. Fast rund um die Uhr werden die Tomaten mit Licht bestrahlt, um ihr Wachstum zu fördern, besonders im Winter und an sonnenarmen Tagen. Man weiß manches über Citronex, auch wenn das Unternehmen für diesen Text nicht mit der ZEIT sprechen wollte: Einst war Citronex ein kleines Familienunternehmen, heute ist der Konzern ein Global Player im Bananenimport. Er beschäftigt 1.500 Mitarbeiter in zwölf Unternehmen. Und betreibt nun eben auch den modernsten Gewächshauskomplex Europas für den ganzjährigen Anbau von Tomaten.

Auf jedem Quadratmeter Fläche wachsen dort in einem Jahr 100 Kilo davon, das geht nur bei gleichbleibenden Reifebedingungen. Für die Sonne im Gewächshaus ist eine Beleuchtungsanlage namens Lediko-Agralene verantwortlich. Auf die ist das Unternehmen so stolz, dass es auf seiner Webseite von ihr berichtet: Sie komme ohne die eigentlich im Gemüseanbau eingesetzten Natriumlampen aus. Stattdessen würden LED-Birnen eingesetzt. Die Tageslänge wird durch die Lampen ins Unendliche verlängert. Die Photosynthese wird maximiert, das Wachstum beschleunigt. Und deshalb wachsen in Bogatynia Hochleistungstomaten, die zum Abendbrot in ganz Europa gegessen werden. Citronex selbst bezeichnet seine "Polskie Pomidory" als nachhaltig. Die Begründung: Gemüse könne so über das gesamte Jahr hinweg angebaut, teure Importe aus Marokko oder Spanien könnten reduziert werden.


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