Sophia Boddenberg

Freie Journalistin, Santiago de Chile

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"Sie haben mich einfach auf die Straße gesetzt" - DER SPIEGEL - Politik

Die 49-jährige Peruanerin María Elena Tintaya dachte, sie hätte einen Traumjob ergattert. Ihre Schwester hatte ihr in Chile Arbeit als Hausangestellte in Chicureo, einem Reichenort im Großraum Santiago, besorgt. "Ich hatte viele Erwartungen und Träume", sagt Tintaya. "Dafür habe ich meine fünf erwachsenen Kinder in Peru zurückgelassen." Den Großteil ihres Lohns von umgerechnet rund 430 Euro monatlich wollte sie nach Peru überweisen, um ihre Familie zu unterstützen - dort liegt der Mindestlohn bei etwa 200 Euro.

Anfang März zog sie bei ihren Arbeitgebern ein, sie kümmerte sich um den Haushalt und die zwei Kinder. Doch nach nur wenigen Tagen verwandelte sich der Traumjob in einen Albtraum. Die Coronakrise erreichte Lateinamerika, und die chilenische Regierung verhängte eine Ausgangssperre, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. "Meine Arbeitgeber haben mir gesagt, wenn ich das Haus verlasse, verliere ich meinen Job oder ich komme ins Gefängnis", erinnert sich Tintaya. "Ich habe jede Nacht geweint."

Sie erhielt zwar weiter ihren Lohn, durfte in den folgenden fünf Monaten aber kein einziges Mal rausgehen, nicht einmal an ihrem Geburtstag. Sie erzählt im Telefoninterview, dass sie manchmal nur eine Mahlzeit am Tag bekommen habe.

In ihrem Zimmer sei das Dach undicht gewesen, bei winterlichen Temperaturen habe es durchgeregnet. Ende August wurde sie ganz entlassen. "Sie haben mich einfach auf die Straße gesetzt", sagt Tintaya. "Ich war verzweifelt, weil ich niemanden kannte."

In ganz Lateinamerika haben Millionen von Menschen wie die peruanische Hausangestellte María Elena Tintaya plötzlich ihre Arbeit verloren. In der Pandemie versuchten die meisten Staaten, ihre fragilen Gesundheitssysteme mit frühzeitigen, strengen Lockdowns vor dem Zusammenbruch zu schützen - zu einem hohen Preis: Unternehmen kämpfen ums Überleben, Pro-Kopf-Einkommen und Konsum sind stark geschrumpft.

"Lateinamerika ist von allen Regionen weltweit sowohl von der Pandemie als auch von ihren wirtschaftlichen Folgen am stärksten betroffen", sagt Felix Klauda, Regionalbeauftragter für Lateinamerika und Karibik der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) dem SPIEGEL. "In vielen Ländern sagen Prognosen Wirtschaftseinbrüche von zehn bis fünfzehn Prozent voraus." Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) warnt vor einer beispiellosen Krise der Arbeitsmärkte, rund 34 Millionen Arbeitsplätze seien in Lateinamerika allein im ersten Halbjahr 2020 verloren gegangen.

Der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) zufolge werden allein in diesem Jahr fast 45 Millionen weitere Menschen in die Armut getrieben - Dutzende Millionen davon wohl in die extreme Armut. CEPAL warnt vor einem "verlorenen Jahrzehnt", da die Fortschritte der vergangenen Jahre zunichtegemacht werden.

Lateinamerika ist zudem eine der Regionen mit der höchsten sozialen Ungleichheit weltweit, die Coronakrise verschärft nun diese Kluft - und trifft dabei vor allem den informellen Sektor, in dem in vielen Ländern der Region mehr als die Hälfte der Bevölkerung tätig ist. "Mittelschicht und Oberschicht fällt es in der Regel leichter, auf Homeoffice umzustellen", sagt Klauda. "Informell Beschäftigten fällt die Erwerbsgrundlage im Lockdown weg, und dort, wo staatliche Programme nicht schnell genug oder nur ungenügend greifen, geht es sofort um die Existenz."

In Chile haben sieben von zehn Hausangestellten ihren Job verloren

Hausarbeit ist eine der am stärksten betroffenen Branchen: CEPAL zufolge waren in Lateinamerika zwischen 11 und 18 Millionen Hausangestellte, vor allem Frauen, tätig - mehr als zwei Drittel von ihnen in informellen Verhältnissen und schlecht bezahlt. Fast zwei Drittel von ihnen mussten Arbeitslosigkeit, Arbeitszeitverkürzung oder Lohnausfall hinnehmen.

Allein in Chile haben einer Studie der Universidad de Chile zufolge sieben von zehn Hausangestellten wie die Peruanerin María Elena Tintaya in den vergangenen zwölf Monaten ihre Arbeit verloren; die Hälfte von ihnen hat keinen Vertrag und keinen Arbeitsschutz, viele sind Migrantinnen.

In Mexiko entlassen US-amerikanische Zuliefererbetriebe Arbeiter in Scharen. Pedro Chavira Juárez, der Präsident des Wirtschaftsverbands Index schätzt, dass zwei von zehn Beschäftigten in der Montage-Industrie, also rund 60.000 Arbeiter, ihren Job verlieren könnten.

Die Anwältin Susana Prieto Terrazas aus der Grenzstadt Ciudad Juárez kritisiert, dass die Fabriken sich dabei vor allem der Angestellten entledigen, die durch ihr Alter oder Krankheiten wie Diabetes anfälliger für das Virus sind oder einfach weniger leistungsfähig. "Sie feuern Arbeiter, die älter als 40 Jahre alt sind, und ersetzen sie durch 16-Jährige, die schneller sind", sagt Prieto Terrazas.

Die Arbeiter schuften nicht nur zu Niedriglöhnen, sondern auch mit erheblichen Gesundheitsrisiken - in den Fabriken, in denen sie oft ohne ausreichenden Abstand und mit mangelnder Belüftung zu Hunderten arbeiten, sind sie nicht vor Ansteckungen geschützt. In Städten wie Ciudad Juárez oder Matamoros gehen Fabrikarbeiter deswegen immer wieder auf die Straße. Auf Beschwerden reagieren die Konzerne aber häufig mit Kündigungen, wie auch der 24-jährige Daniel aus Ciudad Juárez erfahren musste.

Der junge Mexikaner hatte in den vergangenen fünf Jahren bei einem US-Pharmaunternehmen gearbeitet, er schraubte in Juárez medizinische Geräte wie Diagnosekatheter zusammen, verdiente dabei umgerechnet rund 11,50 Euro pro Tag für eine Neun-Stunden-Schicht. Als ein Verwandter von Daniel an Corona erkrankte, schickte ihn die Firma zwar zwei Wochen nach Hause und bezahlte ihn weiter. Doch dann sollte er zurück ans Band, obwohl sein Corona-Testergebnis noch nicht vorlag.

"In meiner Produktionslinie gab es mehrere ältere Frauen, und ich wollte niemanden anstecken", erinnert sich Daniel, der sich deswegen bei seinem Chef beschwert hatte. Als sein negatives Testergebnis wenige Tage später kam, hatte er bereits seine Kündigung - angeblich, weil er seine Aufgaben nicht erfüllt habe.

Bei Straßenverkäufern und anderen Arbeitern aus dem informellen Sektor ist hingegen die Angst vor dem Hunger größer als die vor dem Virus. In Chile oder Honduras gab es daher Proteste gegen die Lockdown-Maßnahmen.

"In Ländern wie Peru, Kolumbien und Brasilien wurden schnell Sozialprogramme angegangen, die meisten Länder in Lateinamerika haben zwischen sieben und zwölf Prozent des Bruttosozialprodukts in die Hand genommen, um Sozialprogramme und Unternehmensförderungsprogramme aufzulegen oder zu stärken", sagt KfW-Experte Felix Klauda. "Die Programme können aber nicht komplett ausgleichen, was die Pandemie ausgelöst hat."

In Kolumbien will die Regierung allein im Departamento Valle del Cauca, zu dem die Großstadt Cali gehört, umgerechnet mehr als 33 Millionen Euro in Sozialhilfen investiert haben. Die kolumbianische Straßenverkäuferin Marlyn Garcia erzählt aber, sie habe davon keinen Cent gesehen - und so wie ihr sei es auch den anderen Verkäufern gegangen.

"Die Regierung sollte endlich anfangen, die Schwächsten der Bevölkerung ernst zu nehmen", sagt die 42-Jährige, die in Cali seit mehr als 20 Jahren einen Obst- und Gemüsestand betreibt. Sie hat zwei Kinder, die sie allein durchbringen muss. "Ohne die Hilfe von Nachbarn und Freunden hätten wir nicht jeden Tag Brot auf dem Tisch gehabt", sagt sie.

Lateinamerikanische Staaten lockern derzeit nach und nach ihre Lockdowns, obwohl die Krise längst nicht vorbei ist. Sie können sich die harten Einschränkungen sozial und wirtschaftlich schlicht nicht länger leisten. Auch Kolumbien hat im September die sogenannte "Neue Realität" eingeleitet, seitdem öffnen auch Märkte wieder - und Marlyn Garcia fährt wieder jeden Tag eine Stunde mit dem Bus aus Villa Rica im Departamento Cauca zur immer gleichen Straßenecke in Cali, wo sie an einem kleinen Holztisch mit rotem Schirm Lauchzwiebeln, Paprika, Kartoffeln und Bananenblätter verkauft.

"Ich danke Gott, dass ich wieder arbeiten kann", sagt Marlyn Garcia. Sie sei auch froh, dass ihre Kinder den Lockdown so gut überstanden hätten. Ihr Sohn ist 13 und musste während der Zeit von zu Hause aus lernen - "digital", sagt sie, als wäre es ein Wort aus einer fernen Zukunft. "Ich bin froh, dass er das versteht."

Die Hausangestellte María Elena Tintaya sucht derweil in Chile verzweifelt weiter nach einem neuen Job. Sie wohnt gerade bei einer Gewerkschaftsführerin, die sie vorübergehend aufgenommen hat, und möchte wieder eine Anstellung als Hausmädchen finden, denn andere Berufserfahrungen hat sie nicht - doch in der Krise ist das derzeit fast aussichtslos.

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