Sophia Boddenberg

Freie Journalistin, Santiago de Chile

11 Abos und 9 Abonnenten
Artikel

Das Recht auf Abtreibung: Heftige Diskussionen im katholischen Chile

Claudia Dides, Leiterin der Organisation Miles, kämpft für sexuelle und reproduktive Rechte in Chile. Fotos: Sophia Boddenberg

In Chile steht Abtreibung unter Gefängnisstrafe. Claudia Dides hat mit der Organisation Miles ein Gesetz entworfen, damit chilenische Frauen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper zurückerlangen. Im März wurde es in der Abgeordnetenkammer abgesegnet, jetzt muss noch der Senat zustimmen. Seitdem wird in Chile wieder heftig diskutiert. Das Land, das stark von der katholischen Kirche geprägt ist, ist gespalten.


 Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Claudia Dides kauft eine Tablette bei einem Drogendealer. Sie ist schwanger. Zu Hause nimmt sie die Tablette ein. Sie hat Angst und fühlt sich gestresst. Sie hat nur ihrem Partner und ein paar engen Freundinnen erzählt, dass sie heimlich abtreiben will. Ihre Familie weiß nichts davon. In den nächsten Tagen hat sie Schmerzen im Unterleib, wie bei einer starken Menstruation. Nach drei Tagen im Bett geht sie wie gewohnt zur Arbeit. Ein befreundeter Arzt untersucht sie, um zu überprüfen, dass keine Reste in der Gebärmutter geblieben sind. „Ich habe mich sehr alleine gefühlt", sagt Dides. „Der Schatten, etwas Kriminelles zu machen, war immer da." Heute, drei Jahre später, ist sie 49 Jahre alt.

Dides ist eine von 160.000 Frauen, die pro Jahr in Chile illegal abtreiben. Diese Zahl stammt von „Human Rights Watch", die chilenische Regierung spricht lediglich von 33.000 Fällen, die jährlich in den Krankenhäusern erfasst werden. Dabei handelt es sich aber nur um die Frauen, die aufgrund von Komplikationen ein Krankenhaus aufsuchen und denen eine Gefängnis-, mindestens aber eine Bewährungsstrafe droht. Die Dunkelziffer der Abtreibungen ist jedoch viel größer. „Für mich war es sehr schwer, die Entscheidung zu treffen." Dides leidet unter der Caracoli-Krankheit, eine seltene angeborene Erkrankung der Gallenwege, die sie in Zusammenhang mit der Schwangerschaft in Lebensgefahr hätte bringen können. Nach der aktuellen Gesetzeslage in Chile hätte sie ihr eigenes Leben für das des ungeborenen Kindes opfern müssen, um keine Straftat zu begehen.

Chile ist eines von sechs Ländern weltweit, in denen Abtreibung unter allen Umständen verboten ist und unter Gefängnisstrafe steht. Die anderen fünf Länder sind Nicaragua, die Dominikanische Republik, El Salvador, Malta und der Vatikan-Staat. Weltweit gibt es im Jahr laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) circa 44 Millionen Schwangerschaftsabbrüche. In der Mehrheit aller Staaten ist nur die therapeutische Abtreibung erlaubt, wenn also die Fortsetzung Schwangerschaft das Leben der Mutter oder des Ungeborenen in Gefahr bringt oder andere medizinische Gründe vorliegen. Etwa 50 Länder erlauben Abtreibungen auch ohne Begründung, so auch Deutschland. In Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch zwar offiziell rechtswidrig, bleibt aber straffrei unter der Voraussetzung, dass die Schwangere an einem Beratungsgespräch teilnimmt.

„Haltet eure Rosenkränze von unseren Eierstöcken fern"

Als Leiterin und Sprecherin der Organisation Miles kämpft Claudia Dides für sexuelle und reproduktive Rechte, also das Recht auf uneingeschränktes körperliches und seelisches Wohlbefinden in Bezug auf alle Bereiche der Sexualität und Fortpflanzung der Menschen. Die Organisation hat das Gesetz „Tres Causales" entworfen, das Abtreibung in drei Fällen legalisieren soll: Wenn der Embryo lebensgefährlich geschädigt ist, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist oder wenn die Frau nach einer Vergewaltigung schwanger geworden ist.

Chiles Präsidentin Michelle Bachelet hat den Gesetzesvorschlag zur therapeutischen Abtreibung im vergangenen Jahr in ihr Regierungsprogramm aufgenommen. Mitte März wurde das Gesetz in der Abgeordnetenkammer abgesegnet, jetzt muss noch der Senat zustimmen. Seitdem wird in Chile wieder heftig diskutiert. Das Land, das stark von der katholischen Kirche geprägt ist, ist gespalten.

„Mein Körper, meine Entscheidung", steht in dicken schwarzen Buchstaben auf dem halbnackten Oberkörper einer jungen Frau geschrieben. Sie läuft mit tausenden anderen Menschen die Straße Alameda im Zentrum von Chiles Hauptstadt Santiago entlang, um zu protestieren. Nicht nur Frauen sind hier, auch Männer, Familien, Kinder. Sie singen, trommeln, schreien. Für mehr Frauenrechte. Für Entscheidungsfreiheit. Für die Freiheit, über den eigenen Körper zu bestimmen. „Haltet eure Rosenkränze von unseren Eierstöcken fern", steht auf dem Schild einer Frau. Eine Gruppe junger Frauen klebt Plakate mit Sprüchen und Bildern auf Werbetafeln, Bushaltestellen, Mülleimer. Eine schwangere Frau hat auf ihren Bauch geschrieben: „Ich habe mich entschieden". Die Organisation Miles nimmt ebenfalls an der Demonstration teil. Constanza Fernández, Soziologin bei Miles, sagt: „Es geht hier nicht nur um die Situation der Frauen - es geht um die ganze Gesellschaft".

Provokante Video-Kampagne

In Videos stürzen sich junge Chileninnen die Treppe hinunter, fallen mit dem Bauch auf einen Wasserhydranten oder lassen sich absichtlich von einem Auto anfahren. Die Message: Nur durch solche Unfälle lässt sich in Chile legal eine Schwangerschaft abbrechen. Mit dieser Video-Kampagne wollte Miles im vergangenen Jahr provozieren und schaffte es auch: Weltweit wurden die Videos kommentiert, geteilt und diskutiert, auch in Deutschland. Miles wurde 2009 aus einer Gruppe von Medizinern, Hebammen, politischen Parteien, Frauengruppen, Aktivistinnen und Feministinnen gegründet. Miles heißt übersetzt „Tausende" und soll die Menge der Mitglieder und Unterstützer verdeutlichen. Im Prozess um das Abtreibungsgesetz sind sie der wichtigste politische Akteur. Neben Lobbyarbeit bietet die Organisation Frauen psychologische Beratung und Rechtsbeistand.

Laut Umfragen von Miles sprechen sich circa 70 Prozent der chilenischen Bevölkerung für das Gesetz der „Tres Causales" aus. Wenn nicht gerade Weltfrauentag ist, dominieren bei Straßenprotesten jedoch die konservativen und katholischen Gruppen, zum Beispiel „Siempre por la Vida". Ihr Argument: Die Verteidigung des Lebens. „Das ist ein Totschlag-Argument ohne Inhalt. Wer kann denn sagen, dass er gegen das Leben ist?", empört sich Dides. An einem anderen Tag protestieren Familien mit Kindern, die das Down-Syndrom haben, gegen das neue Gesetz. Dabei geht es bei dem Gesetz gar nicht um die Abtreibung von Embryos mit Behinderung, sondern um nicht überlebensfähige Embryos. „Das sind Leute, die sich nicht informieren wollen und nicht reflektieren. Ich würde mich ja niemals für ein Gesetz einsetzen, das Frauen dazu zwingt, ein behindertes Kind abzutreiben. Es geht hier um Entscheidungsfreiheit", sagt Dides.

Heimliche Abtreibungen als Hauptgrund für Müttersterblichkeit

Daten von „Human Rights Watch" besagen, dass heimliche Abtreibungen in Chile der Hauptgrund für Müttersterblichkeit sind. Müttersterblichkeit bezieht sich auf den Tod einer Frau während der Schwangerschaft oder kurz nach Schwangerschaftsende. Eine Legalisierung der Abtreibung und medizinische Behandlung der Frauen könnte Chile diese Todesursache im Land erheblich senken. Frauen, die es sich finanziell leisten können, lassen in Privatkliniken im Ausland abtreiben. Es sind also besonders einkommensschwache Frauen, die unter den gefährlichen Bedingungen leiden. „Solche Abtreibungspraktiken wird es immer geben. Mit oder ohne Gesetz", sagt Dides. Das Medikament, mit der die meisten Frauen abtreiben, heißt Misoprostol. Eigentlich dient es der Behandlung von Magengeschwüren, wird aber in Chile auf dem Schwarzmarkt als Abtreibungsmittel gehandelt. Es kann oral als Tablette oder vaginal als Zäpfchen eingenommen werden. Die Preise liegen zwischen 60 und 100 Euro. Viele Frauen nehmen es aufgrund mangelnder Informationen falsch ein, indem sie zum Beispiel die Tablette als Zäpfchen verwenden. Oder sie kaufen eine Fälschung. Viele kommen mit gefährlichen Nebenwirkungen ins Krankenhaus.

So wie zum Beispiel ein 22-jähriges Mädchen aus Temuco im Süden Chiles, die von Miles psychologisch und juristisch betreut wird. Sie hatte Misoprostol über einen Kontakt bei Facebook gekauft und falsch eingenommen. Sie kam mit starken Blutungen ins Krankenhaus, doch die zuständige Krankenschwester rief den Arzt an, der die Polizei und die den Staatsanwalt. Drei Männer verhörten das junge Mädchen, bis sie in ihrer Verzweiflung dem Druck nachgab und gestand, damit ihr endlich jemand helfen würde, die schmerzhaften Blutungen zu stoppen. Eine andere Frau wurde von dem Krankenpfleger angezeigt, der sie ins Krankenhaus schob.

Bis zu fünf Jahre Gefängnis drohen einer Frau in Chile, wenn sie abtreibt. Es gibt aber verhältnismäßig wenige Fälle, die strafrechtlich verfolgt werden: Zwischen Januar 2011 und September 2012 waren es 310 Fälle. „Die meisten Ärzte haben keine Lust auf den Papierkram und sagen einfach, dass es eine Fehlgeburt war", sagt Dides. „Aber es gibt auch sehr konservative Menschen, die ihre eigene Großmutter anzeigen würden". Nur wenige Frauen kommen tatsächlich ins Gefängnis. Die anderen bekommen eine Bewährungsstrafe und dürfen das Land jahrelang nicht verlassen.

Feministische Gruppen kritisieren die Soziologin Dides, weil der Gesetzesentwurf „Tres Causales" immer noch kein komplettes Selbstbestimmungsrecht garantiert. Sie fordern die freie Abtreibung. „Das ist ein strategisches und taktisches Problem. Natürlich wollen wir irgendwann die freie Abtreibung erreichen. Aber für ein solches Gesetz würde man im Moment niemals Zustimmung erhalten", kontert sie. Die Gegner des Gesetzesentwurfs sind zahlreich und aggressiv. Auf Presseterminen wird Dides von Mitgliedern konservativer Organisationen oft angegriffen, geschubst und getreten. „Mörderin" und „Feminazi" rufen sie ihr zu und halten ihr einen Fötus aus Plastik vor das Gesicht. In sozialen Netzwerken wird sie bedroht und beleidigt. „Das ist brutal, wenn mir jemand Mörderin ins Gesicht ruft, obwohl ich nie jemanden ermordet habe", sagt sie. Bei den ersten beiden der drei Fälle gehe es um gewollte Schwangerschaften, Frauen, die gar nicht abtreiben wollen, aber krank sind oder deren Embryos nicht lebensfähig sind. Um keine Straftat zu begehen, müssen Frauen momentan einen kranken Embryo so lange im Bauch behalten, bis er tot geboren wird.

„Erbe der Militärdiktatur"

Dides hat im März den gesamten Gesetzesprozess begleitet. Fast eine Woche lang war sie jeden Tag in der Galerie des Kongresses in Valparaíso. Der schlimmste Moment war für sie, als eine weibliche Abgeordnete gegen den zweiten Grund, die Lebensunfähigkeit des Embryos, stimmte. „Das hatte ich nicht erwartet, dass eine Frau so wenig Empathie für ihr eigenes Geschlecht zeigt". Der Großteil der Abgeordneten sind Männer. Manuel García, Abgeordneter der konservativ-liberalen Partei „Renovación Nacional", sagte während der Debatte: „Während der Militärdiktatur wurden erwachsene Menschen ermordet. Und jetzt wollt ihr Menschen schon vor der Geburt ermorden. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen beiden Verbrechen?"

Dides sagt, sie hätte ihn am liebsten mit Eiern beworfen. „Es macht mich wütend, dass Menschen mit einer solchen Einstellung Entscheidungen über unser Land treffen". Im Kongress habe sich das Erbe der Pinochet-Diktatur gezeigt, sagt sie. Das Prinzip, den Anderen nicht zu akzeptieren, weil er anders denkt. Und dass Frauen sich in Gottes Namen für ihr Kind opfern sollen. Dieses Gedankengut stammt von Jaime Guzmán, Ex-Senator, Anhänger Pinochets und Verfechter des deutschen nationalsozialistischen Theoretikers Carl Schmitt. Durch Guzmáns Initiative wurde die Abtreibung überhaupt 1989 während der Militärdiktatur verboten. Vorher war die therapeutische Abtreibung seit 1931 erlaubt gewesen. „Die Abtreibung ist eine der vielen Schulden der Militärdiktatur. Die Diktatur wurde in Chile immer noch nicht überwunden", sagt Dides.

Aber auch wenn der Senat das Gesetz absegnet, dürfte die Debatte weiter andauern. Gegner des Gesetzes haben bereits angekündigt, dass die Verfassungsmäßigkeit am Obersten Gericht angefochten werden soll. Dides will für ihre Überzeugung weiter einstehen. „Es ergibt keinen Sinn, Wissen bloß anzuhäufen, ohne damit einen politischen Wandel anzustoßen. Wissen muss zu Wandel führen. Ich bin überzeugt, dass es möglich ist, die Welt zu verändern. Die Menschheit verdient, glücklich zu sein. Das klingt jetzt vielleicht utopisch oder nach Hippie, aber ok, dann bin ich eben Hippie."

Weiterführende Links und Studien: Organisation Miles Human Rights Watch zur Abstimmung in Chile Studie: Abortion in Chile - Practice under a restrictive regime
Zum Original