Wie macht er das nur? Mehr als 60 Jahre im Geschäft, 50 Millionen Platten verkauft, 15 Grammys gewonnen. Einige tausend Mal hat er I left my Heart in San Francisco gewiss schon vorgetragen. Das muss doch furchtbar langweilig sein! Tony Bennett sitzt gegenüber, gelassen, aber mit Körperspannung, lächelnd wie ein Zen-Meister des Gesangs. "Man singt kein Lied zweimal."
Alles hängt doch davon ab, wie man sich fühlt. Wie der Saal ist, das Publikum, die Akustik, die Atmosphäre. "Wenn ich auf die Bühne trete, weiß ich nie, wie es wird. Ich ändere hier eine Note, da eine Passage, das Timbre, das Tempo." Bennett trägt wie immer einen makellos sitzenden Anzug mit Einstecktuch, dazu eine große, leicht getönte Brille. "Jeden Abend muss alles neu zusammen kommen", sagt der 85-Jährige und schnippt rhythmisch mit den Fingern. "Das hält mich lebendig."
In den Staaten wird Tony Bennett verehrt wie kaum ein anderer Künstler. Ein letzter Überlebender aus den großen Tagen einer verunsicherten Nation. Er kämpfte 1944 in Frankreich und Deutschland den "guten Krieg", sang mit Frank Sinatra , Judy Garland und Count Basie. Und er verkörpert das, was man gemeinhin den amerikanischen Traum nennt: 1926 im Milieu der italienischen Einwanderer in Queens geboren, den Vater, ein Gemüsehändler, früh verloren, wächst Bennett mit Mutter und zwei Geschwistern in Armut auf - und bringt es hart arbeitend zum Weltstar. Wie ein billiger Roman sei sein Leben, sagt er: Voller Abenteuer, seltsamer Leute und unvorhersehbarer Wendungen.
Das Singen war allerdings lange schon Familiensache. "Mein Vater stammt aus Kalabrien. Er stand oft auf dem Berg und sang. Bis ins Dorf konnte man seine Lieder hören." 1906 nach New York immigriert, hatte Giovanni Benedetto bald geheiratet und drei kleine Entertainer in die Welt gesetzt.
Jeden Sonntag versammelten sich Tanten, Onkel, Nichten und Neffen in der Wohnung. "Sie bildeten einen Kreis um mich und meine beiden Geschwister. Und wir unterhielten sie." John Jr., Mary und Anthony Benedetto (seinen Bühnennamen Tony Bennett gab ihm 1949 Bob Hope) sangen Arien und Schlager. Die Verwandtschaft spielte ermutigend mit Mandolinen dazu. "Schon damals, als Kind, wusste ich: Das ist es, was ich machen möchte."
Wenn man wenig Geld hat, kauft man Platten nicht für sich, sondern die ganze Familie. Also brachte Tony als Jugendlicher vor allem Aufnahmen von Enrico Caruso nach Hause. Die Lehrstunden vor dem Plattenspieler blieben nicht ohne Folgen: Tony Bennett würde später die Technik des Belcanto mit der Freiheit des Jazz verschmelzen.
Unter den Kollegen war er damit ein Sonderfall - kein Mikrofonkünstler wie Sinatra, Bing Crosby oder Dean Martin, jene Sänger, die ja nicht zufällig die goldene Ära des Radios prägten. Tony Bennett ist das, was man damals einen Shouter nannte: Seine Stimme trägt ohne Verstärkung. Auch heute noch.
Honigwarm kann er singen, voller Eleganz oder mit gehörig Sand in der Stimme. Glühend, triumphierend, parlando oder doch sanft - man höre nur die herzzerreißende Intimität der Zeilen " In other words, hold my hand ... " in Fly me to the Moon . Dann wieder wirft er trompetenhaft strahlende Töne in den Saal. Bennett singt Balladen alla Pagliacci. Als ginge es um alles. ..(...) ...
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