Projekte mit geflüchteten Menschen sind beliebt, auch im Kulturbereich. Aber was bringen sie denjenigen, um die es eigentlich geht: den Asylsuchenden? Ein Besuch bei zwei Initiativen.
Damals auf dem Mittelmeer, als er das kleine Boot Richtung Lesbos lenkte, als die Hoffnungen der 50 Menschen an Bord allein auf ihm, dem Steuermann, ruhten, damals, sagt Diwali, wusste man nie, woher sie kommen: von links, von rechts, von vorn, von hinten. Man wusste nicht, ob sie einen in den Tod reißen oder ans Ziel spülen würden.
Sieben Monate später hat er den Wellen, die ihn nach Europa trugen, ein Denkmal gesetzt: hat Aluminium in Streifen geschnitten, gebogen, mit Draht verbunden und an der Decke des grauen Ausstellungsraums befestigt. Hier hängen sie neben einem gigantischen, an Hokusai erinnernden Abbild einer Welle und einer Wandzeichnung mit Menschen, die vor dem Lageso warten - und plötzlich von einer Welle erfasst durch die Luft gewirbelt werden.
Die Welle ist das Hauptmotiv der Ausstellung „DaHEIM", die bis Juli 2017 im Museum Europäischer Kulturen zu sehen ist. Über 100 Menschen aus 15 Nationen haben hier ihre Fluchterfahrungen gezeichnet, gemalt, gezimmert. Es sind die Dramen ihrer Heimatländer, ihrer Flucht, ihrer Ankunft. Es ist aber auch: ein Trend.
Das Thema Flucht ist im Kulturbetrieb derzeit allgegenwärtig. Die genaue Zahl der Projekte, die sich damit auseinandersetzen, lässt sich zwar nicht bestimmen. Zu divers sind sie in ihrer Ausrichtung, reicht die Spanne doch von den medienwirksamen Auftritten des Zentrums für politische Schönheit bis zum Zeichenkurs für geflüchtete Kinder. Was sich jedoch sagen lässt: Immer mehr Projekte werden finanziell unterstützt. Der Etat des Projektfonds Kulturelle Bildung des Berliner Senats etwa wurde im Januar um 500.000 Euro auf 2,5 Millionen aufgestockt - um mehr Projekte von und mit Geflüchteten zu fördern. Zwischen 50 und 80 sind es allein in diesem Jahr. Und auch das Kulturstaatsministerium sowie zahlreiche, auch kleinere Stiftungen finanzieren inzwischen vermehrt Projekte dieser Art. Über die Vergabe der Gelder entscheidet in der Regel eine Jury aus Kultur- und Bildungsexperten.
Gestiegenes Interesse, bessere Fördermöglichkeiten - all das ist gut, weil es den Geflüchteten im Idealfall eine Stimme verleiht. Es provoziert aber auch unbequeme Fragen: Ist es wirklich heilsam, wenn Menschen ihre Fluchterfahrungen in Kunst ausdrücken? Und werden sie dabei nicht auf ihre Rolle als Flüchtling festgelegt?
Hinter „DaHEIM" steckt die Initiative Kunstasyl, ein Zusammenschluss von Asylbewerbern und Künstlern, 2015 ins Leben gerufen von der Berliner Künstlerin Barbara Caveng aus der Schweiz.
Fluchterfahrungen in Kunst zu übersetzen, ist für Caveng ein Akt des Loslassens. Dabei entscheide jeder selbst, wie weit er gehe. Einige Künstler ihres Projekts würden viel Persönliches preisgeben und beispielsweise die eigene Fluchtroute nachzeichnen. Andere würden eher zu abstrakten, handwerklichen Arbeiten neigen. Wie Diwali, der Mann mit der Wellenskulptur.
In seiner Heimat Irak, berichtet Diwali, habe er als Metallbauer gearbeitet. Bei Kunstasyl ist er technischer Leiter. Das fülle ihn aus, sagt er, auf lange Sicht aber habe er andere Pläne: zu studieren, in den Naturschutz zu gehen. Dafür lernt er Deutsch. Er würde auch gern arbeiten, doch es fehlen die Papiere. Auch das eine Frage: Ist Kunst für Flüchtlinge die einzige Möglichkeit, sich zu betätigen, weil es sonst nichts für sie gibt?
Fragt man Kunstasyl-Mitglied Dahil Sado, ist die Antwort ein klares Nein. Die Kunst sei sein Kindheitstraum, sagt der Iraker. Doch in einer Familie, in der die Männer Ingenieure werden, in einer Umgebung, in der Kunst nicht viel zählt, weil sie brotlos ist, verfolgte er ihn nicht. Und studierte Ingenieurswissenschaften.
Dann aber kam der 3. August 2014. Der Tag, an dem der IS in Dahils Heimat Sindschar einfiel und 100.000 Menschen in die Flucht trieb, auch ihn.
Für die Ausstellung hat er Bettgestelle aus Flüchtlingsheimen zu einem Haus arrangiert. Er hat das Logo des Projekts entworfen. Und auch die riesige, an Hokusai erinnernde Welle stammt von ihm.
Dahil ist inzwischen Co-Kurator des Projekts. Ob die Arbeit für ihn Therapie sei? Dahil lacht. Wenn er Hilfe bräuchte, würde er zu einem Arzt gehen. Kunst sei für ihn etwas anderes: die Möglichkeit, sich auszudrücken, aktiv zu sein. „Das gibt dir Kraft, da brauchst du keine Therapie mehr."
Und es ist ihm ernst damit: Im Oktober beginnt sein Studium an der Kunsthochschule Weißensee, die eine Klasse für geflüchtete Aufnahmekandidaten eröffnet hat.
Kunst als Möglichkeit, Erfahrungen zu verarbeiten und aktiv zu werden: Der Flüchtlingsrat Berlin hält viel von diesem Ansatz. Bei Projekten, die sich intensiv mit den Traumata der Teilnehmenden auseinandersetzen, sollte zwar immer auch ein Therapeut dabei sein, sagt Vorstandsmitglied Hanns Thomä. Doch bei Arbeiten, die „nicht so tief gehen", sei dies nicht zwingend nötig. Und auch die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer setzt auf Kunsttherapien. Unter anderem, weil sie Menschen die Möglichkeit bieten, neue Kontakte zu knüpfen und sich so schneller „heimisch" zu fühlen, wie Vorsitzende Elise Bittenbinder sagt. Besonders gut sei es, wenn Deutsche und Geflüchtete gemeinsam an den Projekten teilnehmen. Dann sei Kunst ein „wunderbares Medium, um sich auf Augenhöhe zu begegnen".
Darum geht es auch bei dem senatsgeförderten Projekt „You are here" von Markus Strieder und Julia Devies. Der Künstler und die Kunstvermittlerin begleiten eine Gruppe geflüchteter Jugendlicher zwei Wochen lang durch Berlin. Dabei sollen die Jungen und Mädchen ihre Eindrücke in eigenen Worten festhalten, zeichnen oder fotografieren. Die Ergebnisse werden in einem Reiseführer zusammengefasst, gedruckt und in einigen Notunterkünften verteilt - als Orientierung für Neuankömmlinge. Auf dem Ausflugsprogramm stehen Museen und Parks.
An diesem Donnerstag fährt die Gruppe zunächst ins Märkische Museum, wo sie ein Guide durch das Gebäude führt. Die Kinder bestaunen ein riesiges Modell Berlins, lachen über altes DDR-Spielzeug. Vor einem Foto der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Hauptstadt bleiben sie stehen. „Auch in Berlin hat es Krieg gegeben", sagt der Guide. „Aber man kann Städte wieder aufbauen. Das dürft ihr nie vergessen."
Die Jugendlichen zwischen 13 und 17 - sechs Jungs, drei Mädchen - nicken. Zerstörte Gebäude kennen sie aus Syrien und Afghanistan.
„Wir würden diese schwierigen Themen von uns aus nicht ansprechen", sagt Projektleiter Strieder, „haben aber natürlich ein offenes Ohr." Es gehe ihm eher darum, dass die Jugendlichen einmal aus dem Heim herauskommen, „eine gute Zeit haben".
Nächster Stopp: Spreeufer. In einem Supermarkt haben Strieder und seine Kollegin Essen gekauft - Brot, Käse, Tomaten. Jetzt sitzen alle zusammen auf einer Picknickdecke. Als ein afghanischer Junge auf seinem Handy Musik aus der Heimat abspielt, fangen die Jugendlichen an zu tanzen. Auch Strieder steht auf, schwingt die Hüften.
Den Abschluss bildet eine Fahrt auf der Spree. Das Ausflugsboot tuckert vorbei an der Museumsinsel, dem Bundestag, an Schloss Bellevue. „Haltet eure Eindrücke fest", sagt Strieder, jetzt wieder ganz Projektleiter.
Die Jugendlichen beginnen zu zeichnen, andere machen Fotos mit ihren Handys. Ein Junge öffnet sein Notizbuch, schreibt: „Heute sind wir ins Museum gegangen". Es dauert jedoch nicht lange, und die meisten widmen sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung: dem Rollenspiel „Clash of Clans" auf ihren Handys. Gefallen hat ihnen der Ausflug anscheinend dennoch. Kaum zurück in der Notunterkunft fragen sie, wohin es am nächsten Tag geht.
Die Spanne der geförderten Projekte mit Flüchtlingen ist groß. Im Vergleich zum aufwändigen „Kunstasyl" wirkt „You are here" zwar bescheiden, eine nette Willkommensgeste ist es dennoch allemal. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.