Zusammen mit dem Giessener Forum veranstaltete die Bildungsakademie am 21. April in der Sportschule des Landessportbundes die vierte Fachtagung zum Thema des achtsamen Lebensstils am Arbeitsplatz. Die Fachtagung war mit 110 Teilnehmer/-innen komplett ausgebucht.
Die Referenten Prof. Dr. Bernhard Badura, Sabine Fries, Armin Pollmann und Helmut Lind sorgten mit ihren Vorträgen für einen interessierten und lebhaften Austausch. Neben der Theorie kam auch die Praxis nicht zu kurz. Die MBSR-Lehrerin Dr. Cornelia Löhmer vom Giessener Forum leitete das Plenum in achtsamkeitsbasierten Übungen an. Und zuletzt setzte die charmant-witzige Moderation von Justus Ludwig der Fachtagung das i-Tüpfelchen auf. Allzweckwaffe, esoterisches Klimbim oder flüchtiger Modetrend? Der Begriff „Achtsamkeit" hält einen regelrechten Siegeszug in die Medienlandschaft. Fast jede der großen deutschen Tageszeitungen hat bereits ihre Leserschaft über den achtsamen Lebensstil informiert. Aber nicht nur die Nachrichtenagenturen beschäftigen sich mit dem Thema. Nach Einschätzung des Zukunftsforschers Matthias Horx verdrängen Achtsamkeits-Trainer in den Großkonzernen mittlerweile die McKinsey-Berater.
„Unachtsamer" Arbeitsstil ist teuerEiner der renommiertesten Unternehmensdiagnostiker ist der Soziologe und Gesundheitswissenschaftler Prof. em. Bernhard Badura (Bielefeld). In seinem Vortrag hob er die immens hohen Kosten von chronischem Stress, Überforderung und Burnout für die deutsche Wirtschaft hervor. Dabei verblüffte bereits eine seiner zentralen Aussagen zu Beginn seines Vortrags: Nach einer repräsentativen Studie haben deutsche Arbeitnehmer/-innen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern mit einem Durchschnittsalter von 58 Jahren ein deutlich niedrigeres beschwerdefreies Leben zu erwarten (Eurostat 2015, Bezugsjahr 2013). Und das liege Badura zufolge nicht an der unterschiedlichen Wirtschaftskraft, denn Arbeitnehmer/-innen aus anderen Wirtschaftsnationen wie dem Spitzenreiter Schweden führen durchschnittlich bis zum 66. Lebensjahr ein beschwerdefreies Leben. Badura zeigte auf, dass psychische Störungen heute rund zehn Prozent aller Krankheitstage verursachen und bereits seit 2000 die häufigste Ursache für Frühberentungen sind. Dadurch entstehe ein Verlust an Arbeitsproduktivität, der laut Schätzung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sich bereits im Jahr 2007 auf rund acht Milliarden Euro belief. Ursachen für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die sich im Betrieb als Fluktuationen, Fehlzeiten und nachlassende Qualität in den Arbeitsleistungen niederschlagen, seien unter anderem die mangelnde Bindung an das Unternehmen. Diese entsteht, so Badura, beispielsweise dann, wenn die intrinsische Motivation eines Arbeitnehmers über einen längeren Zeitraum blockiert wird und sich nicht entfalten kann. Badura plädierte als Gegenmaßnahme für eine effiziente Unternehmenskultur und zitierte den US-amerikanischen Wirtschaftspionier William Edwards Deming: „Nicht Kontrolle, sondern Förderung der Mitarbeiter und ihrer Kooperation wird zur zentralen Aufgabe der Führungskräfte."
Die Wirkung von AchtsamkeitstrainingsIn einer verschleißträchtigen Arbeitssituation befand sich die Juristin Sabine Fries, als sie in einer Führungsposition eines Wirtschaftsunternehmens 2006 einen Burnout erlitt. Sie beschloss, ihr Leben von Grund auf neu zu gestalten. Seit 2008 ist sie als Trainerin für Achtsamkeit und Stressbewältigung tätig und bietet auch Firmenseminare an. Vor diesem persönlichen Hintergrund gelang Fries eine authentische Analyse eines auf Achtsamkeit basierenden Lebensstils. Ein achtsamer Lebensstil beruht auf zwei Grundgedanken: Zunächst richtet sich Achtsamkeit auf ein bewusstes Leben im Hier und Jetzt. Das hört sich lapidar an, ist aber für die viele Menschen kein Normalzustand. Viele hängen mit ihren Gedanken entweder in der Vergangenheit fest oder beschäftigen sich sorgenvoll mit der Zukunft. Ein achtsamer Mensch richtet seine Gedanken auf den gegenwärtigen Moment, ohne ihn jedoch zu bewerten. Das ist der zweite entscheidende Grundgedanke der Achtsamkeit. Achtsam sein bedeutet, auf eine Bewertung des gegenwärtigen Moments zu verzichten.
Betriebswirtschaft kontra Achtsamkeit?Ist eine achtsamkeitsbasierte Unternehmensführung tatsächlich wirtschaftlich rentabel? Dieser Frage ging Armin Pollmann in seinem Vortrag nach. Pollmann, der in den USA für einen Großkonzern 20 Jahre in einer Führungsposition tätig war, schlug, ähnlich wie Sabine Fries, in seinem Berufsleben eine radikale Kehrtwende ein. Nach einem Burnout richtete er sich auf ein achtsamkeitsbewusstes Leben aus und steht heute als MBSR-Lehrer für ein auf Meditation beruhenden Arbeitsstil ein. Trotz seiner neuen Ausrichtung kann Pollmann sein betriebswirtschaftliches Denken nicht verleugnen und so beleuchtete er aus der Unternehmer-Perspektive das Thema Achtsamkeit als „Business Case im Unternehmen".
Psychosoziale Kosten berücksichtigenUnter „Business Case" versteht man ein Szenario zur betriebswirtschaftlichen Beurteilung einer Investition. Grundlage seiner Ausführungen war die Aufstellung der Kosten, die „Unachtsamkeit" am Arbeitsplatz verursacht. Unachtsamkeit verursache Stress, der die Hauptursache von psychosozialen Kosten sei. Die Kosten machten sich bemerkbar in einer Destabilisierung der psychischen und physischen Gesundheit, in mangelnder emotionaler Mitarbeiterbindung und in Führungsschwächen. Nach einer EU-Studie sind die Kosten von arbeitsbezogenen Depressionen innerhalb von zehn Jahren von 118 Milliarden Euro um mehr als das fünffache auf 618 Milliarden Euro angestiegen. Die Kosten für Unachtsamkeit wirken sich nach Pollmann hinsichtlich des Mitarbeiterengagements dahingehend aus, dass mehr Fehltage entstehen, die Mitarbeiter fluktuieren und die Arbeitsmotivation abnimmt. Insgesamt haben nach der Gallup-Studie von 2015 zufolge lediglich 16 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland eine hohe Bindung an ihr Unternehmen. 68 Prozent verzeichnen eine geringe Bindung und 16 Prozent gaben an, gar keine Bindung an ihr Unternehmen zu verspüren.
Gemeinwohl-ÖkonomieAber gelingt es tatsächlich, Profitmaximierung und „weiche" Werte von Achtsamkeit so zu verbinden, dass eine gesunde Unternehmenskultur mit einer ökonomisch stabilen Rentabilität entsteht? Diese Frage konnte kaum ein passenderer Referent als der Vorstandsvorsitzende der Sparda-Bank München, Helmut Lind, beantworten. Lind, der in der Bankenwelt als Ethik-Reformer gilt, wäre in früheren Jahren fast vor Ehrgeiz krank geworden. Als er endlich mit 40 Jahren Vorstandsmitglied der Bank wurde, erlebte er eine tiefe Leere. Er rutschte in eine Sinnkrise und entdeckte dabei, dass er von einem „Selbstausbeutungsprogramm" gesteuert wurde. Heute setzt sich Lind radikal für eine Kultur der Achtsamkeit in der Bank- und Arbeitswelt ein. Das Herzstück seiner neu organisierten Arbeitswelt heißt „Gemeinwohl-Ökonomie" und meint ein achtsames, solidarisches und demokratisches Verhalten aller Beschäftigten.
Ethisch verantwortlich arbeitenIn seinem Vortrag „Vom ich-zentrierten zum transpersonalen Management" beschrieb Lind in teils sehr persönlichen Worten die Entwicklung der Münchner Sparda-Bank, die ja zu großen Teilen auch sein eigener Weg zu einem ethisch verantwortungsvollem Arbeitsleben ist. Ein Meilenstein auf diesem Weg war seine Entdeckung des achtsamen Verhaltens. Achtsames Verhalten, also bewusst und wertungsfrei den gegenwärtigen Moment wahrzunehmen, sei ein Schlüssel für einen qualitativ besseren Umgang unter den Mitarbeitern. Und eine solche neue Qualität der Zusammenarbeit, so Lind, breitet sich wie ein Domino-Effekt aus: Sie verbessere die Qualität der kollektiven Intelligenz, die Qualität der Wertschätzung für die Andersartigkeit des anderen und für die Qualität der Kundenkontakte. Dabei geht es Lind im Kern um eine Versöhnung von Ökonomie, Geld und Menschlichkeit. Das Giessener Forum und die Bildungsakademie zeigten sich über den Erfolg der Tagung sehr erfreut, an dem nicht zuletzt auch die Mitarbeiter des Hauses in Sachen Technik und Catering beteiligt waren. Am 27. April 2017 ist die nächste Fachtagung „Achtsamkeit am Arbeitsplatz" geplant.