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Drei britische Sozialisten entdecken Berlin

Spielen seit ihrer Jugend als Manic Street Preachers zusammen: Nicky Wire, James Dean Bradfield und Sean Moore (v.l.)

Gehetzt rennt die junge Frau durch Berlin. Ihr Handy läutet. "Oberbaumbrücke in 15 Minuten", sagt eine Männerstimme. "Wer sind Sie?", fragt die Frau. Keine Antwort. Sie muss weiter, die Uhr tickt. An der Oberbaumbrücke wartet eine mysteriöse Gestalt. Sie stellt die junge Frau vor eine Wahl: Liebe oder Hass? Die Frau wählt Liebe und wird weitergeschickt.

Nächster Halt: Elsenbrücke. Dort muss sie wieder eine Entscheidung treffen: Schönheit oder Wahrheit? Schönheit. Weiter zur Möckernbrücke. Vergangenheit oder Zukunft? Die junge Frau läuft und läuft immer weiter. Vorbei am Brandenburger Tor, vorbei am Reichstag. In einem Hangar auf dem Tempelhofer Feld endet die Schnitzeljagd. Dort findet die Frau eine schwarze Kiste mit der Aufschrift "Futurologie".


Das ist die Handlung von "Walk Me To The Bridge", dem aktuellen Musikvideo der Manic Street Preachers. Was in der Kiste ist, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist das Ganze eine Metapher für die Entstehung des neuen, zwölften Albums der Band. Bei den Aufnahmen von "Futurology" standen die drei Waliser wohl vor ähnlichen Grundsatzentscheidungen wie die Frau in ihrem Video. Vor allem die Frage nach Vergangenheit und Zukunft lässt die Manic Street Preachers nie los.


Ernster geht's nicht

Es ist fast 20 Jahre her, dass ihr Gitarrist Richey Edwards von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Sein Auto wurde später an der Severn-Brücke in Wales gefunden. Von ihm fehlt bis heute jede Spur. Edwards war ein selbstzerstörerischer junger Mann, ein androgyner Poet. Was ihm an musikalischem Talent fehlte, machte er mit Charisma wett. Einmal stellte ihm ein Journalist des "New Musical Express" die Frage, wie ernst es den Manic Street Preachers mit ihrer Musik sei. Edwards griff daraufhin zu einer Rasierklinge und schnitt sich vor den Augen des Interviewers "4 real" in den Unterarm. Es war ihm sehr ernst.

In jenen frühen Tagen, in denen die Manic Street Preachers zunächst eine von Guns N' Roses beeinflusste Glam-Rock-Band und später eine Punk-Band waren, spielte Edwards eine wichtige Rolle. Er war das optische Aushängeschild, er gab den ihnen einen Hauch von Unberechenbarkeit. Nach Edwards' Verschwinden war die Zukunft der Manic Street Preachers ungewiss.


Doch James Dean Bradfield, Nicky Wire und Sean Moore machten weiter. Zu dritt veröffentlichten sie poppige Platten, wie "Everything Must Go" und "This Is My Truth Tell Me Yours", die auf dem Höhepunkt des BritPop zu Bestsellern wurden. Es zeigte sich, dass die wahre Schlüsselfigur der Band Bradfield ist, dessen unerschöpflicher Ideenvorrat an großen Melodien der Grund ist, warum es die Manic Street Preachers heute, bald 30 Jahre nach ihrer Gründung, immer noch gibt.


Ohne Gestern kein Morgen


Und doch wirkt es, als müsse die Band noch immer gegen das Erbe von Richey Edwards ankämpfen und sich mit jedem Album neu beweisen. "Old songs leave long shadows", singt James Dean Bradfield in "Walk Me To The Bridge". Die Last der Vergangenheit wiegt schwer. Ein Thema, das sich schon durch die letzte Platte "Rewind The Film" zog. Bradfield verzichtete dabei fast gänzlich auf verzerrte Gitarren, in den Texten ging es ums Älterwerden: "How I hate middle age, in between acceptance and rage", sang Bradfield.


Das war den Musikern dann aber doch zu wenig Rock 'n' Roll. "Irgendwie haben wir begonnen, gegen uns selbst zu rebellieren, als wir die Songs geschrieben haben", erinnert sich Bradfield. Deswegen begannen sie, gleichzeitig an einem weiteren, wilderen Album zu arbeiten: "Futurology", das nun ein Jahr nach "Rewind The Film" erscheint.


Schon die Titel verraten, wie unterschiedlich die beiden Platten sind: Während "Rewind The Film" zurückblickte, will "Futurology" in die Zukunft schauen. "Let's Go To War", skandiert Bradfield in einem der Schlüsselsongs. Es ist ein Marschbefehl des Mittvierzigers an sich selbst, nicht bequem zu werden. Die Manics wollen wieder laut und politisch sein, so wie einst auf ihrem zornigsten Album, dem Großwerk "The Holy Bible" von 1994. Der Weg in die Zukunft soll also erst recht wieder über die Vergangenheit führen.


Nina Hoss singt auch mit


Doch lauter zu spielen bedeutet nicht automatisch, jünger zu klingen. Auf "Rewind The Film" wurde zwar nicht gerockt, mitreißend war die Platte trotzdem. "Futurology" aber wirkt mit seinen Gitarrensolos blutleer und fade. Die Produktion von Alex Silva, der das Album in den Berliner Hansa-Studios mit der Band aufgenommen hat, macht es noch schlimmer. Fast jeder Song wird von Synthesizern erstickt.


Farbtupfer erhält das Album von Gastmusikern: Scritti-Politti-Sänger Green Gartside ist auf "Between the Clock and the Bed", dem besten Stück der Platte, zu hören. "Divine Youth" schmückt die zerbrechliche Stimme der Waliser Sängerin Georgia Ruth, und Cian Ciarán von den Super Furry Animals spielt auf "The Next Jet to Leave Moscow" Keyboard. Und dann ist da noch Nina Hoss. In strengem Theaterdeutsch singt die Stuttgarter Schauspielerin "Europa geht durch mich". Das klingt, als würden die Manic Street Preachers die "Seeräuber Jenny" covern.


Dass die Band in ihrer Spätphase sehr wohl noch im Stande ist, tolle Platten aufzunehmen, hat "Rewind The Film" bewiesen. Alles, was ihr fehlt, ist der Mut zur Ruhe. Und der Wille, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

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