Eine Welt in der Flüsse sprechen und Urgroßeltern ewig leben: So hat Sasa Stanisic seiner Großmutter seine Romane erklärt. Um es vorwegzunehmen - die Großmutter lebt nicht mehr. Sie starb während der Arbeiten am Roman „Herkunft“.
In dem Buch hat der Enkel Wort gehalten und seiner Familie - allen voran der Großmutter - ein Denkmal gesetzt. Doch das Ergebnis ist weit mehr als ein Familienporträt.
In seinem vierten Roman erzählt der 1978 im jugoslawischen Visegrad geborene Autor von der Flucht vor dem Jugoslawien-Krieg, der seine Familie in die Welt verstreute. Er beschreibt das Ankommen in Deutschland - mit einem Mund voller Karies und einer Mischung aus Angst und Erwartung. „Das Einzige, was ich auf Deutsch sagen konnte, war Lothar Matthäus.“ Er erzählt von der Freude bei der Ankunft in Heidelberg, das zur ersten neuen Heimat wurde, „weil wir uns zum ersten Mal nach der Flucht sicher fühlten.“ Hier findet er die erste Liebe und entdeckt die deutsche Romantik: Hölderlin und Eichendorff.
Stanisic, der 2014 für „Vor dem Fest“ den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, sammelt Erinnerungsfragmente und verbindet sie erzählerisch. Und weil Erinnerung nicht chronologisch abläuft, springt er zwischen Orten, Personen, Lebensphasen. Wie er das tut, ist große Erzählkunst. Aus den rührenden, aberwitzigen, eigenartigen, bisweilen märchenhaften Anekdoten von Stanisic und dessen Vorfahren wird so etwas größeres: eine Geschichte über das Geschichtenerzählen selbst.
Denn „Herkunft“ erzählt, wie Erinnerungen zu Geschichten werden - und wie wir uns mit diesen Geschichten selbst erschaffen. In gewisser Weise geht es um den Kern des Daseins: Sein und Vergehen, „Glück und Tod“, wie er selbst schreibt. Auf dem Weg lernt man Stanisics Großtante Zagorka kennen, die mit 15 Jahren mit nichts als ihrer treuen Ziege loszieht, um in der Sowjetunion Kosmonautin zu werden. Oder den entfernten Verwandten Gavrilo, der Stanisics Selbstsuche bei einem Besuch in dem Dorf seiner Großeltern in Bosnien ein wenig abkürzen möchte.
„Von hier. Du bist von hier“, sagt Gavrilo, nachdem er Stanisic hat ausschwadronieren lassen, der erst einmal definieren will, worauf das „woher“ in der Frage „Woher kommst Du?“ überhaupt abzielt: „die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt?“
Man lernt Stanisics Großeltern kennen - besonders jene demente Großmutter, die ihre Erinnerungen verliert, während Stanisic die seinen gerade aufschreibt. Und die sind eng mit einem Verlust verbunden. Als 1991 der Krieg ausbricht, kennt Stanisic das Wort „Genozid“ nur aus der Schule. Dort fiel es, wenn es um das Konzentrationslager Jasenovac in Kroatien ging. Jahrzehnte später ging es plötzlich um das Kosovo, um aktuelle Ereignisse, erinnert er sich. „Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach. Fahnen, jeder eine eigene, im Wind, und in den Köpfen die Frage: Was bist du?“
Stanisic braucht keine Zahlen, die das Leid beziffern, keine Schilderung von Gräuel. Wie der Krieg in das Private eindringt, Familien auseinanderreißt, Gesellschaften zerstört, zeigt der Autor zum Beispiel mit einer Auflistung scheinbar banaler Dinge: „Hier ist eine Liste von Dingen, die ich hatte.“
Zu den Dingen, die er hatte, gehörten Bücher. 1991 entdeckt er ein neues Genre, bei dem der Leser über den Fortgang der Geschichte entscheiden darf. „Rufst Du: „Aus dem Weg, Höllengezücht, sonst schneid ich Dir die Adern durch!“ - lies weiter auf Seite 312.“ Es ist der maximale Gegensatz zum eigenen Leben, das angesichts der Ereignisse im zerfallenden Jugoslawien dem eigenen Einfluss entgleitet. Auch in „Herkunft“ darf der Leser am Ende mitentscheiden.
Und dann ist da die Erinnerung an den letzten Tanz der Eltern vor dem Krieg - oder daran, wie Roter Stern Belgrad 1991 den FC Bayern bezwang und später den Europapokal der Landesmeister im Fußball gewann: mit einer Mannschaft, in der quasi allen Gruppen des Vielvölkerstaats vertreten waren. „Der Jubel aus achtzigtausend Kehlen war ohrenbetäubend, war unheimlich. Heute könnte ich behaupten, darin hätten sich Wut entladen, Völkerhass, Existenzängste. Das stimmt aber nicht. All das würde sich später aus Waffen entladen. Das hier war nur eines: Jubel über ein wichtiges Tor.“
1992 kommt die Familie in Deutschland an. Ein Zahnarzt, den Stanisic „Dr. Heimat“ nennt, befreit den damals 15-Jährigen von Karies und lädt ihn mit seinem Großvater Muhamed zum Angeln am Neckar ein, als Stanisic von dessen Traurigkeit in Deutschland erzählt. „(E)in Zahnarzt aus Schlesien, ein alter Bremser aus Jugoslawien und ein fünfzehnjähriger Schüler ohne Karies, und wie wir alle drei ein paar Stunden lang vor nichts auf der Welt Angst hatten“, schreibt er.
Die Geschichten, die „Herkunft“ erzählt, sind rührend, fesselnd - und voller Einsichten. Dass das, was wir Identität, Heimat oder Herkunft nennen, mehr ist als eine Ortsangabe - ein Konstrukt und vor allem zutiefst persönlich - ist nur eine davon. Doch liefert Stanisic mit ihr einen wichtigen Debattenbeitrag, wenn nicht das Buch der Stunde: Es ist eine Botschaft von Relevanz in einer Zeit, in der die Themen Identität und Heimat wieder auf Wahlplakaten verhandelt werden.
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