Ein Schnappschuss deiner Alpträume
Die Galerie Blain|Southern in Berlin ist allein wegen ihrer Räumlichkeiten ein Ort, den ich immer wieder gerne aufsuche. Die riesige weiße Halle im Erdgeschoss fordert geradezu heraus, interessante Ausstellungen zu kuratieren und Kunstwerke in ihrer Wirkung optimal zur Geltung zu bringen - so im letzten Jahr zum Beispiel die beeindruckende Ausstellung „Uncertain Journey“ von Chiharu Shiota. Zum Gallery Weekend eröffnet erneut eine Ausstellung, die ihr Publikum finden wird: Zeitlaich von Jonas Burgert (29.04. - 29.07.2017). Zu sehen ist Burgerts gigantisches Gemälde „Zeitlaich“ (600 x 2200 cm), das fast die eine komplette Wand in der Galerie einnimmt.
In der Ausstellung hängen zwar insgesamt 18 Werke, doch beim Betreten des Raumes, habe ich - wie vermutlich die meisten Besucher - zunächst nur Augen für „Zeitlaich“. Nicht allein die Größe des Werkes ist beeindruckend - auf mich wirken auch die grell bunten Farben, die verteilt über fast das ganze Bild sind - wie eine kleine Farbexplosion. Das Bild erzählt eine verwirrende Geschichte, die sich auf die Mitte hin zu fokussieren scheint. Hier steht eine männliche Figur mit blauen Bändern in ihren großen lilafarbenen Händen und einem schicken Anzug. Sie richtet ihren eindringlichen Blick direkt auf mich, was irritiert und unbehaglich stimmt. Von der Figur aus nimmt das Durcheinander seinen Lauf. Ich versuche das Bild von links oben zu lesen, sehe zwei Männer auf Stühlen in einem düsteren Raum sitzend, vielleicht in einem Schloss, vielleicht auf einer Bühne. Dunkle Farben überwiegen bis auf ein leuchtend gelbes Tier, das einem Hieronymus Bosch Gemälde entsprungen scheint und in der grauen Wand verschwindet. Darunter entfaltet sich ein buntes Chaos und bleibt undefinierbar. Aus diesem Knäul bannen sich wiederum dämonartige Wesen ihren Weg nach draußen und bilden den Hintergrund für ein - aus dem Wirrwarr - auftauchendes Boot, voll bis auf den letzten Platz - ein Bild, das unwillkürlich an die Flüchtlingskrise erinnert.
Ich gehe langsam weiter nach rechts und merke, dass sich die links noch erkennbaren Szenen mit hohem Tempo verdichten und sich einer möglichen, in sich geschlossenen Erzählstruktur endgültig verweigern. Ein wildes Zusammenlaufen von Tierkörpern - Zebras, aber auch kleine Drachen. Überall Wesen – nicht von dieser Welt - mit hässlichen Fratzen, durchtrennte Insekten, menschenähnliche Erscheinungen, klavierspielende Figuren, Frauen mit einer Glühbirne als Kopf. Sozusagen eine bildgewaltige Endzeitstimmung. Verstärkt wird das Gefühl durch den Blick auf die rechte Seite des Bildes - hier zeichnet sich der angrenzende Raum ab - grau und geschlossen, eine Art Atrium. Düstere, karge Bäume weisen den Weg zurück zur Bildmitte.
Spannend ist für mich, wie Burgert seine Farbgebung aus bunt leuchtenden und dunklen Farben kontrastreich variiert und genau dadurch die finstere Stimmung ins Unermessliche treibt. Die Figuren sind gruselig, das Chaos mit ungeheurer Sogkraft - ich stehe meinen Alpträumen gegenüber.
Die anderen Werke wie „Dachte Sie“, „zierig“ oder „ein Mut“ des Künstlers zeugen alle von der gleichen bunten Finsternis. Die dämonartigen Wesen erinnern mich jetzt mehr an die Monster aus der Film- und Videospielreihe Silent Hill. Sie werden portraitiert wie Menschen - mal ein Bruststück, mal eine stehende Ganzfigur - und fühlen sich an, als hätte man gerade ein Schnappschuss von einem Bekannten gemacht, der dir beim Abendessen gegenübersaß. Nur, dass die Portraitierten eben gruselige Dämonen sind.
Mit Sicherheit ist das Werk Burgerts das größte des Gallery Weekend 2017. Es ist außerdem eines, dem ich besonders viel Zeit widmen wollte - zu anregend war der Versuch, eigene Geschichten zu konstruieren, Erzählstränge zu entwickeln, wieder zu verwerfen und den Spuren Burgerts im Bild nachzuspüren.
Jonas Burgert (*1969 Berlin) studierte an der Universität der Künste in Berlin und war Meisterschüler bei Dieter Hacke. Passend zu seiner Vorliebe für rustikale Räumlichkeiten in seinen Gemälden, baute er mit weiteren Künstlern verlassene Fabriken in Ateliers um. Hier organisierten die Künstler das viel beachtete und inoffiziell benannte Berliner Wochenende mit über 100 Künstlern zum Gallery Weekend 2015.
Öffnungszeiten:
Dienstags bis samstags: 11.00 bis 18.00 Uhr
Blain|Southern
Potsdamer Straße 77-87
10785 Berlin
blainsouthern.com