Oda Tischewski

Journalistin (Hörfunk, Print, Online), Berlin

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Nachruf Elliott Carter: 103 Jahre gelebte Musikgeschichte

DIE ZEIT ONLINE | 6. November 2012


Seine Freude am Komponieren wich keiner altersmilden Ruhe . Vielmehr wuchs und sprudelte sie noch aus ihm heraus, als ihm das Hören und das Sprechen schon schwer fielen. Elliott Carter schien ein ungewöhnliches Arrangement mit dem Alter gehabt zu haben: Mehr als die Hälfte seiner Werke - rhythmisch komplexe und noch immer sehr moderne Orchester- und Kammermusik, Soloinstrumental- und Vokalstücke - entstand erst nach seinem 90. Geburtstag, seine erste Oper schrieb er mit 89 Jahren.

"In meinem Kopf gibt es so viele fertige Werke, Klavierkonzerte, Sinfonien, Streichquartette, dass ich gar nicht dazu komme, sie alle aufzuschreiben", sagte er einmal im Interview. Zum Komponieren benutzte er kein Instrument, oft hörte er seine Stücke bei der Uraufführung zum ersten Mal.

Elliott Carter, einer der größten amerikanischen Komponisten des - so muss man tatsächlich sagen - 20. und 21. Jahrhunderts, wurde am 11. Dezember 1908 als Kind einer wohlhabenden Familie in New York geboren, jener Stadt, in der er fast sein ganzes Leben verbringen sollte. Der Musik seiner Zeit begegnete er ganz direkt: Noch als Schüler traf er den Komponisten Charles Ives, der sein Talent förderte. Stundenlang saß er auf dem Dach seines Elternhauses am Radio - der Hörfunk war gerade erst populär geworden.

Der Wunsch, Komponist zu werden, wuchs, als der 15-jährige Elliott in der Carnegie Hall die New Yorker Premiere von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps mit dem Boston Symphony Orchestra miterlebte. "Ich begann mit der Musik sozusagen vom falschen Ende her, denn ich lernte zunächst moderne Musik kennen, und es sollte Jahre dauern, bis ich auch Beethoven erträglich fand. Heute sehe ich das natürlich anders, aber ich würde noch immer sagen, dass mich ein sehr gutes modernes Stück mehr interessiert, als irgendein altes Werk", sagte er im Kollegengespräch mit dem Komponisten Frank J. Oteri.

In Harvard studierte Carter zunächst Englische Literatur, Griechisch, Philosophie und nebenbei Musik, unter anderem bei Gustav Holst; er spielte Klavier und Oboe und sang im Harvard Glee Club, dem Universitätschor. "Eigentlich sollte Musik mein Hauptfach sein, doch als ich zum ersten Mal einen Kurs in Harmonielehre besuchte, stellte ich fest, dass ich rein gar nichts darüber wusste", erzählte er Oteri.

Nur Noten, die etwas bedeuten

Im Jahr 1932 schloss er die Universität ab, ging nach Paris und nahm Unterricht bei Nadia Boulanger an der French Music School for Americans. Der exklusive Kreis, der sich eingehend mit dem französischen Neoklassizismus und dem Werk Strawinskys beschäftigte, prägte Carters erste kompositorische Arbeiten. "Bei Boulanger lernte ich den Glauben an die Noten", sagte er später der ZEIT , " man schrieb keine Noten, die nichts bedeuten". 1935 kehrte er als Doktor der Musik in die Vereinigten Staaten zurück.

Der neoklassizistische Duktus seiner frühen Kompositionen stimmte ihn bald unzufrieden. Während der Kriegsjahre hatte er für die amerikanische Propagandabehörde gearbeitet, dann an verschiedenen Hochschulen gelehrt, unter anderem in Yale. Er hatte die Bildhauerin Helen Frost-Jones geheiratet, war Vater eines Sohns geworden und hatte sich im Greenwich Village eine Wohnung gekauft, in der er bis zu seinem Tod leben sollte. Doch Ende der 1940er Jahre wurde es Zeit für eine tiefgreifende künstlerische Veränderung. Sein erstes Streichquartett aus dem Jahr 1950 entstand in der Wüste Arizonas, es markiert einen Wendepunkt in seinem Schaffen, das sich von nun an einem radikaleren, atonaleren, vielschichtigeren Stil zuwandte.


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