Oda Tischewski

Journalistin (Hörfunk, Print, Online), Berlin

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Artikel

Nachruf Henri Dutilleux: Fünfzehn Jahre für eine Nocturne

DIE ZEIT ONLINE | 23. Mai 2013


Als ihm 2005 der Ernst-von-Siemens-Preis, der "Nobelpreis für Musik", verliehen werden sollte, da konnte sich das deutsche Feuilleton gar nicht genug wundern über das Auftauchen eines fast 90-jährigen Komponisten, dessen Werk man in all den Jahren beinahe überhört hatte: Henri Dutilleux, der stille Tüftler, der ein Leben lang an einer eigenen Tonsprache feilte. Ins Rampenlicht drängte es ihn nie. Während Freunde und Kollegen wie Pierre Boulez oder Olivier Messiaen hymnisch gefeiert wurden, setzten sich seine Stücke auf eine beharrliche, unaufgeregte Art durch. Dutilleux stand auf den Konzertprogrammen, weniger in der Zeitung.

Henri Dutilleux, geboren 1916 im nordfranzösischen Angers, entschied sich früh für die Musik: Bereits als Gymnasiast nahm er Unterricht in Harmonielehre, Klavier und Kontrapunkt am Konservatorium in Douai und setzte seine Studien später in Paris fort, wo er Kompositionsschüler von Henri Büsser wurde. 1938, im Jahr seines Abschlusses, gewann er den Prix de Rome, der mit einem mehrjährigen Aufenthalt in der italienischen Hauptstadt verbunden sein sollte - schon wenige Monate später jedoch kehrte er nach Paris zurück: Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen. Ein Jahr lang diente er bei den Sanitätern, ab 1940 hielt er sich als Pianist, Musiklehrer und Leiter des Pariser Opernchores über Wasser.

Das Jahr 1945 war nicht nur für Europa, nicht nur für Frankreich ein Jahr der Befreiung und des Neuanfangs. Nach dem Kriegsende begann auch Henri Dutilleux sein künstlerisches Leben neu. Die Stelle als Leiter der Abteilung Musikproduktion beim französischen Rundfunk, die er 20 Jahre lang innehaben sollte, sicherte ihm nicht nur eine unabhängige Existenz, sondern auch einen regen Austausch mit den Komponisten seiner Zeit. Noch war sein eigener Stil stark beeinflusst von den Autoritäten der französischen Musikgeschichte, Ravel etwa, Debussy, Roussel oder Fauré. Neue Strömungen berührten ihn wohl, rissen ihn aber nicht mit: Arnold Schönbergs Zwölftonmusik, die Zweite Wiener Schule, die groupe des six mit Francis Poulenc und Darius Milhaud, der Serialismus eines Pierre Boulez, Luigi Nono oder Karlheinz Stockhausen - mit all diesen Schulen hatte Dutilleux engen Kontakt, ließ Einflüsse zu, schloss sich jedoch keiner von ihnen an. "Die meisten meiner Freunde sind Künstler", sagte er mehr als ein halbes Jahrhundert später in einem Interview mit dem Guardian. Nicht immer aber war die künstlerische Auseinandersetzung mit der Avantgarde friedlich, so bezeichnete er die serielle Musik einmal als "ästhetischen Terrorismus, der die Kreativität erstickt".

Dennoch veränderte sie den Blick auf das eigene Schaffen: Seine frühen Kompositionen genügten seinem Urteil nicht länger, sie erschienen ihm zu wenig eigenständig, zu offensichtlich beeinflusst von französischen Traditionen. Schließlich verwarf er sein Frühwerk bis 1945, vernichtete viele Partituren. Offiziell gilt nun die 1947 verfasste dreisätzige Klaviersonate als sein erstes Werk; sie wurde ein Jahr später von der Pianistin Geneviève Joy uraufgeführt, die er kurz nach Kriegsende geheiratet hatte.

Nicht nur durch diesen radikalen Schnitt ist Dutilleuxs Œuvre schmal geblieben: Nur etwa 20 Kompositionen umfasst sein Werkverzeichnis, unter anderem die Symphonie Le Double, den späten Durchbruch aus dem Jahr 1959. Jedes einzelne dieser Stücke jedoch, sagte sein Kollege Olivier Messiaen, sei ein "Meisterwerk".

Immer wieder hatte Dutilleux bereits Bestehendes neu bearbeitet, ergänzt, verdichtet und sich damit der Essenz seiner musikalischen Sprache genähert. "Es ist kein Scherz, Musik zu schreiben. Tiefe ist dazu nötig: Eine Art Mystik", beschrieb er seinen Arbeitsprozess einmal selbst. Der entwickelte dabei eine eigene Zeitrechnung: An der Nocturne "Sur le même accord" für Anne-Sophie Mutter schrieb Dutilleux 15 Jahre - das Stück dauert neun Minuten. "Ich zweifle ständig an meiner Arbeit. Deswegen überarbeite ich sie so oft. Gleichzeitig bedauere ich, nicht produktiver zu sein", erklärte er dem Guardian.


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