Das Gedenken an gefallene Soldaten der Sowjetunion wird in Deutschland zunehmend für Putin-Werbung missbraucht.
Von Norma Schneider und James Reed.
Frankfurt - Hunderte Menschen singen und tanzen ausgelassen, schwenken russische und sowjetische Flaggen - mitten in Frankfurt und mitten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Demonstration Anfang Mai sollte laut Ankündigung an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten erinnern. Doch Videos von der Veranstaltung, die später auf Twitter zu sehen sind, zeigen nicht nur unzählige Flaggen der Russischen Föderation, sondern auch Schilder, die „Freundschaft mit Russland" und ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern.
Für Ukrainer:innen in Frankfurt ist es nicht nachvollziehbar, dass solche Demonstrationen erlaubt sind. Bereits kurz nach Beginn des Angriffskrieges gab es mehrere prorussische Demonstrationen in Frankfurt und anderen deutschen Städten, oft begleitet von Gegenveranstaltungen. Vor dem russischen Konsulat in Frankfurt findet seit Februar 2022 eine Dauerkundgebung ukrainischer Aktivist:innen statt. Angesprochen auf die prorussische Demonstration zum „Tag des Sieges" sagt eine der Teilnehmer:innen, die Geflüchtete Bogdana, der Frankfurter Rundschau: „Diese Leute wollen die Sowjetunion zurück."
„Unsterbliches Regiment": Die Sowjetnostalgie ist unübersehbarTatsächlich ist die Sowjetnostalgie bei der Demonstration im Mai unübersehbar: Die Einladungen, die in den sozialen Netzwerken geteilt werden, sind so gestaltet, dass sie wie vergilbtes Papier aussehen, dazu Schwarz-Weiß-Fotos von Soldaten. „Jeder kann an dem Gedenkmarsch teilnehmen und ein Porträt seines Helden mitbringen, der am Kampf gegen den Faschismus teilgenommen hat", heißt es im Aufruf der Gruppe „Unsterbliches Regiment Frankfurt am Main". Bei der Veranstaltung selbst werden stolz sowjetische Symbole gezeigt und sowjetische Lieder gesungen.
Der Begriff „Unsterbliches Regiment" soll ausdrücken, dass die Soldaten der Roten Armee in der Erinnerung weiterleben. Weltweit finden jedes Jahr Gedenkveranstaltungen unter diesem Motto statt. Als zivilgesellschaftliche Initiative entstanden, hat sich das „Unsterbliche Regiment" in den letzten Jahren mehr und mehr der offiziellen Erinnerungskultur des russischen Staates angepasst.
Und der geht es vor allem darum, eine Geschichte von Heldenmut, Opferbereitschaft, militärischer Überlegenheit und Stärke zu erzählen. Der „Tag des Sieges" ist in der Propaganda des Putin-Regimes untrennbar verbunden mit Großmachtdenken. Bei den jährlichen Militärparaden in Moskau ist aus dem „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" die aggressive Parole „1941-1945 - Wir können es wiederholen" geworden, wie auf Transparenten zu lesen war.
Die Organisatorin der Frankfurter Kundgebung gibt sich unpolitischIn der russischen Propaganda wird der Angriff auf die Ukraine als Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg dargestellt. So werden unter dem Deckmantel von Gedenken und Erinnerung Kriegsverbrechen gerechtfertigt. In Frankfurt marschierte das „Unsterbliche Regiment" auch im Mai 2022, nur wenige Wochen, nachdem die Gräueltaten von Butscha bekannt wurden.
Lilly T. (Name ist der Redaktion bekannt), die Organisatorin der Demonstration, posiert lächelnd mit Mann und Tochter für ein Foto. Alle drei tragen Schleifen in den Farben der russischen Flagge an ihrer Kleidung, der Ehemann reckt kämpferisch die Faust. T. kommt aus Nowosibirsk und lebt in Langen.
Der „Freidenker"-Vorsitzende war auch schon im DonbassFür die Frankfurter Demonstrationen zum „Tag des Sieges" ist sie seit mindestens 2017 verantwortlich. Auf Nachfrage der FR gibt Lilly T. an, die Veranstaltungen als Privatperson zu organisieren. Weiter kommentieren möchte sie ihr Engagement nicht. In den sozialen Netzwerken gibt sie sich unpolitisch, statt Demoaufrufen und Parolen postet sie Fitnessvideos und Bilder von selbst gebackenen veganen Torten. Dass die Demonstrationen des „Unsterblichen Regiments" aber durchaus eine politische Botschaft haben und den Kurs der Regierung Putin unterstützen, wurde bereits in den vergangenen Jahren deutlich. 2020 musste die Veranstaltung aufgrund der Corona-Pandemie online abgehalten werden, die Redebeiträge sind in einem Video auf Youtube dokumentiert.
Dort kommt auch Willi Schulze-Barantin zu Wort, Vorsitzer des „Freidenker-Verbands" in Hessen, auf dessen Website Beiträge von Russia Today geteilt und die Corona-Maßnahmen mit den „totalitären Methoden aus der Vergangenheit" verglichen werden. 2016 reiste Schulze-Barantin in die von Russland besetzten Gebiete im Donbass. In seiner Rede für das „Unsterbliche Regiment" schimpft er auf die Nato und die USA und fordert: „Frieden mit Russland, statt weiter in den Dritten Weltkrieg."
Fotostrecke ansehen „Unsterbliches Regiment": Vorschulkinder tragen im Video gereimte Heldenverehrung vorIm Video der Veranstaltung werden auch Aufnahmen von Vorschulkindern aus dem Donbass gezeigt. Sie tragen Militäruniformen und sagen Kriegsgedichte auf. Ein etwa fünfjähriges Mädchen, das ein Halstuch in den Farben der „Volksrepublik Donezk" trägt, spricht davon, dass die glorreichen Helden, die die Heimat verteidigten, „Russlands früheren Ruhm erneuern" werden, Russland solle wieder „erblühen". Aus der zustimmenden Haltung der Organisator:innen und Teilnehmer:innen des „Unsterblichen Regiments" zu Russlands Aggression gegen die Ukraine wurde also in der Vergangenheit kein Geheimnis gemacht. Trotzdem hat bis zum Beginn des Angriffskrieges auch der antifaschistische Verband VVN-BdA, der sich in der Erinnerungsarbeit verdient gemacht hat, an den Veranstaltungen teilgenommen. Auf Anfrage der FR gibt der Verband nun an, „aus Respekt, in Erinnerung und im Gedenken an die über 25 Millionen Toten, die die Sowjetunion im 2. Weltkrieg aufgrund des Überfalls der faschistischen Wehrmacht und der SS-Verbände zu beklagen hatte" teilgenommen zu haben.
In diesem und im vergangenen Jahr gab es keine Beteiligung des VVN-BdA am Frankfurter „Unsterblichen Regiment" mehr. „Wir verurteilen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Von daher werden wir alles vermeiden, was auch nur den geringsten Eindruck erwecken könnte, wir würden uns mit der Politik der Russischen Föderation gemein machen", so Norbert Birkwald von der Frankfurter Kreisvereinigung.
Manche, die früher teilnahmen, distanzieren sich heuteBereits vor Beginn des Angriffskrieges hat ein deutscher Sänger namens Wolfgang (Nachname ist der Redaktion bekannt) sich vom „Unsterblichen Regiment" abgewandt. 2020 beteiligte er sich noch mit mehreren Musikvideos an der Veranstaltung, teilweise ist er mit einer Mütze mit der Aufschrift „Russia" zu sehen. „Das war ein Fehler, ich hätte nicht mitmachen sollen", sagt Wolfgang heute. Ihm sei mit der Zeit klar geworden, dass viele in der Gruppe sich nicht nur an die Vergangenheit erinnern, sondern sie wieder zum Leben erwecken wollten, einschließlich Stalins Sowjetunion. Für ihn steht die Sowjetunion für „das Gegenteil von Freiheit", erklärt er. Er sei zwar ein Freund der russischen Kultur, aber Putin und den Krieg gegen die Ukraine heiße er nicht gut.
Wie offen die Bewegung des „Unsterblichen Regiments" nicht nur einer Verherrlichung der Sowjetunion, sondern auch rechtsradikalen Positionen gegenüber ist, zeigen russischsprachige Telegram-Kanäle.
Die Aufrufe zu den Veranstaltungen zum Tag des Sieges in Frankfurt und anderen deutschen Städten wurden unter anderem im Kanal „Golos Germanii" („Deutschlands Stimme") geteilt. Dort finden sich ein Konglomerat aus prorussischer Propaganda, „Querdenker"- und AfD-affiner Inhalte, Videos von Sahra Wagenknecht und Aufrufen zu Demonstrationen „gegen die Grünen ". Auf der Website des „Unsterblichen Regiments Frankfurt" wird bereits per Countdown dem nächsten „Tag des Sieges" entgegengefiebert.