Sie sind alle drei in ihren Sechzigern. Alle gehören sie zu den ganz Grossen ihres Fachs, haben zu einer neuen, unverwechselbaren Tanzsprache gefunden, und alle drei haben sie den Tanz unserer Zeit revolutioniert - jeder auf seine Weise: Das Zürcher Ballett eröffnet die Saison mit William Forsythes "In the Middle, Somewhat Elevated", "Gods and Dogs" von Jirí Kylián und "Minus 16" von Ohad Naharin.
Den Anfang macht Forsythe, der analytische Ästhet. Seine 1987 im Auftrag von Rudolf Nurejew für die Pariser Oper entwickelte Choreografie bläst das Publikum bis heute von den Sitzen. Es ist ein ungemein akrobatisches, rasend schnelles und technisch höchst anspruchsvolles Stück, in dem die fünf Tänzerinnen und vier Tänzer bis zur Erschöpfung über die Bühne wirbeln. Sie wechseln pausenlos zwischen scheinbarer Entspannung und höchster Konzentration. Ihre Bewegungen explodieren förmlich aus dem Nichts in immer wieder neue Figuren und Linien, die den schwarzen Raum durchziehen wie die Fäden einer unsichtbaren Stickerei.
Vom Zuschauen erschöpftDie Tänzer, allen voran die Solisten Manuel Renard und Viktorina Kapitonova, meistern den schwierigen Abend mit Bravour und wirken so unbeschwert, als fielen ihnen die Sprünge, Pirouetten und hochfliegenden Beine so leicht wie das Binden ihrer Schnürsenkel oder Kaugummikauen. Doch für das Publikum gibt es so unglaublich viel gleichzeitig, neben-, mit- und durcheinander zu sehen, dass man im Parkett am Ende von den vielen Eindrücken fast ebenso erschöpft ist wie die Hochleistungstänzer auf der Bühne.
Der Titel des Stücks ist übrigens eine Reminiszenz an die Reste des für die Uraufführung geplanten, aber aus Zeitgründen nie verwirklichten Bühnenbildes, das aus goldenen Objekten aller Art und Grösse hätte bestehen sollen. Geblieben sind zwei einsame Kirschen, die jetzt verloren in der Mitte ein bisschen erhöht über der Szenerie hängen.
Nach der ersten Pause folgt "Gods and Dogs" von Jirí Kylián, jenes Stück, das dem ganzen Ballettabend seinen Namen gibt. Es entstand 2008 als 100. Choreografie des damaligen Leiters des Nederlands Dans Theater, der mit seiner Compagnie (oder genauer: mit seinen Compagnien NDT I, NDT II und NDT III) Tanzgeschichte schrieb. Auch Kylián erneuerte den Tanz von Grund auf, doch seine Bewegungssprache ist emotionaler und, ohne erklären zu wollen, auch narrativer, lyrischer und häufig humorvoller als die seiner Zeitgenossen. In "Gods and Dogs" bilden das Göttliche und das Animalische das Spannungsfeld, in dem sich Kylián auf die Suche nach den Grenzen der Wahrnehmung begibt.
Was ist normal? Wo liegt die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn? Wann beginnt eine Krankheit, wo endet die Gesundheit? Hinter einer mahnend leuchtenden Totenkerze und vor der Projektion eines rennenden Wolfshundes oder vor einem Vorhang aus quecksilbrig schillernden Schnüren entfalten sich Bilder von atemberaubender Schönheit. Die vier Tanzpaare vermitteln Kyliáns getanzte Metaphern mit einer Empathie, die auch hier wieder alle technischen Schwierigkeiten vergessen lässt. Man folgt ihnen willig in eine Welt, in der Liebe, Schmerz, Verwirrung und verzückendes Glück in immer wieder neuen Bewegungen verständlich werden.
Zum Schluss folgt mit "Minus 16" der ästhetisch und akustisch jüngste Teil des Abends. Der israelische Choreograf Ohad Naharin ist zwar auch schon 63 Jahre alt, aber im Vergleich zu Forsythe (65) und Kylián (68) wirkt er wie ein wildes Kind aus der Esoterikecke des Punk. Er mischt lauten Elektrobeat mit religiösen Volksliedern und schummrigem Bossa Nova, als gälte es, für jeden im Publikum ein paar Takte Lieblingsmusik ins Spiel zu werfen.
Hinter Naharins Verspieltheit steckt allerdings ein eisernes Programm: Er sucht nach dem Ursprung der Bewegung im Innersten der Körper. So sagt er, es sei entscheidend, zuerst auf den Körper zu hören, bevor man ihm sage, was er tun solle. Das ist geradezu die Umkehrung der Lehre von William Forsythe, der von den Tänzerinnen und Tänzern verlangt, dass sie mit ihren Körpern ein Gefühl für den sie umgebenden Raum entwickeln.
Häppchenweise Provokation"Minus 16" ist kein in sich geschlossenes Stück, sondern ein Potpourri aus Szenen der erfolgreichsten Ballette von Naharins "Batsheva Dance Company". Ein Best of, mit den dazugehörigen Vor- und Nachteilen. Die choreografischen Glanzstücke leuchten wie Perlen an der Schnur, aber da ist nichts Verbindendes, ausser die häppchenweise servierte Provokation, dass sich da einer um Traditionen nicht schert, seien sie gesellschaftlicher, künstlerischer, politischer oder religiöser Art. Das wirkt manchmal etwas beliebig, zumal die Opernhaustechnik die Lautstärke nicht immer im Griff hat. So übertönt die auch das Ensemble, wenn es in der wohl berühmtesten Szene des Abends den Abzählreim "Echad mi yodea" aus sich herausschreit.
Angesichts der wechselnden Stimmungen, Szenen und Stile vermisst man den Tiefgang der ersten beiden Stücke - und tut Naharin damit Unrecht. Vielleicht ist das Opernhaus-Ensemble den traditionelleren Arbeitsformen von Forsythe und Kylián besser gewachsen als der individualisierteren Trainingstechnik von Ohad Naharin. Das schmälert aber keinesfalls die Faszination, diese gänzlich unterschiedlichen, für den zeitgenössischen Tanz prägenden Stile an einem Abend zusammen zu sehen. Und es schmälert auch nicht die Bewunderung für die grosse Leistung der Truppe, sich diese grundsätzlich verschiedenen Körpersprachen anzueignen und für das Publikum erfahrbar zu machen.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 01.10.2015, 17:05 Uhr)