Ein Märchen, aber was für eins: Passend zum Totenmonat November bringt das "Die Brüder Löwenherz" auf die Bühne, einen Kinderbuchklassiker von Astrid Lindgren, in dem der Tod und die Angst die heimlichen Hauptrollen spielen. Heimlich, weil sie zwar nicht sichtbar werden, aber immer präsent sind in den zwei Stunden der Aufführung. Das klingt sehr lang und sehr düster für Kinder, und manche Eltern mögen zögern, dem Nachwuchs einen solchen Brocken zuzumuten.
Tatsächlich wird es kleineren Kindern nicht schaden, Lindgrens Roman schon einmal vorgelesen bekommen zu haben. Nicht nur, weil die Geschichte zu Beginn tatsächlich sehr traurig ist, sondern weil man sich am Schauspielhaus getraut hat, die kleinen Zuschauer genauso ernst zu nehmen wie Astrid Lindgren, deren Roman Ende der Siebzigerjahre heftige Diskussionen auslöste, ob und wie man mit Kindern über das Sterben und den Tod sprechen könne.
Heute hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass man über grosse Themen auch mit den Kleinsten nicht nur sprechen darf, sondern muss. Trotzdem ist man am Schauspielhaus vorsichtig und empfiehlt den Vorstellungsbesuch erst ab acht Jahren, zumal die Eindrücke über Bild, Darstellung und Ton Jüngere überfordern können. Ausserdem sollten die kleinen Theaterbesucher sowohl Hochdeutsch als auch Dialekt verstehen, weil die Aufführung beides mischt.
Auf "Pferden" ins AbenteuerMit einfachsten Mitteln und klaren Bildern entführt uns Regisseur Ingo Berk in die Welt von Karl und Jonathan Löwe (Steffen Link und Julian Boine), einem todkranken Kind und seinem nur wenig älteren Bruder, der bei einem Brand ums Leben kommt. Es genügt etwas Rauch im Bühnenhintergrund, um das tragische Geschehen zu vermitteln, und selbst die Jüngsten im Publikum schauen und horchen, ohne zu weinen.
Die Klarheit bleibt auch im Fantasieland Nangijala, Lindgrens märchenhafter Adaption des Totenreichs, in dem sich Karl und Jonathan wiedersehen, denn Karl stirbt schon bald an seiner Krankheit. Bühnenbildner Damian Hitz zaubert mit ein paar schwarzen Blöcken und Kegeln ganz Wald- und Berglandschaften in die Köpfe des Publikums. Hinreissend in ihrer Einfachheit sind auch die Stabpuppen von Mervyn Millar, die aus einzelnen Schilden zusammengesetzt und von sichtbaren Puppenspielern bewegt werden. Einen ersten Szenenapplaus erhalten denn auch die "Pferde" mit ihren lustig schnaubenden und tänzelnden Spielern, auf denen Jonathan und Karl ins Abenteuer reiten.
Denn natürlich geht es hier vor allem darum, wie man Angst und Tod bewältigen kann, wenn man ehrlich ist und sich aufeinander verlassen kann. Astrid Lindgren hat das in eine Abenteuergeschichte verpackt, in der neben den Buben auch sprechende Tauben, mutige Helden, feige Verräter, dumme Soldaten, ein Drachenweibchen und ein Tyrann ihren Platz finden.
Zu all dem hat Patrik Zeller eine Musik gefunden, die sich unüberhörbar an der Fernsehserie "Game of Thrones" orientiert. Auch die Szene, in der erstmals der böse Herrscher Tengil auftritt, erinnert an einschlägig bekannte Filme wie "Lord of the Rings". Eine Reminiszenz an die medial überfütterte Jugend der Gegenwart? Unnötig und an der Grenze des Aushaltbaren für die Jüngsten: Jonas Rüegg, der wie fast alle Ensemblemitglieder mehrere Rollen übernimmt, spielt den Diener des Tyrannen virtuos als monströse Schreckensgestalt, ein Wesen wie Lord Voldemort aus der Harry-Potter-Reihe. Da und nur da wird die Inszenierung zu explizit und darum "gfürchig".
Gespannte RuheImmerhin ist die Szene nur kurz, und bald herrscht auch bei den Vorkindergärtlern (die entgegen der Empfehlung eben doch im Pfauen-Saal sassen) wieder die gleiche gespannte Ruhe wie bei den erfreulich vielen Elf- und Zwölfjährigen im Publikum. Und dem Jungen Schauspielhaus gelingt so einmal mehr der Beweis, dass gutes Kinder- und Jugendtheater mühelos alle Altersklassen erreicht.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 09.11.2014, 19:19 Uhr)