Wo früher Grenzpatrouillen und Wachhunde das Bild bestimmten, verläuft heute das längste Biotop Deutschlands.
Sie staksen über das Stoppelfeld und suchen nach Fröschen. Ihre Rücken schimmern metallen im fahlen Licht der Dämmerung. Der Wind weht leise. Es müssen rund 200 Kraniche sein, die dort - rund einen Kilometer entfernt - über den Acker schreiten.
Ute Machel lässt das Fernglas auf die Brust sinken und lächelt. Die Naturschützerin arbeitet für den BUND und bietet Führungen für Besucher des Grünen Bandes an. Sie weiß genau, wo sie seltene Tiere vor die Linse bekommt.
Das Grüne Band Deutschland ist ein Naturschutzprojekt mehrerer deutscher Bundesländer. An der ehemaligen innerdeutschen Grenze ist mit 1400 Kilometern die längste länderübergreifende Biotop-Achse Deutschlands entstanden. Wo früher für Menschen der Tod lauerte, leben heute Kraniche, Braunkehlchen, Fledermäuse, Fischotter und Luchse.
Im Norden Sachsen-Anhalts zwischen der Altmark und dem Wendland reihen sich Feuchtwälder, Bäche und Salzwiesen aneinander. Das Cheiner Torfmoor bietet den Kranichen Lebensraum. Die Sumpflandschaft liegt direkt am Grünen Band - rund sieben Kilometer nordöstlich der Hansestadt Salzwedel. Der größte Vogel ist der Kranich.
Ute Machel reicht den Feldstecher weiter. Ein Blick durch die Gläser, und ein einzelner Kranich hüpft optisch auf Armlänge an den Betrachter heran. Seine Augen sind gelb. Der Blick ist wachsam. Auf dem Kopf trägt er eine rote Haube. Wehrhaft sieht er aus, dieser Vogel. Die dunklen Schulterfedern fallen lässig über die helleren Schwanzfedern hinab. Gelegentlich taucht sein Kopf ab, um mit dem Schnabel auf dem Boden nach Essbarem wie Schnecken, Würmern und Kröten zu suchen. Im Gegensatz zum Graureiher, dem er auf den ersten Blick ähnelt, verharrt der Kranich nicht in Lauerstellung, bevor er auf seine Beute herabstößt, sondern stöbert entspannt vor sich hin.
Ein trompetenartiger Vogelruf hallt über die weite Fläche. Zwei der Tiere fliegen los.
Ute Machel nimmt rasch das Fernglas wieder an sich, wirft einen Blick hindurch, dreht sich um und stapft zügig zu ihrem Jeep. Es eilt. In einer halben Stunde wird ein Großteil der Zugvögel aufsteigen und zum Schlafplatz fliegen. Die Naturschützerin will vorher schon da sein. Sie weiß genau, wo die Tiere landen. Die Kraniche stimmen durch Rufe den gemeinsamen Abflug ab. Der Motor des Jeeps springt mit einem dunklen Grollen an. Los geht's über den sumpfigen Boden. Bald wird die Sonne untergehen im Cheiner Torfmoor.
Früher verlief nördlich des Moors die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland. Als Deutschland geteilt wurde, mussten die Eigentümer ihre bis dahin landwirtschaftlich genutzten Flächen an der Grenze aufgeben. Die Grenztruppen der DDR schlugen breite Schneisen in den Kiefernforst und hielten den Todesstreifen offen, um gute Sicht zu haben - falls jemand floh. Niemand sollte unbeobachtet in die Zone eindringen können. Für Tiere und Pflanzen ein großer Vorteil: Entlang des einstigen Eisernen Vorhangs bekam die Natur eine 40 Jahre währende Ruhepause - nicht nur in Deutschland. Das Grüne Band erstreckt sich 12 500 Kilometer quer durch Europa. Vom Eismeer an der norwegisch-russischen Grenze über die Ostseeküste durch Zentraleuropa und den Balkan bis an das Schwarze Meer.
Der Jeep hält ruckelnd. Ute Machel springt aus dem Wagen, schultert den Rucksack und biegt in einen Trampelpfad ein. Er führt zum Schlafplatz der Kraniche. "Ist gut, dass niemand weiß, wo die Tiere schlafen", sagt sie.
Öffentlichkeitsarbeit und Naturschutz gehören eigentlich zusammen. Doch manchmal kommen sie sich in die Quere. "Die Menschen müssen Natur schmecken, riechen, fühlen - das ist klar." Zu viele Besucher könnten die Kraniche jedoch vertreiben. Deswegen bleibt der Schlafplatz ein Geheimnis.
Machel verlässt den Trampelpfad. Rechts ragt ein Beobachtungsstand aus dem wild wuchernden Gebüsch empor. Dahinter verbirgt sich ein fußballfeldgroßer See. Die Naturschützerin klettert die Sprossen hoch. Eine Sichtluke gibt den Blick auf eine Wasserstelle frei. Es ist der Schlafplatz der Kraniche. Noch sind keine Tiere da. Machel baut mit ruhigen Handgriffen ihr Stativ auf und erklärt, warum die Vögel gern mit nassen Füßen schlafen. "Das Wasser schützt sie vor nächtlichen Angreifern wie Füchsen", sagt Machel. Sie schraubt das Beobachtungsfernrohr auf das Stativ und schaut hindurch. Schilf ragt in den Bildausschnitt. Nicht gut. Sie muss es höher einstellen. Plötzlich - ein durchdringender Schrei. Machel schaut auf. Am Horizont schwebt ein schwarzes V heran.
Die Kraniche sind im Anflug. Sie gelten als Sonnenvögel in der ägyptischen Mythologie. Doch nun verdunkelt sich der Himmel. Neun Vögel gleiten dicht über Bäume hinweg, die den Teich säumen. Die Köpfe nach vorne gereckt, die Beine lang ausgestreckt. Dunkel heben sie sich vor dem rosafarbenen Himmel ab. Von unten erkennt man die schwarzen Schwingen.
Im Jahr 2003 gründeten Naturschützer die Initiative Grünes Band Europa und führten damit unterschiedliche regionale Umweltinitiativen zu einer gemeinsamen europäischen zusammen. Heute verbindet das Grüne Band 24 Staaten. 40 Nationalparke liegen direkt am Grünen Band, und mehr als 3200 Schutzgebiete finden sich in einem 50 Kilometer breiten Korridor entlang dieser besonderen Naturschutzzone.
Die Kraniche am Himmel verlieren an Höhe. Das Beobachtungstürmchen liegt direkt an ihrer Einflugschneise. Die Vögel kreisen tiefer, bis das Ufer nur noch Armlängen entfernt ist. Dann strecken sie die Beine nach unten aus, lehnen den Rumpf zurück und setzen hüpfend auf.
Ute Machel schaut abwechselnd durch Fernglas und Profi-Fernrohr. Sie wirkt aufgeregt und drückt dem Besucher mal das eine, mal das andere Gerät in die Hand. Eine Stunde lang beobachtet sie die Kraniche auf dem See. Wie sie ihr Gefieder putzen, nach Futter suchen, umherspazieren. Langweilig wird ihr dabei nicht. Als es dunkel wird und sie ihre Sachen einpacken muss, wirkt Uta Machel enttäuscht. Ginge es nach ihr, könnte sie hier stundenlang weiter stehen und schauen.
Die Kraniche brüten im Nordosten Europas und Asiens. Der Verlust von Lebensräumen hat dazu geführt, dass sich das Areal immer mehr verkleinert hat. Die Vögel finden zu wenige stehende Gewässer. Am Cheiner Torfmoor sieht es jedoch immer noch gut aus für sie.
Aus Sicht Ute Machels ist das Besondere am Grünen Band nicht nur, dass es seltenen Tieren Lebensräume bietet, sondern vor allem, dass es diese Gebiete miteinander verbindet. "Es ist ein Wanderkorridor", sagt die Naturschützerin auf der Rückfahrt. Allein in Deutschland führt er durch neun Bundesländer. Wollte man diese Schutzzone künstlich anlegen - man wäre zum Scheitern verurteilt. "Aber hier lag es vor unserer Nase", sagt Machel - als Relikt des Kalten Krieges. Seit 1989 gebe es doch tatsächlich Menschen, die diese Landschaft sich selbst überlassen wollten. Und das in Zeiten, in denen Straßen und Äcker Lebensräume zerschnitten. Vollkommen unverständlich, sagt Machel.
Anfang der 90er-Jahre zerstörten die Menschen das Grüne Band beinahe. Mit dem Einigungsvertrag 1990 gingen fast alle Grundstücke im Grenzstreifen an den Bund über. Deren frühere Besitzer konnten diese gemäß dem Mauergrundstücksgesetz vom 15. Juli 1996 zu einem Viertel des damaligen Verkehrswertes zurückkaufen. Erst 2003 stoppte die Bundesrepublik den Verkauf der Grundstücke. Nun ist der Naturschutzbund Bund mit dem Rückerwerb der damals verkauften Flächen beschäftigt.
Jugendliche witzeln über das Froschbordell
Das läuft nicht immer konfliktfrei. Sina Schröder weiß das am besten. Die 30-jährige Naturschützerin koordiniert das Projekt Lückenschluss, dessen Ziel es ist, die bestehenden Unterbrechungen am Grünen Band zu schließen. Sie versucht die Flächen zurückzukaufen, setzt sich mit Landwirten in Verbindung und verhandelt mit ihnen. Manchmal tauschen der Bund und die Grundstücksbesitzer Flächen, manchmal können die Landwirte überzeugt werden, ihre Gebiete schonender zu bewirtschaften und auf die Brutzeiten der Tiere Rücksicht zu nehmen.
Sina Schröder sitzt am Steuer ihres Kastenwagens, der wesentlich schlechter gefedert ist als der Jeep von Ute Machel, und fährt den Kolonnenweg der ehemaligen Grenze entlang. Auf diesem Weg fuhren die Polizisten und Soldaten entlang, um sich gegenseitig abzulösen oder Verstärkung anzufordern.
Es ist drei Uhr nachmittags. Zarte Sonnenstrahlen brechen durch die dünne Wolkendecke. Schröder erklärt, was sie auf den bisher zurückgekauften Flächen gemacht haben. Dazu steigt sie aus, geht ein paar Meter weg vom Fahrzeug und steht vor einem künstlich angelegten Tümpel. Erst gestern hat sie hier mit einer Gruppe Jugendlicher von Eurocamp, einer internationalen Jugendbewegung, eine große Mulde gegraben, Plastikplanen verlegt und den kleinen Teich angelegt. Künftig sollen sich Kröten darin paaren. Es sind kleine Änderungen, die die Landschaft für Tiere und Pflanzen attraktiv machen. Das stößt nicht immer auf Verständnis.
Ein Jugendlicher von Eurocamp hat erst gestern ungerührt gefragt, ob das im Sinne der Lehrer sei, dass sie hier Froschbordelle bauten. Sina Schröder lacht. Sie muss sich oft so Fragen anhören. Erst letzte Woche wollte wieder mal jemand von ihr wissen, warum sie als Naturschützerin vom Bund eigentlich diese kleinen nachwachsenden Kiefern herausreiße. Sie wedelt mit den Armen. "Hier - überall Kiefern", sagt sie. Überlasse man das Grüne Band sich selbst, würde hier auf natürliche Weise nur wieder Wald nachwachsen. Aber Tümpel und trockene Sandflächen gebe es dann nicht. Das seien aber genau die Lebensräume, die viele der gefährdeten Arten bräuchten.
Der eine oder andere wichtige Vertreter von Politik und Verwaltung hat das wohl eingesehen, denn das Gebiet in der Nähe von Salzwedel rund um Arendsee wurde kürzlich zur Modellregion erklärt. Minen, Selbstschussanlagen, Wachhunde und Grenztürme gehören heute der Vergangenheit an. Der Todesstreifen, er ist heute voller Leben.
Autor: Nadine Zeller
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